Kitabı oku: «Im Takt des Geldes», sayfa 10
Ein staunenswerter Einblick also, den Opitz’ Schrift eröffnet: darauf, wie sich der Taktreflex innerhalb der bereits vorgerückten Lebenszeit eines Menschen durchsetzt und, sobald er sich durchgesetzt hat, damit sofort auch zu unhintergehbarer Natur geworden ist.
Nur ein kurzer Blick noch darauf, wie es damit weitergeht. Opitz’ Poeterey dringt mit ihrer Feststellung, das betont/unbetont sei »hoch von nöthen«, alsbald durch – anders als manche anderen Vorschläge zu veränderter Skansion, die im 16. Jahrhundert ergingen und sang- und klanglos untergegangen waren. Sehr rasch und ganz allgemein werden seitdem im Deutschen Akzentverse gedichtet, und das kann nur sein, wenn jenes »Sollen« tatsächlich so, wie es Opitz gedankenlos voraussetzte, allgemein schon stark genug empfunden wurde. Noch nicht völlig und ausnahmslos allgemein, denn einem bedeutenden und gefeierten Dichter wie Rudolf Georg Weckherlin will die neue Notwendigkeit Jahrzehnte lang nicht einleuchten – bis schließlich auch er sich daran macht, seine älteren Verse für eine Neuausgabe entsprechend umzuarbeiten. Der Reflex also wird allgemein, und unwiderstehlich werden die Zeugnisse des alten Rhythmus, die älteren Verse, jetzt entweder dem neuen angepasst und nach ihm umgedeutet oder aber sie verfallen dem Verdikt des üblen Klangs. Davon zeugt noch immer ein Schimpfwort wie das von den »Knittelversen«: So hat das 18. Jahrhundert nachträglich die Paarreimverse der Zeit »vor Opitz« verächtlich gemacht – einfach weil diese armen, früher einmal schönen Gebilde sich dem neuzeitlichen Alternieren nach betont und unbetont sperren und da es ihnen nachträglich nur noch mit dem Holzhammer beigebracht werden kann. Und da sie nun schon diesen Schaden leiden, brauchten sie für den Spott, sie würden diesen Knüttel schwingen, nicht zu sorgen.
Opitz führt die Beachtung des Wechsels von betont und unbetont in die deutschen Verse ein, kennt zunächst also nur die elementare Form der Zweier-Gruppe, wenige Jahre später erkennt August Buchner, dass sich mit der neuen Festlegung aufs betont/unbetont auch der »daktylisch« genannte Fall verträgt, dass zu einer Betonten zwei Unbetonte treten,59 und mit dieser Dreier-Gruppe sind die Akzentverse im Deutschen schon fertig so eingeführt, wie es sie noch heute gibt. Ihr Aufkommen hat die Wissenschaft deshalb zu einer Schöpfung von Opitz und Buchner erklärt, zum Ergebnis ihrer Reform. Doch Opitz und Buchner haben sich das neue rhythmische Prinzip und den neuen Versbau, den es verlangt, weder ausgedacht noch auch nur ausdenken können. Geleistet wird beides durch den neu entstandenen Reflex und wäre ohne ihn unmöglich. Opitz und Buchner vermerken lediglich seine Wirkung, entdecken, wie sich ihr Gehör, wie sich ihnen dadurch Klang und Wahrnehmung verändert hat, und werden sich als erste darüber bewusst, wie dem in der Sprachbehandlung beim Dichten nachzukommen ist. Sie geben dem bewusst nach, was ihnen der taktrhythmische Reflex unbewusst vorgibt; aber sie schaffen ihn nicht.
Fragt sich also, was ihn schafft.
Ein offenes Rätsel
Er wirkt in uns, wir finden ihn vor, wir haben ihn hinzunehmen, wie man etwa die Elektrizität hinzunehmen hat. Aber anders als sie, die sich schon zu Urzeiten am Bernstein, dem griechischen elektron feststellen ließ, wirkt dieser Reflex eben nicht zu allen physikalischen Zeiten, sondern erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts, und auch das nicht auf einen Schlag überall auf der Welt, sondern zunächst allein in den Gesellschaften des mittleren und westlichen Europa. Also muss er selbst durch etwas geschichtlich bewirkt werden – wodurch?
