Kitabı oku: «Im Takt des Geldes», sayfa 8
Rhythmik in Mittelalter und Renaissance
Wie kann das sein? Wie um Himmels willen ließe sich so etwas vorstellen? Wie will irgendjemand feststellen, welche Reflexe die Menschen einmal hatten und welche nicht?
Es lässt sich feststellen. Es lässt sich sogar vorführen, wie der Taktreflex in den Menschen jener Zeit beginnt, wirksam zu werden, ein historisch erstes Mal – nachdem es ihn bis dato ganz einfach nicht gegeben hatte. Doch bevor wir dorthin gelangen, müssen wir uns erst einmal vergewissern, dass es ihn wirklich zu Zeiten nicht gab und wie lange seine Absenz währte.
Um nur insgesamt zu belegen, dass der taktrhythmische Reflex den Menschen einmal unbekannt war, würde der Blick auf die griechische Antike genügen, aber ich will sie nicht noch einmal bemühen. Zu weit klafft der historische Abstand zwischen jener fernen Zeit und dieser neuen, in der es mit »unserem« Rhythmus beginnt, und zu mächtig ist jenes Apriori darin, uns den Taktrhythmus stets als die naturgegebene Form von Rhythmus vorzugaukeln. Ich werde den Abstand daher überbrücken, indem ich zeige, wie lange noch in jüngeren Zeiten, in der europäischen Musik des Mittelalters und der Renaissance all jene bekannten Bestimmungen, welche den Taktrhythmus und für uns also Rhythmus überhaupt ausmachen, fehlen; und dass stattdessen auch dort – eben deshalb – die materiale Auffassung der Zeitgrößen galt.
Aber ich will den ungeduldigen Leser warnen. Von dem, was folgt, wird er keinen zusätzlichen Aufschluss über den Takt und seinen Reflex erhalten, nichts, was er für den Fortgang dieses Buches unabdingbar benötigte. Er wird lediglich von rhythmischen Verhältnissen erfahren, die den unseren vollständig fremd sind und die uns vorzustellen deshalb sehr schwer fällt. Am einfachsten wäre es, der Leser würde an dieser Stelle zum Hörer, nähme eine Aufnahme etwa von Werken des großen Renaissance-Komponisten Josquin Desprez zur Hand, aber eine verlässliche Aufnahme wie die des Hilliard-Ensembles, und würde wahrnehmen, wie in dieser Musik zwar offensichtlich rhythmische Gliederung, aber eben keine taktrhythmische komponiert ist. Leider taugen nicht alle Aufnahmen älterer Musik zu solcher Anschauung, man darf sich vielmehr nicht wundern, wenn die meisten – ähnlich, wie sich die klassische Philologie ihren Versen gegenüber verhält – auch die alte Musik gnadenlos auf Takte bringen. Immerhin liegen seit einiger Zeit genug Einspielungen vor, die den historischen Abstand zu den vergangenen rhythmischen Verhältnissen kennen und zu wahren wissen – was mir bei weitem wichtiger scheint, als die alten Instrumente zu benutzen, sie aber nach dem neuzeitlichen Takt zu traktieren. Wer von älterer Rhythmik nun aber gar nichts hören will, mag den folgenden Abschnitt ohne Not überspringen.
Erlaubt man es sich, die verschiedenen rhythmischen Traditionen, die sich in der europäischen Musik jener Zeiten herausgebildet haben, jedenfalls so grob einzuteilen, wie es mein rascher Überblick verlangt, lassen sich diese drei Typen benennen: der bloß sprachlich gebundene Rhythmus, der modale und schließlich der mensurale.36
Der erstere, kennzeichnend für die frühen Monodien bis etwa zum Gregorianischen Gesang, verzichtet für unsere – hier durchaus unangemessenen – Begriffe auf eine rhythmische Regelung des Zeitverlaufs, insofern er die Tondauern lediglich an den Sprachduktus bindet, indem er also die Töne so lang oder so kurz nimmt, wie es den jeweils gesungenen Silben im Sprachverlauf oder möglicherweise ihrer Bedeutung entspricht. Er mag sie zuweilen ad libitum durch Verzierungen längen, und es können auch mehrere Töne einer Silbe unterlegt werden, mit jeweils etwa gleichwertiger Dauer, die aber danach variieren kann, ob ein Ton lediglich einem verzierenden Lauf angehört oder aber frei trägt. Die Absenz von Zeitraster und Betonungswechsel liegt hier auf der Hand.
