Kitabı oku: «Habt Mut!», sayfa 2

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2.
SCHAU BEI DEN ARMEN NICHT WEG
„Unser“ Papst aus dem Süden

Der Befreiungstheologe Jon Sobrino aus El Salvador wurde am 10. März 2013, kurz vor der Papstwahl, in der ORFFernsehsendung „Orientierung“ gefragt, was er von einem Papst aus dem Süden halten würde. Sobrino meinte, das sei für ihn nicht wichtig. „Für mich ist wichtig, dass der Papst, die ganze Kirche, alle zusammen etwas riskieren. Es muss ein Papst sein, der etwas riskiert, der die Armen dieser Welt verteidigt. Zu wenig Mittel zum Leben, mangelnde medizinische Versorgung, kaum Bildung. Das ist die tiefere Wahrheit der Welt, der sich die Kirche zuwenden muss. Vielleicht machen sie in diesem Konklave einen Schritt hin zu einer menschlicheren Welt.“

Der Papst sollte gebildet sein, sagte Sobrino, und er sollte verstehen, dass wir alle in einer einzigen Welt leben – ein geradezu prophetisches Wort, wenn wir an Franziskus denken. Kein anderer Papst vor ihm hat so sichtbar diese eine Welt dargestellt wie Jorge Mario Bergoglio, der Papst, wie er selbst sagte, „fast vom Ende der Welt“. Als Franziskus am Abend des 13. März 2013 auf die Mittelloggia des Petersdoms trat, ist die andere Welt, die südliche, die arme Halbkugel, in der Mitte der Kirche angekommen.

Am Anfang sind die Leute bei uns in Brasilien – ich möchte fast sagen – erschrocken. Niemand hätte sich je träumen lassen, dass „einer von uns“ Papst werden könnte. Der Papst war immer weit weg. Und auf einmal ist das einer von uns. Sogar Pastoren von evangelischen Freikirchen haben mir gratuliert. Sie sagten, „jetzt haben wir einen Papst“. Also wir Lateinamerikaner. Die katholische Kirche hört mit Franziskus auf, in ihren Entscheidungsinstanzen eine fast ausschließlich europäische Kirche zu sein. In der Wahl des Papstes aus Argentinien zeigt sich, dass sich die Kirche irgendwie von Europa abgenabelt hat.

Es gibt eine wunderbare Erzählung aus dem Leben des heiligen Franz von Assisi. Im Jahre 1205 kniete er in dem verfallenen Kirchlein San Damiano vor dem heute weltberühmten byzantinischen Kreuz. Plötzlich hörte er eine Stimme: „Franz, stelle mein verfallenes Haus wieder her.“ Als Kardinalprotodiakon Jean-Louis Tauran den Namen bekannt gab, den Jorge Mario Bergoglio als Papst angenommen hat, kamen mir unwillkürlich diese Worte in den Sinn. Wir hoffen, dass Papst Franziskus die Erwartungen, die wir mit diesem Namen verbinden, auch verwirklichen kann. Dazu braucht er den Mut und die tiefe Gottverbundenheit des Franz von Assisi.

Ich möchte Papst Franziskus nicht für die Befreiungstheologie vereinnahmen, aber eines ist sicher: Er ist ein Mann, der in Argentinien auf der Seite der Armen stand und sich für die Mittellosen und an den Rand Gedrängten eingesetzt hat. Deshalb wurde er auch „Kardinal der Armen“ genannt. Daher knüpft Franziskus bei Aussagen über die Armut immer wieder bei der lateinamerikanischen Erfahrung an und bei einer Kirche, die nicht müde wird, ihre „Option für die Armen“ karitativ und gesellschaftspolitisch zu leben.

Der Papst ist beseelt vom Grundanliegen der Befreiungstheologie, sich den konkreten Herausforderungen unserer Welt zu stellen und ungerechte Strukturen anzuprangern, so wie es die Dritte Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe 1979 in Puebla ausgedrückt hat. Das Schlussdokument zitiert Papst Johannes Paul II., der die ungerechten Strukturen benennt, die „Reiche immer reicher werden“ lassen „auf Kosten der Armen, die immer ärmer werden“ (DP 30).