Was er bewirkt, ist schon jetzt bedeutend genug. Er bestimmt unsere rhythmische Wahrnehmung, unser ganzes natürliches Empfinden für Rhythmus. Auf ihm gründet die gesamte Musik nach Takten, durch ihn allein wird sie zu einer solchen Musik, vom Barock eines Bach bis zum Bum Bum des Techno. Er gibt vor, wie sie rhythmisch zu verlaufen hat, welche Möglichkeiten des Verlaufs es gibt, und dass wir diese als rhythmisch hören. Und nicht nur, dass die Taktmusik jetzt auf ihm gründet, dass er jeweils jetzt die stete und notwendige Voraussetzung ist für das Hören nach Takten, er hat diese Musik weltweit auch durchgesetzt. Auf ihm erhebt sich die Welt der Akzentverse, von Shakespeare bis zu Morgenstern, von Goethe bis zum Rap, er leistet das Versmaß aus betont und unbetont, welches die freien Verse dann allenfalls aufgeben können, er macht – für uns – den Unterschied zwischen Prosa und Vers. Er wirkt in die Sprache, durchwirkt unsere Welt mit der unabsehbaren Vielzahl seiner rhythmischen Alltäglichkeiten, die Wassertropfen fallen durch ihn in Zweier-Gruppen, der Herzschlag will uns seinetwegen rhythmisch klingen und so noch jedes tok tok tok bis hinab zu dem unserer Füße.
Doch er erzeugt nicht nur den unüberblickbaren Reichtum dieser Wahrnehmungen, er erzeugt zugleich das trügerische Bewusstsein, all das wäre bloß objektiv gegebene Natur, ein Bewusstsein, das sich selbst den reflektiertesten Beweisgängen der Wissenschaft fälschend einbeschreibt. So bestimmt der Taktreflex auch unser Denken auf eine recht grundsätzliche Weise und bannt es gerade hier, bei Dingen, die so tief in unser Innerstes reichen, auf einen krud vorkritischen Stand – vorkritisch in dem Sinn, dass das Denken hier weit, weit hinter der Wendung durch Kants Kritiken zurückbleibt. Dort war immerhin erkannt, dass unser Denken seine Gegenstände ganz allgemein nach Bestimmungen fasst, die es nicht schlichtweg in ihnen vorfindet, sondern die es selbst ihnen vorgibt und nach denen es sie zu seinen Gegenständen macht. Kant allerdings – und viele tun es heute noch – hält diese Bestimmungen, die Kategorien, für apriorisch konstant, für transzendental der Geschichte enthoben. Während sich dieses Apriori, von der zutiefst unwillkürlichen Empfindung des Rhythmischen bis zur angestrengt bewusstesten Reflexion darüber, selbst nun als geschichtlich erweist.
Welche Geschichte also bringt es hervor?
Zweites Kapitel
So wie die Seele im Körper wirkt er wie jede Substanz und ist doch selber immateriell; er verleiht Bewegung, und doch kann man nicht sagen, dass er existiert; er bringt Formen hervor, und hat doch selber keine Form; er ist weder Quantität noch Qualität, hat nicht Wo oder Wann, keine Lage und kein Äußeres. Wenn ich sagen wollte, er ist der wesenhafte Schatten von etwas, das nicht ist, würde ich die Sache nicht eher verwirren als sie erklären und Sie und mich nicht in einem tieferen Dunkel zurücklassen als vorher?