Modale Rhythmik ist etwa Mitte des 13. Jahrhunderts ausführlich beschrieben worden durch Johannes de Garlandia; in Gebrauch war sie schon Jahrhunderte früher. Sie beruht auf der Unterscheidung von lang und kurz, von longa (L) und brevis (B), und auf den folgenden sechs Möglichkeiten, wie diese beiden Quantitäten aufeinander folgen können:37
1. L B L … | 3. L B B L … |
2. B L B … | 4. B B L B B … |
6. B B B … | 5. L L L … |
Wohlgemerkt, diese Abfolgen sind durch kein gemeinsames Gesetz festgelegt, sie sind Modelle, sind Muster, Gestalten je eigenen Rechts. Und sie haben, nebenbei gesagt, nichts mit Akzenten, nichts mit irgendeiner Festlegung von betont und unbetont zu tun.38 Sie liegen den verschiedenen Modi zu Grunde, aus denen sich der deswegen so genannte modale Rhythmus zusammensetzt. Das erste Muster zum Beispiel, L B L, wird so zu einem Modus perfectus: L B L B L, oder so zu einem Modus imperfectus: L B L B. Die longa gilt jeweils zwei Zeiteinheiten, die brevis eine, und es ergibt sich die Proportionenfolge: 2 + 1 + 2 + 1 (+ 2). Anders, wenn eine der Möglichkeiten drei bis fünf verwendet wird, wo jeweils mindestens zwei Werte der gleichen Gattung aufeinander folgen. Dann nämlich verändert sich ihre Dauer. Ein Modus perfectus nach dem dritten Muster lautete in Noten einfach L B B L B B L, auszuführen war er jedoch so: 3 + 1 + 2 + 3 + 1 + 2 + 2. Von den zwei aufeinanderfolgenden breves wird jeweils die letztere auf zwei Zeiteinheiten gelängt und die vorangehende longa erhält entsprechend den Wert, der diesen beiden zusammen entspricht, also drei tempora. Die letzte longa dagegen bleibt zweizeitig – und damit von gleicher Länge wie die unmittelbar vorangehende brevis.
Uns kann es bloß als kurios erscheinen, dass man hier lediglich die zwei Werte longa und brevis notiert, wo man doch drei verschiedene Notendauern spielt, und umgekehrt, dass man sowohl longae also auch breves unterschiedlich lang spielen kann, ohne dass sich dies in der Notation niederschlagen würde. Für uns, für unsere Rhythmuswahrnehmung hat das keinen Sinn. Aber es hatte seinen Sinn nach der proportionalen Rhythmuswahrnehmung. Nach ihr müssen die Werte in diesen Fällen gegeneinander verändert werden, damit sich nicht je gleiche Zeitgrößen gegenüberstehen, die beiden Kürzen als je einfache tempora und als je zwei tempora die Länge neben den zwei Kürzen.39 Gerade das, was uns bloß kurios erscheinen kann, die Veränderung der Notenwerte gegenüber ihrer unveränderten Notation, ergibt sich also unmittelbar aus jener proportionaler Wahrnehmung. Es setzt diese Wahrnehmung voraus; und schließt strikt die taktrhythmische aus.
Aus diesen modalen Voraussetzungen entwickelt sich dann die Rhythmik der Mensuralnotation. Sie ist es, welche die europäische Musik das spätere Mittelalter hindurch bis in die Renaissance hinein bestimmen wird, und ihr muss deshalb besonderes Augenmerk gelten. Denn sie bleibt in Geltung bis zu jenem Moment, da sie historisch dem neuen, dem Taktrhythmus unmittelbar zu weichen hat.