Die Fünfte Generalversammlung 2007 in Aparecida geht noch weiter. Als Erzbischof von Buenos Aires hat Papst Franziskus das Schlussdokument dieser Versammlung wesentlich mitbestimmt. Dort begegnet uns ausdrücklich der Gedanke, dass Menschen von der gesellschaftlichen Entwicklung ausgeschlossen werden, dass sie an den Rand gedrängt werden, weil sie die Geschäfte stören. Wörtlich heißt es in Nr. 65: „Eine Globalisierung ohne Solidarität wirkt sich negativ auf die ärmsten Schichten aus. Dabei geht es nicht allein um Unterdrückung und Ausbeutung, sondern um etwas Neues, um den gesellschaftlichen Ausschluss. Durch ihn wird die Zugehörigkeit zur Gesellschaft, in der man lebt, untergraben, denn man lebt nicht nur unten oder am Rande bzw. ohne Einfluss, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht nur ‚Ausgebeutete‘, sondern ‚Überflüssige‘ und ‚menschlicher Abfall‘.“ Es geht nicht mehr nur darum, dass die Reichen auf Kosten der Armen immer reicher werden, sondern dass die Armen wie Müll weggeworfen werden.

Schon aus seinen Predigten als Erzbischof in Argentinien wussten wir, dass Jorge Mario Bergoglio wohl auch als Papst seine Stimme für die Armen erheben und den Mut haben werde, die Ursachen der Armut anzuprangern. Ob er etwas „bewirken“ wird, steht auf einem anderen Blatt. Aufgabe eines Propheten ist es, für eine gerechte und geschwisterliche Welt einzutreten und nicht müde zu werden, alle von Menschen geschaffenen ungerechten Strukturen zu verurteilen, die für Gewalt, Tod und Ausgrenzung verantwortlich sind.

Ich habe in den Jahren seit der Wahl von Papst Franziskus erlebt, wie stark der Großteil unserer Bischöfe in Brasilien hinter diesem Papst steht. Ich denke, das gilt für ganz Lateinamerika. Ein Zeichen dafür war schon, dass unser Kardinal Dom Claudio Hummes – emeritierter Erzbischof von Sao Paulo und heute Vorsitzender der Bischöflichen Kommission für Amazonien, deren Sekretär ich bin – beim ersten Segen „Urbi et Orbi“ unmittelbar nach der Wahl dicht neben dem neuen Papst auf der Loggia des Petersdoms zu sehen war. Ich kann mir gut vorstellen, dass die brasilianischen Konklave-Mitglieder schon beim ersten Wahlgang für Jorge Mario Bergoglio gestimmt haben.

Menschen auf der Flucht

Bereits seine erste Reise als Kirchenoberhaupt zeigte, wie ernst es dem Papst aus Lateinamerika mit der Option für die Armen ist. Den offiziellen Stellen im Vatikan scheint es geradezu peinlich gewesen zu sein, dass sein erster Weg auf die europäische Flüchtlingsinsel Lampedusa führte. Es sei nur „ein kurzer Besuch in der größtmöglichen Diskretion“ geplant, hieß es. Tatsächlich wurde der Papst am 8. Juli 2013 von den Bootsflüchtlingen, die den lebensgefährlichen Ritt über das Mittelmeer geschafft hatten, enthusiastisch empfangen.

„Flüchtlinge, im Meer umgekommen.“ Schlagzeilen dieser Art, so sagte der Papst bei seiner Predigt, hätten wie ein Stachel in seinem Herzen gewirkt. „Und ich wusste, dass ich hierher kommen muss, um zu beten, um ein Zeichen der Nähe zu setzen, aber auch um unsere Gewissen zu wecken, sodass sich das, was passiert ist, nicht wiederholt. Nie wieder!“

„Kain, wo ist dein Bruder?“ (vgl. Gen 4,9). Diese Frage Gottes stellte Franziskus in den Mittelpunkt seiner Predigt. Und er schloss eine weitere Frage an, in der bereits ein Grundton seiner ersten Amtsjahre anklang, seine Kritik an der Globalisierung der Gleichgültigkeit. Wörtlich sagte der Papst: „Wer hat über das alles und über Dinge wie diese geweint, über den Tod von unseren Brüdern und Schwestern? Wer hat über die Menschen geweint, die in den Booten waren? Über die jungen Mütter, die ihre Kinder trugen? Über die Männer, die etwas zum Unterhalt ihrer Familien suchten? Wir leben in einer Gesellschaft, die die Erfahrung des Weinens vergessen hat, des Mit-Leidens: die Globalisierung der Gleichgültigkeit!“