Daniel Defoe: An Essay Upon the Public Credit
I
Das Rätsel des Neuen
So weit kommt man, dorthin also gerät man, wenn man sich bei der Frage nach dem Rhythmus nicht alsogleich mit dem Getrappel seiner Füße zufriedengibt. Man stößt da auf einen Reflex, von dem man sonst nichts weiß und von dem erstaunlich Wenige wissen; man trifft auf eine unwillkürliche Leistung, mit der sich unsere Wahrnehmung eine spezifische Art von Rhythmus, ihre spezifische Weise, Klang als rhythmisch zu empfinden, überhaupt erst schafft. Und dann gerät man auf die unangenehme Tatsache, dass es diesen Reflex nicht schon immer gegeben hat, dass die Menschen nicht schon immer nach ihm wahrnahmen, und sieht sich deshalb zuletzt vor dem Anspruch, den historischen Grund dafür zu finden, weshalb sie – von einer bestimmten Zeit an und als Insassen einer bestimmten Gesellschaft – eben diesen Reflex entwickeln.
Sicher, es bestünde genug Anlass, nun auch den Rest dieses Buches, wenn nicht eine ganze Phalanx von Büchern damit zu bestreiten, dass ich die neu gewonnene Erkenntnis über Rhythmus nur weiter ausführe. Seit Jahrhunderten hat sie sich nicht einstellen wollen, seit Jahrhunderten hat sie sich mit großer Kraft allen verwehrt, die in diese Dinge einzudringen suchten, und entsprechend grundsätzlich wäre nunmehr alles, was jene bisher über Rhythmus verzeichnet haben, und vieles mehr noch, was ihnen weder je in den Blick geriet noch auch geraten konnte, neu zu betrachten, zu beschreiben, aufzuschließen. Die Liebe, die ich zum Rhythmischen hege, könnte mich wohl dazu bestimmen. Drängender aber verlangt etwas Anderes nach Aufschluss: Es ist dort etwas bedeutsam Neues entstanden – und stellt so vor eines der tiefsten Rätsel, dasjenige seiner Entstehung.
Das ist allemal eine schwierige Frage: Wie entsteht aus dem, was ist, etwas, was in dem nicht war? Natürlich gibt es einfache Varianten: Man nimmt etwas Ton in die Hand, formt ein Männchen daraus und schon ist ein neues Männchen in der Welt. Oder so: Jede kleinste Bewegung und Veränderung lässt unablässig etwas Neues entstehen, jeden Sekundenbruchteil ergibt sich ein neuer Zustand der Welt. Doch so einfach wird es mit der Erklärung des Taktreflexes nicht gehen: Was mit ihm entsteht, lässt sich nicht mit Händen greifen, und was mit ihm aufkommt, ist nicht im nächsten Augenblick wieder vergangen, es dauert an, er selbst und folglich auch das, wodurch er bedingt sein muss. Beides hat seine Gegenwart bis heute.
Leicht also wird sich die Frage, wie dieses Neue entsteht, nicht beantworten lassen. Wie seltsam aber und schwierig, das liegt daran: Dies Neue ist ein Reflex. Man stelle sich nur für einen Moment vor, was es entsprechend hieße, wenn ein Phänomen wie die optischen Täuschungen nachweislich erst um das Jahr 1600 Wirklichkeit würde; wenn sich herausstellte, ein Reflex wie der, dass wir jene zwei schnurgeraden Parallelen gekrümmt sehen, wäre erst in jüngerer Zeit aufgekommen und die Menschen hätten die Linien bis dahin stets genau so gerade gesehen, wie sie es objektiv sind. Und nun wäre nach etwas zu fahnden, das den Menschen diesen Reflex abfordert; etwas, das die Menschen auf irgendeine Weise, von der sie nichts wissen, dazu bringt, diesen Reflex zu entwickeln; und etwas, das die Menschen erst von jener Zeit an dazu gebracht haben dürfte. Es müssten geschichtliche Bedingungen ausgemacht werden, die erst zu jener Zeit und zunächst nur in Westeuropa eintraten, Bedingungen aber, mächtig genug, dass sie seitdem in Kraft sind bis heute: überaus gewichtige Bedingungen also – und doch müssten sie zugleich nur für diesen kleinen, unscheinbaren Reflex zuständig sein, für eine winzige Krümmung in unserem Auge, für eine geringe Abweichung, die unser Sehen an dem Gesehenen vornimmt. Die Neuzeit als notwendige Bedingung für eine optische Täuschung: So seltsam stellt sich das historische Problem, vor welches der taktrhythmische Reflex stellt.