Auch in der mensuralen Rhythmik gibt es eine Art Grundschlag, tactus genannt, und diesem wird der neuzeitliche Takt, der ihn verdrängt, zwar den Namen entlehnen, doch sonst verbindet die beiden nichts. So wenig, wie es Arsis und Thesis der Antike waren, ist der mensurale tactus bereits jener Taktschlag, der die Zeit vorweg rastert, sondern im tactus zeigt sich die Zeitwahrnehmung nach wie vor gebunden an eine Zeit-Substanz. Zeit und Zeitgrößen sind auch in der Epoche der musica mensurabilis noch immer nicht abtrennbar von ihrem Körper aus Klang, Vorgang, Bewegung.
Die absolute, stetige, homogene und unendliche Zeit Isaac Newtons war dem Mittelalter unbekannt. Zeit war nur als Zahl oder Maß einer bestimmten Bewegung oder eines bestimmten Vorgangs begreiflich: »Tempus est numerus (mensura) motus.« [Zeit ist Zahl/Rhythmus (Maß) einer Bewegung] Ein musikalischer Zeitwert ist ein Notenwert, bezogen auf eine Zeitdauer. Sofern also eine Zeitdauer als Maß eines Vorgangs verstanden wird, entsteht ein musikalischer Zeitwert durch Beziehung eines Notenwertes auf einen Vorgang. Der Vorgang, als dessen Maß der Notenwert der Brevis recta zu einem Zeitwert wird, ist nach Franco die Vox prolata oder genauer: das Minimum in plenitudine vocis. […] Die vox prolata ist nicht Ausfüllung eines Stücks leerer Zeit, sondern Zeit entsteht erst als Maß der vox prolata.40
Diese vox prolata, »der hervorgebrachte Stimmklang«, wird als reales Minimum verstanden, als von Natur aus nicht mehr weiter teilbar: »Est quod est indivisibile naturaliter.« Sie ist diejenige Dauer, welche die Stimme beim Erklingen mindestens braucht, um überhaupt volle Stimme, und also, um überhaupt Zeit zu sein. Eine solche Vorstellung ist uns fremd. Die Vorstellung eines – im übrigen recht ausgedehnten – Klangatoms, eines nicht mehr teilbaren Zeitkörpers, fehlt uns, ist uns unverständlich und hat für uns nicht das mindeste mit Rhythmus zu tun. Bis zum Aufkommen des Takthörens aber ist diese materiale Gebundenheit der Zeit das Natürliche, Grundlage von Rhythmus, und wäre umgekehrt das uns Selbstverständliche undenkbar gewesen, die beliebige Teilbarkeit der Zeit. Wir können jeden Klang, auch den der Stimme, noch auf das kürzeste tok, tik oder tak verkürzen, und trotzdem ist es uns Klang und kann es uns zu einem rhythmischen Element werden. Nicht so im Mittelalter und bis zum Anbruch der Neuzeit.
Wir haben also eine ähnliche Rhythmenbestimmung wie in der griechischen Musik vor uns; die kleinste Maßeinheit der Mensuraltheorie entspricht dem chronos protos des Aristoxenos.41
Auch wenn ein Notenwert etwa in Minuten oder Sekunden gemessen wurde, war mit der Messung nicht ein absolut gedachtes Zeitkontinuum vorausgesetzt:
Die Minute oder Sekunde war dann als Bruchteil des Maßes der Sonnen- und Mondbewegung zu verstehen, nicht als ein durch Konvention festgesetztes Maß der absoluten Zeit. 42
Aufschlussreich etwa die Einteilung, nach der im 14. Jahrhundert Johannes Verulus de Anagnia einmal die Dauer der brevis angibt, des grundlegenden Notenwertes seiner Zeit. Danach umfasst ein Tag vier Quadranten, ein Quadrant sechs Stunden, eine Stunde vier Punkte, ein Punkt zehn Momente, ein Moment zwölf Unzen und eine Unze schließlich 54 Atome. Die brevis einer bestimmten Notenteilung habe danach einer Unze entsprochen, einer Achtel Minute oder gut sieben Sekunden, während dem kleinsten, nicht weiter teilbaren Notenwert die Dauer von sechs Atomen zukam, einer knappen Sekunde.43 Man sieht, die materiale Bindung des Zeitverlaufs geht Hand in Hand mit einem Tempo, das unseren Ohren unvorstellbar langsam vorkommt.