Franziskus sprach von einem „Bußgottesdienst“, den er mit den Flüchtlingen auf der Insel, dem ersten europäischen Boden auf der lebensgefährlichen Überfahrt von Afrika, feierte. „Wir bitten um Verzeihung für die Gleichgültigkeit so vielen Brüdern und Schwestern gegenüber, wir bitten um Verzeihung für die, die es sich bequem gemacht haben, die sich im eigenen Wohl eingeschlossen haben und das Herz betäubt haben, wir bitten dich, Vater, um Verzeihung für diejenigen, die mit ihren Entscheidungen auf höchster Ebene Situationen wie dieses Drama hier geschaffen haben.“

Die Menschen lieben hat für Papst Franziskus ganz klar zwei Dimensionen: Erstens zu denen hingehen und bei denen sein, die unterdrückt, verfolgt, verarmt sind. Am Meeresufer in Lampedusa hat er mit den Flüchtlingen auf einem improvisierten, aus Wrackteilen ihrer Boote aufgebauten Altar die Eucharistie gefeiert. Und an seinem ersten Gründonnerstag als Papst ist er in eine römische Jugendstrafanstalt gegangen und hat dort zwölf jugendlichen Strafgefangenen die Füße gewaschen. Das ist die eine, die karitative Dimension.

Die andere Dimension dieser Liebe zu den Menschen ist die politische. Bei seiner Ansprache am 25. November 2014 vor dem Europäischen Parlament in Straßburg hat der Papst den Abgeordneten nichts von seiner Lampedusa-Erfahrung erspart. Lange bevor die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts der humanitären Katastrophe der Flüchtlingsbewegung aus dem Mittleren Osten, vor allem aus Syrien, die Schleusen geöffnet hat, hatte Franziskus den europäischen Parlamentariern schwer ins Gewissen geredet.

Der Papst verschließt nicht die Augen vor den Schwierigkeiten, die mit der großen Zahl an Flüchtlingen verbunden sind, die 2015 nach Europa geströmt sind. Er lässt aber auch keinen Zweifel daran, dass dies eine humanitäre Aufgabe ist, die es zu bewältigen gilt. Sehr deutlich kamen diese beiden Pole in seiner Rede vor dem US-Kongress am 24. September 2015 zum Ausdruck: „Unsere Welt steht vor einer Flüchtlingskrise, die ein seit dem Zweiten Weltkrieg unerreichtes Ausmaß angenommen hat. Das stellt uns vor große Herausforderungen und schwere Entscheidungen.“ Europa und die USA dürften nicht über die Anzahl der Flüchtlinge „aus der Fassung geraten“, sondern müssten sie „als Personen sehen, ihnen ins Gesicht schauen, ihre Geschichten anhören“ und versuchen, menschlich, gerecht und geschwisterlich auf ihre Situation zu reagieren. Es gelte, eine heute allgemein verbreitete Versuchung zu vermeiden: dass wir alles ausschließen, was stört.

Diese Globalisierung ohne Solidarität haben wir im Sommer und Herbst 2015 durch die Flüchtlinge erlebt, die aus dem Mittleren Osten nach Europa gewandert sind. In ihrer Heimat waren sie den Kriegsschergen aller Couleurs ausgeliefert – den Fassbomben von Präsident Assad ebenso wie dem Terror des „Islamischen Staates“. Die Welt hat jede Solidarität mit diesen Menschen vermissen lassen. Nicht einmal die Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon oder in der Türkei wurden international so unterstützt, dass dort ein einigermaßen menschenwürdiges Leben möglich gewesen wäre.

Daher haben diese Menschen keine andere Möglichkeit mehr gesehen, als ihr nacktes Leben nach Europa zu retten. Es ist eine Schande für die Europäische Union, dass sie dort teilweise mit Stacheldraht empfangen wurden. Ich selbst habe 1945 in Vorarlberg – wenn auch in einem winzig kleinen Umfeld – erlebt, was es heißt, nicht über die Grenzen zu dürfen. Meine Mutter wollte mit uns drei Kindern in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1945 von Koblach nach Montlingen, dem nächsten Dorf gleich über dem Rhein in der Schweiz. In unserer Nachbargemeinde Götzis brannten 23 Häuser. Die Frauen mit Kindern, die noch in unserem Dorf waren, hatten furchtbare Angst und wollten nichts anderes als mit ihren Kindern über die Rheinbrücke. Ungefähr in der Mitte der alten, damals überdachten Brücke, war die Staatsgrenze. Und die war verriegelt. Da gab es auch Stacheldraht!