Käme jemand auf die Idee, optische Täuschungen geschichtlich herzuleiten? Oder hätte, wer es allenfalls versuchte, die Hoffnung, zu einem klaren Ergebnis zu gelangen? Und falls es gelänge, gäbe es Anlass zu glauben, dass damit Neues und Wichtiges über die Neuzeit zu Tage käme? Ohne Zweifel: dreimal nein. Aber dreimal Ja muss es heißen, wenn wir dieselben Fragen statt auf optische Täuschungen auf den taktrhythmischen Reflex beziehen. Wodurch es geschichtlich zu ihm kommt, diese Frage stellt sich notwendig: Denn dort ist etwas geschichtlich entstanden. Die Frage verspricht außerdem ein klares Ergebnis: Zu scharf sind die Konturen dieses Neuen. Und sie verspricht bedeutenden Aufschluss: Zu tief reicht dieses Neue in uns und zu weit reichen die Wirkungen, die es zeitigt.
Drei außerordentlich wichtige Punkte. Noch einmal erstens: Das historische Auftreten des Taktreflexes ist sehr klar umrissen, sehr viel klarer als bei den meisten epochalen Veränderungen. Bis heute darf man zum Beispiel darum streiten, wann das Mittelalter beginnt, – während der Taktreflex deutlich innerhalb einer eng umgrenzten Zeitspanne auftritt und sich dabei aufs klarste absetzt von der Zeit, die vor seinem Erscheinen liegt. Er ist nicht schon in früheren Formen der Rhythmuswahrnehmung keimhaft angelegt, ist keine bloße Verbindung aus solchen früheren Formen, entwickelt sich aus keiner von ihnen, sondern tritt an ihre Stelle, sie selber aktiv negierend und verdrängend, neu und selbstherrlich, als hätte er keine Vorgeschichte.
Zweitens: Auch was er ist, worin er für sich genommen besteht, lässt sich aufs genaueste abgrenzen. Er besteht durchaus positiv, in deutlich umrissener Gestalt. Definit tritt er auf, nicht erst zu definieren. Ihn zu bestimmen, ist keine Sache der Festlegung und Konvention, er hat nicht die in alle Richtungen ausfransenden Konturen, denen bloß definitorisch eine klare Naht anzuschneidern ist wie so vielen anderen geschichtlichen Phänomenen. Was zum Beispiel ist das Mittelalter? Worin genau besteht der Feudalismus? Ist es noch Feudalismus, wenn die Fronhofverfassung ihr Ende gefunden hat, oder bedeutet es sein Ende erst, wenn die frühesten Börsen aufkommen? Mit solch unscharfen Übergängen hat es die Geschichtsschreibung üblicherweise zu tun – ohne doch vor ihnen zu kapitulieren –, mit Übergängen, in denen sich das Neue nur gleichsam à la longue gegen das Vorherige abgrenzt und nirgends rein von ihm abzulösen ist. Der taktrhythmische Reflex dagegen tritt auf, so klar umrissen und fassbar wie ein neu gekaufter Ball. Darüber, wann die Neuzeit angebrochen ist, mag man ohne Ende rechten können: Der Reflex ist ein positives Datum – klar bestimmbar danach, worin er besteht, und eigentümlich klar bestimmbar danach, seit wann er wirkt.
Und drittens: Dass ein solcher, so tief in uns wirksamer Reflex entsteht – und so auch das, wodurch er entsteht –, es muss von Bedeutung sein, für die Neuzeit und für unsere genaue Gegenwart. Ich habe genannt, was er bewirkt und was er bewirkt hat, und seine geschichtliche Wirkung ist uns ja noch immer eine unmittelbar gegenwärtige. Jede unserer Empfindungen, dass jetzt etwas rhythmisch ist, verdankt sich seiner Gegenwart. Und also muss, ebenso tief wirkungsvoll, wie es diese Empfindung sein kann, auch das noch immer unsere Gegenwart bestimmen, was ihn bedingt.