Aber nicht nur der kürzeste Wert blieb in dieser Weise körperlich, unteilbar aufgefasst, jeder der Notenwerte, ausgehend von der longa, hatte seine »naturaliter« ihm zukommende Länge. Auch das gibt es für uns und im Taktrhythmus nicht mehr. Wir halten es für natürlich, dass eine »ganze« Note in einem langsamen Stück beispielsweise drei Sekunden dauert, in einem schnellen dagegen nur eine Drittelsekunde. Oder anders, eine Achtelnote kann für uns bei einem langsamen Tempo länger dauern als eine ganze Note bei einem schnellen. Im Taktrhythmus haben die Notenwerte nicht für sich genommen ihre feste Dauer, sondern leiten sie ihre Dauer ganz vom Gesamttempo des Taktschlags ab. Solche Relativität war dem proportionalen Hören undenkbar: Im mensuralen Rhythmus hat die longa ihre bestimmte Länge und so auch, je nach Notenteilung, die brevis. Wenn im alten tactus ein – nach unserem Verständnis – höheres Tempo angeschlagen werden sollte, dann wurden nicht longa und brevis einfach kürzer genommen, sondern dann mussten kleinere Teile dieser Noten, dann musste etwa der nächstkürzere Notenwert gesetzt werden.
Jeder Notenwert hatte die ihm namentlich zukommende, feste, gleichsam eben körperliche Dauer – nicht in dem Sinn, dass sie wie unsere Atomzeit an irgendeiner Stelle absolut gemessen und darauf hin normiert worden wäre, aber doch mit der Genauigkeit der bloßen Zeitempfindung. Die mag immer etwas schwankend sein, sie war jedoch, wie man aus Zeitangaben in mittelalterlichen Traktaten rekonstruieren konnte, jahrhundertelang verblüffend konstant. Und verlässlich genug: Als man zum Beispiel im 15. Jahrhundert auf die Idee kam, Puls und Notenwerte zu Messzwecken aufeinander zu beziehen, da diente nicht etwa die normale Pulsfrequenz dazu, die Dauer der Noten zu bemessen, sondern umgekehrt ein bestimmter Notenwert zum festen Maßstab für den jeweiligen Puls. Den Puls direkt nach fest empfundenen Notenwerten messen zu wollen, nach »der« Viertel oder »der« Halben, das wäre heute, unter der Herrschaft der taktrhythmischen Wahrnehmung, ein geradezu schildbürgerlich-lachhaftes Unterfangen.
Gerade aus dieser materialen Gebundenheit der Zeitwerte und ihrem gleichsam körperlich festen Bestand resultierte jedoch die von der modalen Rhythmik bekannte, mit dem Taktwesen unverträgliche Beweglichkeit auch der mensuralen Notenwerte. Nach unserer taktrhythmischen Wahrnehmung haben die einzelnen Notenwerte zwar keine feststehende Dauer, stehen aber in einem konstanten Verhältnis zueinander: Die halbe Note ist stets die Hälfte der Ganzen, die Viertel stets Hälfte der Halben, die Achtel stets Hälfte der Viertel, und so immer weiter. Man wird sich fragen: Was denn auch sonst? So ist es einfach, so ist es natürlich, wie sollte es anders sein? Im mensuralen tactus jedoch ist es anders. Eine semibrevis ist dort, auch wenn es der Name falsch vermuten ließe, nicht ein für alle Mal die Hälfte einer brevis. Auch die brevis etwa wird ungleich in zwei semibreves unterteilt, von denen eine ein, die andere zwei Drittel der brevis erhält. Die brevis wird also nicht zwei-, sondern dreigeteilt – eine Teilung, die hier im übrigen den Namen tempus perfectum trägt, wogegen sie der Taktrhythmus nur als Sonderfall mittels Triolennotation erzwingen kann; und es entsteht damit kein Notenwert, der seine Dauer aufgrund gesetzmäßiger Ableitung erhielte, sondern es entstehen gleichsam körperliche Bestandteile der brevis, des größeren Wertes, die sich zu diesem jeweils wieder zusammenfügen.