Das Empfinden, nicht dorthin zu dürfen, wo wir Rettung erhofften, hat sich bei mir als Kind ganz tief eingeprägt. Erst bei einem zweiten nächtlichen Anlauf wurden wir dann in die Schweiz hinübergelassen. Wir waren eine Nacht und einen halben Tag in der Volksschule dieser Ostschweizer Gemeinde untergebracht, deren Einwohner die Koblacher größtenteils sehr gut kannten. Koblacherinnen hatten ja Männer von jenseits der Staatsgrenze geheiratet. Liebe kennt keine Staatsgrenzen!

Die Franzosen waren inzwischen in Vorarlberg einmarschiert und es drohte für uns keine unmittelbare Gefahr mehr. Also gingen wir über die Rheinbrücke wieder zurück nach Koblach. Dennoch war die Überraschung groß, als wir nach Hause kamen. Unser Haus war besetzt. Die Mutter war schwanger. Ihr und uns drei Kindern wurde ein Zimmer im Obergeschoss zugewiesen. Die Franzosen, vorwiegend Marokkaner, haben uns aber gut behandelt.

Als ich im Fernsehen den Stacheldraht in Ungarn sah, erinnerte ich mich urplötzlich an diese Erfahrung aus meiner Kindheit. Am 8. Mai, also einige Tage nach unserer Flucht in die Schweiz, kapitulierte Nazideutschland und die Koblacher – fast nur Frauen und Kinder – fanden sich in der Kirche zu einem feierlichen Dankgottesdienst ein. Pfarrer Bildstein stimmte mit seinem unvergleichlich schönen Tenor das Te Deum an und alle sangen aus voller Kehle und mit dankbarem Herzen das „Großer Gott, wir loben dich“.

Ich erinnere mich an diese Ereignisse mit einer verblüffenden Deutlichkeit. Der Krieg war zu Ende. Gott sei Dank! Wir warteten nun auf die Heimkehr unseres Vaters, der in Italien in englischer Gefangenschaft war. Für meine Mutter und die Koblacherinnen galt es nun, endlich die Felder zu bestellen, damit es nicht an unseren Grundnahrungsmitteln Riebel und Erdäpfel mangelte. Ich war damals noch nicht ganz sechs Jahre alt und wurde dann im Herbst eingeschult.

Ich will mich nicht abhängig machen

Wer die Freundlichkeit vor Augen hat und das Lächeln, das manchmal auch ein wenig verschmitzt um die Lippen des Papstes huscht, der sieht, dass Franziskus seine persönlich gelebte Bescheidenheit – oder nennen wir es ruhig Armut – nicht als Selbstkasteiung versteht. Ich selbst habe es in dieser Hinsicht immer mit der heiligen Teresa von Avila gehalten. Sie hat gesagt: „Wenn Fasten, dann Fasten. Wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn.“

Auch ein Vers aus dem Philipperbrief gehört zu dieser Haltung: „Ich habe gelernt, mich in jeder Lage zurechtzufinden: Ich weiß Entbehrungen zu ertragen, ich kann im Überfluss leben. In jedes und alles bin ich eingeweiht: in Sattsein und Hungern, Überfluss und Entbehrung. Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt, kann alles in dem, der mich gestärkt hat“ (Phil 4,11–13). Ob ich in Not und Elend bin oder ob ich Überfluss habe – ich kann mit beidem leben.

Armut heißt nicht, dass jemand darben muss. Im Gegenteil. Gegen diese Armut müssen wir ankämpfen. Darben ist keine Tugend. Jesus hat gesagt, „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10). Für mich hat Armut immer geheißen, das Notwendige zu haben – und nicht abhängig zu sein von Dingen, die nicht lebensnotwendig sind. Ich erinnere mich an eine wohlhabende Frau in Altamira, die mir zu meinem Geburtstag eine Freude machen wollte. Sie hat mir eine große, sehr golden und protzig wirkende Uhr geschenkt. Ich musste sie leider enttäuschen. Ein solches Statussymbol am Arm wäre mir tatsächlich absolut zuwider gewesen. Bei einer Eucharistiefeier hätte die Aufmerksamkeit der Leute nicht Kelch und Hostie gegolten, sondern dem kostspieligen Chronometer an meinem linken Handgelenk. Die Frau hat das auch eingesehen und war gottlob nicht beleidigt. Sie hat mir dann eine bescheidenere Uhr geschenkt, die ich gern getragen habe.

Nicht abhängig sein heißt für mich auch, dass ich zwar meine alltäglichen Lebensgewohnheiten und -gepflogenheiten habe, aber auch ohne sie zurechtkomme. Wenn ich einmal kein Mittagessen habe, dann gibt es ein Abendessen, und wenn einmal kein Abendessen da ist, dann gibt es eben am nächsten Tag wieder etwas.