Nach diesem Ursprung ist nun zu suchen.
Wo nicht zu suchen ist
Doch muss die Suche danach zu allererst klären, wo sie nicht stattzufinden hat. Denn vor allem anderen gilt es eine lange Reihe von Erklärungen auszuschließen – Erklärungen, die sich mit großer Sicherheit aufdrängen, mit derselben Sicherheit aber fehlleiten und den Blick zuverlässig verstellen würden, solange sie nicht vollständig aus dem Feld geräumt sind. Jedem nämlich werden sofort tausend naheliegende Dinge einfallen, denen sich Taktrhythmus ursprünglich verdanken könnte: wenn schon nicht den Füßen, so doch dem Tanz, wenn nicht den Trommeln, so doch dem Herzschlag, wenn nicht der Antike, so doch unserem allerfrühesten Leben im Busch.
Kann es anders sein? Herzen schlagen im Takt, oder etwa nicht? Man tanzt, macht Schritte, und was soll sich ergeben außer Takten? Mechanische Uhren, machen sie nicht schön ihr tik und tak? Und Glocken, die läuten, Motoren, die laufen, Maschinen, die rattern, das Stoß um Stoß, wenn Frau und Mann – sind das nicht Erklärungen zuhauf?
Wohl, wohl, aber keine davon trifft. Das abzusehen, würde bereits das Wenige genügen, was ich bis jetzt dargelegt habe, und trotzdem drängen sie sich unabweisbar auf. Sie stellen sich selbst wie nach einem Reflex ein und wollen so schnell nicht locker lassen. Also müssen sie zunächst einmal fallen, und um ihrer ledig zu werden, werde ich mich auf eine Art vorläufiger Suche begeben mit dem Ziel, das Gebiet, auf dem die richtige Erklärung liegen muss beziehungsweise umgekehrt nicht liegen kann, großräumig abzustecken. Mit den Erklärungen, die ich dafür ausschließen werde, habe ich mich teils selber ratlos und allzu lange aufgehalten, sie sind mir in Gesprächen und in Briefen über diese Dinge immer und immer wieder vorgetragen worden und lassen sich teils auf Grund dessen, womit die Wissenschaft bisher zum Rhythmus aufgewartet hat, unschwer absehen. Absehen lässt sich auch dies: Da der Taktrhythmus als solcher bereits über Jahrhunderte der Anlass zu offenbar unausbleiblichen Fehlschlüssen war, so müssen sich die Fehlschlüsse bei der Frage seiner Genese nicht minder überzeugend einstellen. In der Tat wird man finden, dass die Sache ganz eigentümliche Schwierigkeiten bereit hält.
Das Einfachste und doch vielleicht schon Schwerste zuerst: Der taktrhythmische Reflex ist unbewusst – also kann er nicht in einem bewussten Akt geschaffen werden. Sein Entstehen kann sich keinem auf ihn gerichteten Akt des Bewusstseins verdanken.
Mit dieser knappen Tatsache ist auf einen Schlag der Großteil all jener Erklärungen vom Tisch, die sonst rasch für eine Neuerung gefunden sind: dass jemand draufgekommen sei, die Idee gehabt, das Fragliche erfunden habe. Ein Reflex aber lässt sich nicht ausdenken. Oder: Was man sich ausdenkt, wird nicht deshalb zum Reflex. Einmal angenommen, es käme jemand auf den Gedanken, wie hübsch es sich ließe, gerade Linien unter Umständen für gekrümmt anzusehen: Weder er selbst, der die Idee hätte, noch irgendein anderer würde die Linien daraufhin tatsächlich gekrümmt sehen. Und sollten sich die Menschen selbst über viele Generationen hinweg immer wieder auf dieselbe Idee versteifen, keine Evolution könnte dafür sorgen, dass aus der Idee ein Reflex wird. Nein, dies unbewusste, unwillkürlich wirksame Neue kann kein Geistesblitz hervorgeschleudert, keine Lehre kann es verbreitet und kein noch so langwieriger Diskurs kann es erarbeitet haben. Niemand hätte es auch nur weitergeben können, keiner es sich vom anderen abschauen. So wie der Taktreflex im historischen Ablauf auch tatsächlich nicht zum Gegenstand irgendwelcher Überlegungen gemacht wurde, die ihn dann in die Existenz befördert hätten, konnte er gar nicht dazu gemacht werden.