Doch selbst wenn auf solche Weise festgelegt war, wie longa in breves und brevis in semibreves geteilt werden, geht es doch bei der mensuralen Notenteilung nicht einfach »immer so weiter«, sie lässt sich nicht wie im Taktrhythmus gesetzmäßig fortsetzen, zu immer kleineren, auf dieselbe Weise geteilten Werten. Für viele Jahrhunderte hatte es überhaupt nur longa und brevis gegeben, kleinere Werte erschienen zunächst lediglich im rhythmisch freien Laufwerk. Erst langsam hat die weitere Unterteilung der brevis zu einer selbständigen Notengattung geführt, eben der semibrevis, und es brauchte wiederum seine Zeit, bis sich aus dieser eine noch kleinere ergab.
Mit dem 13. Jahrhundert trat dann neben die Dreiteilung der brevis auch ihre mögliche Zweiteilung, tempus imperfectum genannt. Eine brevis war damit, »unvollkommen«, auch in zwei gleichlange semibreves zu teilen, so wie früher schon die longa den Wert von nur zwei statt drei breves haben konnte. Doch auch diese Zweiwertigkeit in der Notenteilung hat mit der des Taktrhythmus nichts zu tun. Jede weitere Unterteilung blieb noch immer auf die vollkommene, die Dreiteilung verpflichtet. Eine brevis aus zwei semibreves konnte nun also 1/2 + 1/2 geteilt werden; falls diese Teilung jedoch fortgeführt wurde, drittelte man die beiden Hälften wiederum und teilte eine brevis entweder so in drei semibreves auf: 3/6 + 2/6 + 1/6, oder aber so in vier: 2/6 + 1/6 + 2/6 + 1/6. Diese Art der Teilung konnte auch vorgeschrieben werden bei nur zwei semibreves, die zusammen eine brevis bilden sollten, und es kam zu 5/6 + 1/6. Eine semibrevis wie diese letztere, hier nur noch ein Fünftel der ersteren, wurde von den semibreves längerer Dauer dann namentlich als minima unterschieden und spaltete sich auf diese Weise schließlich als eigene Notengattung ab.
Die ars nova des Philippe de Vitry hat diese Verhältnisse im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts ratifiziert, indem sie nunmehr zwischen allen bestehenden Notengattungen, zwischen longa und brevis, brevis und semibrevis und schließlich semibrevis und minima dieselben Möglichkeiten der Teilung zuließ. Jeweils war es nun möglich, den größeren Notenwert nach der perfekten Proportion in drei zu teilen oder nach der imperfekten in zwei. Aber auch damit war es nicht endlich takt- und gesetzmäßig. Für jedes Musikstück wurde die Teilung eigens festgelegt, doch nicht etwa einheitlich von longa bis minima entweder auf perfekte oder auf imperfekte Teilung, sondern von jeder bestimmten Notengattung gesondert zu ihrer nächsten. Wurde etwa die longa perfekt in breves geteilt, also gedrittelt, so konnte die brevis unabhängig davon auch imperfekt in semibreves geteilt werden, also nach der Zweierteilung, und die semibrevis wieder perfekt, dreigeteilt, in minimae. Und selbst diese jeweilige Festlegung von Notengattung zu Notengattung konnte jeweils noch während des Verlaufs eines Musikstücks geändert werden, von der Dreierteilung auf Zweier- und von dieser wieder zurück auf Dreierteilung und so fort: Zeitverhältnisse, wie sie im Taktrhythmus unvorstellbar sind.
Die Zeitverhältnisse des mensuralen tactus müssen also uns unvorstellbar anmuten: unvorstellbar komplex. Unbegreiflich simpel dagegen die Art ihrer Notation, in der so vieles nicht explizit festgelegt wurde, sondern zusätzlichen Regeln anheim gegeben war: zum Beispiel noch, dass ein Notenwert einen vorangehenden oder nachfolgenden nächstgrößeren Wert »imperfizierte«, ihn zum zweizeitigen verkürzte, um selber dessen dritter Zeitteil zu werden; oder dass er, gegen solche Imperfektion, einen gleichen Notenwert zur Verdopplung seiner Dauer »alterierte«; oder dass andere Noten zwischen die zusammengehörigen Stücke eines unterteilten Notenwertes eintreten konnten, ohne deren Verbindung aufzuheben; und anderes mehr. All dies hat eine einfache Grundlage: jene ältere Rhythmuswahrnehmung, die den Zeitverlauf aus proportional aufeinander bezogenen Größen aufbaute. Aus ihr ergab sich das mensurale Rhythmusgebäude ganz natürlich, ihr wurde nicht schwer, es aufzuführen, ihr konnte es nicht anders sein als von den klarsten Maßen.