Selbstverständlich ist es angenehmer, in einem Auto mit guten Stoßdämpfern zu fahren. Es ist auch gesünder für den Rücken. Wer die Straßenzustände in Amazonien kennt – die weltberühmte Transamazônica nicht ausgeschlossen –, der weiß, wovon ich rede. Aber wenn ich einmal in einem weniger guten Auto mitfahren muss, dann ist das so und ich beklage mich nicht. Ich möchte mich von diesen Dingen nicht so beeinflussen lassen, dass ich nicht mehr frei bin.

Das ist auch das Wunderbare an Franz von Assisi: Er hat sich völlig freigespielt von seiner Herkunft und von seinem Stand. Und er ist damit eines geworden: zufrieden. Wenn man über alles schimpft und sich ständig beklagt, dass dieses besser und jenes anders sein könnte, dann wird man zum Sklaven der eigenen Wünsche und Illusionen. Zufrieden sein macht dankbar, und dankbar sein macht frei. Es kostet mich nichts, dass ich danke sage – „Schön hast du das gemacht!“ –, wenn mir jemand etwas Gutes getan hat. Dankbarkeit weitet den Blick dafür, dass nicht alles selbstverständlich ist, was mir in meinem Leben zugekommen ist und was andere für mich getan haben und tun.

Als ich im August 2015 in Gmunden ankam, wo ich zu einem Vortrag bei den Wiener Vorlesungen eingeladen war, ist ein Bub – er muss etwa 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein – auf mich zugekommen und hat gefragt: Darf ich Ihnen helfen? Ich bedankte mich, denn ich hatte nur wenig Gepäck. Ich glaube kaum, dass der Bub mich als „Bischof“ erkannt und mir deshalb seine Hilfe angeboten hat. Er wollte einfach einem „Opa“ helfen. Der Jugendliche hat diese Begegnung mit mir am Bahnsteig von Gmunden sicher längst vergessen. Aber für mich war es ein Erlebnis: ein wunderbares, herzliches Zeichen der Hilfsbereitschaft eines jungen Menschen. Selbst ohne seine Hilfe zu benötigen, war ich ihm von Herzen dankbar.

Dankbarkeit bedeutet, dass die zwischenmenschliche Beziehung mit einer Person herzlich ist. Dankbarkeit ist nicht berechnend, wen oder was ich vielleicht einmal brauchen könnte. Es gibt Leute, die sich schwer mitteilen können und dann einfach sagen: Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, aber ich bin dir einfach unendlich dankbar. In Brasilien drückt sich diese Dankbarkeit meist mit überschwänglichen Gesten der Verbundenheit und der Zuneigung aus. Da wird umarmt, geküsst, auf die Schultern geklopft.

Ich bin dankbar für die – trotz aller Armut – frohe Lebensart der Menschen am Xingu und für ihre Zuneigung, die ich bis heute erfahre. Je älter ich werde, desto tiefer geht das. Wenn ich am Samstag oder Sonntag zum Gottesdienst in die Kirche komme, gehe ich durch die Reihen und begrüße jede und jeden persönlich. Dann stehe ich am Portal, um die weiteren Gottesdienstbesucher zu begrüßen. Das dauert manchmal einige Zeit, aber die Leute erwarten das und schenken mir ihr schönstes Lächeln. Sie halten mir die Kinder entgegen, damit ich ihnen ein Kreuzzeichen auf die Stirn zeichne.

Als ich im Juni 1983 bei einer Solidaritätsaktion auf der Transamazônica von der Militärpolizei niedergeschlagen wurde, riefen die Leute: „Lasst ihn los, er ist unser Bischof!“ Sie hätten auch rufen können: „Lasst ihn, er ist ein Bischof!“ Aber nein, sie schrien: Er ist „unser“ Bischof. Sie hatten mich längst als einen der ihren angenommen. Das stand damals in dem Zusammenhang, dass ich ihre Rechte verteidigt und mich solidarisch mit ihnen erklärt hatte. Aber mit den Jahrzehnten ist diese Verbundenheit immer herzlicher geworden.