Zum Gegenstand der Reflexion kann der Taktreflex erst nachträglich werden: nachdem er bereits da ist. So wie im vorliegenden Buch: Er kann nur konstatiert werden als das bereits Entstandene, bereits unwillkürlich Gegebene, als das in diesem Sinne eben positive Unbewusste, wie es ein großer Erforscher der Neuzeit postuliert hat.60 Entstehen kann der Reflex nicht durch Reflexion, eben weil er dem Bewusstsein als solchem a priori, ihm unhintergehbar vorgegeben ist. Deshalb kann er ihm nicht entstammen, und alle nur denkbaren Erklärungen seines Ursprungs aus Daten der Bewusstseinsgeschichte, sei es einer Stil-, einer Geistes-, einer Ideen- oder einer beliebig noch weiter gefassten Diskursgeschichte, scheiden damit aus. Das ist schon sehr viel.
Es folge sofort eine zweite und nicht minder weitreichend grundsätzliche Überlegung. Ich erinnere zunächst daran, dass die zur Lösung anstehende Frage nicht lautet: Wie kommt es historisch zum Taktrhythmus? Dieses Rätsel ist bereits gelöst, zum Taktrhythmus kommt es durch das Aufkommen der Takt-Synthesis, durch sie kommt es zum taktrhythmischen Hören und damit insbesondere zu der diesem Hören entsprechenden Musik und Versdichtung. Es liegt viel daran, sich diese Abfolge von Bedingendem und Bedingtem vor Augen zu halten. Eine ganze weitere Gruppe von Fehl-Erklärungen lässt sich damit aus der Welt schaffen, dass man nur dies noch einmal festhält: Der Reflex bewirkt den Taktrhythmus und nicht umgekehrt der Taktrhythmus den Reflex.
Ganz offensichtlich aber liegt uns diese entgegengesetzte Vermutung sehr viel näher, dass sich zuerst einmal die Musik verändert hätte, sie wäre im Laufe ihrer Entwicklung irgendwann eben auf Takte geraten, die Menschen, die in dieser Musik Takte zu hören bekamen, hätten sich dadurch an Takte gewöhnt und deshalb über kurz oder lang auch jenen Taktreflex entwickelt, den wir inzwischen experimentell so fein analysieren und feststellen können. Diese logische und zeitliche Abfolge bietet sich bequem an und ist doch völlig ausgeschlossen. Sie ist ausgeschlossen, da keine Musik bereits nach Takten laufen kann, da sie weder nach Takten gespielt noch nach Takten gehört würde, solange jener Reflex nicht in Hörern und Musikern wirksam ist. Er ist die unabdingbare Voraussetzung für solche Musik, er führt zu solcher Musik, bedingt und ermöglicht sie überhaupt erst, kann sich also nicht erst als Folge aus ihr ableiten. Weder Musik noch irgendein anderer Klang geht eben von sich aus und objektiv nach Takten, da Takte grundsätzlich nur als subjektive Leistung existieren, nämlich als Leistung der Takt-Synthesis in den wahrnehmenden Subjekten. Weder Musik noch irgendein anderer Klang kann also nach Takten gehen, nämlich wahrgenommen werden, bevor da nicht der Taktreflex am Wirken ist.