Eine ganz außergewöhnliche Reaktion löste der Rücktritt von Papst Benedikt XVI. bei einer typischen Afrobrasilianerin in Anapu aus. Als die Medien darüber berichteten, begann Andressa vor dem Fernsehschirm zu weinen, nicht weil der Papst zurückgetreten war, sondern weil sie befürchtete „Jetzt werden sie unseren ‚Dom‘ holen!“ Noch bevor das Konklave begann, in dem Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt wurde, war es Aufgabe von Padre Amaro, Pfarrer von Anapu, Andressa zu beruhigen und zu überzeugen, dass sie sich absolut keine Sorgen machen müsse. Die Kardinäle würden sicher einen aus ihrer Mitte wählen. Dom Erwin sei ja kein Kardinal, sondern nur ein ganz einfacher Bischof am Xingu.

Als ich mit 75 Jahren dem Papst meinen Rücktritt angeboten habe, waren die Leute gleich einmal besorgt und haben mich gefragt, ob ich sie denn verlassen würde, wenn ein Nachfolger komme. Das ist so ganz von innen gekommen, das habe ich einfach gespürt. Ich habe immer geantwortet: Einen alten Baum darf man nicht versetzen. Wenn man einen alten Baum versetzt, dann stirbt er.

Auch von meinen Mitbrüdern in der Brasilianischen Bischofskonferenz habe ich immer eine innige Verbundenheit erfahren. Ich habe das Amt als Vorsitzender des Rates für Indigene Völker (CIMI) der Bischofskonferenz über mehrere Funktionsperioden ausgeübt, weil ich immer wieder gewählt wurde. Am 17. September 2015, also schon vor meiner Emeritierung als Bischof, konnte ich dieses Amt abgeben – in dem Wissen, dass auf meinen Vorschlag hin ein ausgezeichneter Nachfolger gewählt wurde: Dom Roque Paloschi, bislang Bischof vom Roraima. Er wurde kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten des CIMI zum Erzbischof vom Porto Velho ernannt. Er erhielt die Stimmen aller Wahlberechtigten mit Ausnahme der seinen, so wie es sich gehört.


Was uns die Heilige Schrift sagt:
Drei Lebensregeln aus der Bibel

Die Ersten werden die Letzten sein (Mt 19,30)

Der Papst aus dem Süden und die großen Flüchtlingsströme nach Europa sind ein Zeichen, dass die Welt an einem Wendepunkt steht. Jahrhundertelang hat der Norden sehr stark auf Kosten des Südens gelebt. Jetzt klopfen die Marginalisierten, die an den Rand Gedrängten an den Toren der wohlhabenden an. Die Werteordnung ist dabei, sich umzukehren. Jeder und jede Einzelne ist angefragt, auf welcher Seite er oder sie steht. In Europa sind die Flüchtlinge, die von überall her kommen, eine Herausforderung. In Brasilien sind es die Indios, die man jahrhundertelang verdrängt und getötet hat. Die Indios klopfen längst an die Tore der Reichen. Sie haben nie aufgegeben. Sie sagen, wir sind Menschen und möchten als Menschen behandelt werden.

Der Herr sprach zu Mose: Sag den Israeliten, sie sollen aufbrechen (Ex 14,15)

Unterdrückung und Flucht sind zwei seiten derselben Medaille. Menschen fliehen nie freiwillig aus ihrer Heimat. Sie nehmen Opfer und Strapazen auf sich, die sie an den Rand ihrer Existenz bringen. Das klassische biblische Bild dafür ist der Auszug aus Ägypten. Vierzig Jahre hat das Volk Israel durch die Wüste wandern müssen. Viele von denen, die aufgebrochen waren, haben das Gelobte Land nicht erreicht. Und wie oft sehnte sich Israel nach den Fleischtöpfen Ägyptens zurück und rebellierte gegen Mose: „wenn uns doch jemand Fleisch zu essen gäbe! Wir denken an die fische, die wir in Ägypten umsonst zu essen bekamen, an die Gurken und Melonen, an den Lauch, an die Zwiebeln und den Knoblauch. Doch jetzt vertrocknet uns die Kehle …” (Num 11,4–6)

Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon (Mt 6,24) Der „Jedermann”, das Spiel vom Leben und Sterben des reichen Mannes auf dem Salzburger Domplatz, bringt es jedes Jahr auf den Punkt: Die Anhäufung von Reichtum und ein gottgefälliges – was auch so viel heißt wie menschenwürdiges – Leben sind ein Widerspruch in sich. Es liegt in der Natur des Geldes, dass es immer nach mehr heischt. Das macht abhängig und unfrei. Ich habe den „Jedermann“-Schrei von der Festung herunter als Student noch in Erinnerung. Es ist ein Ruf, der einem durch Mark und Bein geht.

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