Dieselbe Überlegung ist aber noch strenger zu formulieren und so, dass das seltsam Unwahrscheinliche der einmal nötigen, richtigen Erklärung nun doch bedrohlich zu werden beginnt: Der Taktreflex kann nicht durch dasselbe objektive Material bedingt werden, an dem er wirksam wird. Nicht das Material der Wahrnehmung, auf welches er reagiert, kein irgendwie gearteter Klang also kann ihn als solchen ins Leben gerufen haben. Die Takt-Synthesis kann nicht historisch dadurch entstehen, dass Menschen bestimmte Klänge zu hören bekamen, auch dann nicht, wenn es Klänge gewesen wären, die wir inzwischen anstandslos nach Takten hören.
Um diese Überlegung anschaulich zu machen, mag noch einmal der fiktive Vergleich mit den optischen Täuschungen helfen. Der naheliegenden Annahme, unser Takthören wäre durch eifriges Hören von Taktklängen entstanden – in Musik, in Versen oder in irgendwelchen Geräuschen –, entspräche dann, dass der Reflex, auf welchem die optische Täuschung beruht, durch das Betrachten derjenigen optischen Reize entstanden wäre, auf die derselbe Reflex, nun da es ihn gibt, reagiert. Das hieße also: Wer die Graphiken, die uns heute täuschen, früher einmal ohne optische Täuschung betrachtet hätte, hätte durch dies Betrachten früher oder später den Reflex entwickelt, sich nun doch einmal optisch zu täuschen. Die beiden schnurgeraden Parallelen über dem Strahlenkranz würde er so gerade sehen, wie sie sind, bis er darüber begänne, sie eben deshalb gekrümmt zu sehen – eine absurde Annahme, die den wirklichen Ablauf ganz offensichtlich auf den Kopf stellt. Die beiden Geraden, man könnte sie zehnmal, man könnte sie hundertmal, man könnte sie unendlich viele Male so gerade sehen, wie sie nun einmal sind, niemals würde man sie deshalb schließlich falsch gekrümmt sehen müssen. Man kann nicht dadurch, dass man ein bestimmtes Bild sieht, dazu gebracht werden, es anders zu sehen, als man es sieht. Die Linien nicht gerade zu sehen, sondern sie aktiv und unwillkürlich für gekrümmt zu halten, kann nicht seine Ursache darin haben, dass wir sie gerade sehen.
Oder nehmen wir den umgekehrten Fall an, wir bekämen, in einer sonst gleichen Graphik, die beiden Parallelen nicht in gerader Linienführung, sondern objektiv gekrümmt gezeigt. Und wieder sähen wir sie so oft und so lange, bis wir uns schließlich daran gewöhnt hätten, bei einem solchen Bild gekrümmte Linien zu erwarten.61 Würden wir uns infolgedessen täuschen lassen, sobald man uns wider Erwarten die Graphik mit den geraden Linien zeigte? Würden wir diese nun für gekrümmt halten, weil wir es gewohnt wären, an ihrer Stelle sonst gekrümmte Linien zu sehen? Nein, das ganze Gegenteil: Wir nähmen nur umso empfindlicher die Abweichung vom Erwarteten wahr, diesmal also die objektive Geradheit der Linien. Man mag jahrelang Tag für Tag an demselben alten Holzzaun entlanggehen, einer langen Reihe verkrümmter Staken: Wenn eines Tages auch nur ein einziger davon durch einen neuen, geraden ersetzt ist, werden wir diesen nicht etwa gewohnheitsmäßig immer noch für alt und gekrümmt halten, sobald er uns ins Auge fällt, nein, es wird uns umso mehr ins Auge stechen, dass er gegen die Erwartung verstößt, dass er objektiv gerade ist.
So auch beim Hören und bei den Takten. Man könnte sein Leben lang unter dem Klang von lauter tok tok toks verbringen und würde daran nicht den Reflex gewinnen, sie gerade nicht als toks zu hören, sondern als tik-tak – sie also unwillkürlich und aktiv ins tik-tak zu ändern. Deshalb kann man auch nicht am Herzschlag lernen, ihn in Takten zu hören, nämlich nicht nur als sein gleichmäßiges Pochen, sondern als ein Hin-und-her-Schwingen zwischen EINS und zwei. Auch nicht umgekehrt, wenn man allenthalben vom tik tak umgeben wäre, von Klängen, die objektiv etwa nach laut und leise abwechseln. Auch dies laut-leise würde man ja objektiv hören, und nichts brächte einen deshalb dazu, Klänge, die einmal nicht nach tik und tak abwechseln, trotzdem so zu hören: Was ein bloßes tok tok tok wäre, bliebe uns bloßes tok tok tok.
Noch einmal das Grundlegende dieser Überlegung: Der Taktreflex ist synthetische Leistung. Das heißt, er verändert das objektive Material, welches in unsere Wahrnehmung eingeht, innerhalb dieser Wahrnehmung in einer bestimmten Weise. Könnte demnach die Bedingung dafür, dass Menschen jenen Reflex entwickeln, im objektiven Material liegen, so hätten sie erst, noch ohne den Reflex, das Material objektiv »richtig« wahrnehmen müssen, um am gleichen Material zu lernen, es dann mit Hilfe eines Reflexes subjektiv zu »verfälschen«. Das kann nicht sein. Unsere Wahrnehmung kann nicht dadurch, dass sie etwas wahrnimmt, dass sie das Wahrgenommene zunächst nach seinen objektiven Bestimmungen auffasst, dazu gebracht werden, es nicht nach diesen Bestimmungen wahrzunehmen, sondern stattdessen einen Reflex zu entwickeln, der diese Bestimmungen bestimmt verändert.
Wie paradox der notwendige Schluss daraus auch anmuten mag, man hat sich ihm zu stellen: Die Bedingung dafür, dass wir einen solchen Reflex entwickeln, kann nicht demselben Gebiet zugehören, in dem er wirkt. Nicht dem Gebiet optischer Reize bei jener Täuschung, nicht dem Gebiet der Klänge beim taktrhythmischen Reflex; allgemein und genauer aber: überhaupt nicht auf dem Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung. Der Reflex legt sich auf die Wahrnehmung, aber entspringt nicht ihr, auf die er sich legt.
Eine außerordentlich weitreichende Erkenntnis. Sie besagt, dass der Reflex, nicht dem Bereich entstammend, wo er wirkt, aus einem anderen Bereich auf den des Wahrnehmens übertragen werden muss. Ich nenne dies das Übertragungsargument.
Es schneidet alle Versuche ab, die historische Bedingung für den Taktreflex dort zu suchen, wo man ihn zu allererst geneigt wäre zu vermuten: auf dem Gebiet der Wahrnehmung selbst. So erübrigt, nein, so verbietet sich die Suche nach dem »Ursprung« jenes Reflexes auf dem Gebiet der Wahrnehmung. Man hat nicht in der Musik zu fahnden, nicht in den Versen, nicht in der Sprache – sie alle hatten auch schon lange vor Aufkommen des Taktrhythmus ihre Akzente und Betonungen, aber diese in freier Verteilung, und ohne dass sich je aus ihnen die gesetzmäßige Ordnung nach betont/unbetont ergeben hätte. Und nicht nur diese drei rhythmischen Sparten, alle Arten von Klängen und Geräuschen müssen als mögliche Ursache ausgeschlossen werden. Nicht die mechanischen Uhren mit ihrem Ticken können ihn bewirkt haben, nicht das Schlagen der Turmuhren, ihre lauten Glocken so wenig wie die ersten am Körper getragenen Unruhen. Keine Maschine könnte es leisten mit ihrem monotonen Lärm, und hätte sie auch über Jahrhunderte jede Gasse und alle Fluren damit erfüllt, kein Arbeitsrhythmus, wie treulich er auch den Takt eingehalten hätte, und kein Kanonendonner, wäre er auch so säuberlich taktierend ausgezählt worden wie ein Stück Barockmusik.
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