Nur mit unserer, der taktrhythmisch-gesetzmäßigen Rasterung der Zeit, verträgt es sich nicht: Vor deren Art von Einfachheit wird es kompliziert und unverständlich. Alle Merkmale mensuraler Rhythmik widerstreiten deren Gesetz und hätten unter ihm keinen Sinn: Es gäbe sie nicht, wenn dies Gesetz gewirkt hätte. Noch zur Zeit der mensuralen Rhythmik also, davon zeugt jedes einzelne ihrer Merkmale, kann es nicht wirksam gewesen sein; und so lange folglich kann es auch den Reflex der taktrhythmischen Synthesis noch nicht gegeben haben. Denn wo sie auftritt, da verwandelt sie den Rhythmus der Proportionen notwendig in einen Rhythmus nach Takten.
Epoche
Und das hat sie historisch getan.
An die Stelle der Mensuren hat sie das gesetzt, was seitdem den Rhythmus vorgibt: die Takte, die wir so durchaus für naturgegeben-ewig halten. Die lange Ewigkeit der material gebundenen Rhythmiken bricht erst ab mit dem Beginn der europäischen Neuzeit, verdrängt von dem, was zugleich mit dieser Neuzeit Epoche macht. Innerhalb kürzester Zeit setzen sich in Europa die taktrhythmischen gegen die mensuralen Bestimmungen durch und vernichten, was nur je bis dahin Rhythmus war. Die Rasterung nach leeren Zeiteinheiten mit ihrer Bindung an das Verhältnis von betont/unbetont, noch nie hatte es dergleichen gegeben, erst jetzt unterwerfen sie sich die Musik von den kleinsten Notenwerten bis hinauf zum Verlauf der Perioden. Den gesamten Rhythmus unterwerfen sie einem einzigen, mächtigen, ihrem Gesetz; und dieses schließt – so prinzipiell und so sehr auf diesen einen Schlag, auf den Taktschlag hin, wie es Georgiades beschrieben hat – sämtliche Charakteristika der älteren Verhältnisse aus. In der gesamten uns greifbaren Geschichte des Rhythmus reicht kein Epochenbruch so tief wie der, den das Aufkommen des Takts bewirkt.
Wie hat er sich vollzogen? Man wird erwarten: tumultuarisch, ein Einzug sozusagen mit Pauken und Trompeten – ein Gewitter von Traktaten, die für ihn streiten oder gegen ihn wettern, das Gegeneinander von Schulen, die eine Lanze brechen für das Neue oder erbittert gegen das moderne Zeug zu Felde ziehen, ein Kampf der Kirchen um die Rettung ihrer Musik vor diesem weltlichen Angriff, ein großer Reformator, der ihn trotzdem durchficht, die begeisterten Nachahmer, die ihm mit wehenden Fahnen nachfolgen, und die Legionen der Rückständigen, die sich irgendwann einmal doch geschlagen geben müssen.
So ließe sich wohl vermuten – wo immerhin ein gesamtes rhythmisches Prinzip bestritten und vernichtet wird durch ein anderes, unerhört neues. Doch wundersam: Nichts von alledem geschieht. Von diesem epochemachenden Umschlagen in den Taktrhythmus vernimmt man – nichts. Nichts wird davon geschrieen, nichts davon geredet, nichts davon notiert, es macht keinen Lärm, es vollzieht sich – soweit man davon in der Musik sprechen kann – lautlos: wie von selbst. Niemand ruft da zu etwas auf, niemand erkennt es, niemand weiß davon.
Buchstäblich: Niemand weiß von einer Neuerung – und das für sehr, sehr lange Zeit. Noch zwei Jahrhunderte später hatte Johann August Apel für seine blinde Überzeugung, »dass Rhythmus zu allen Zeiten einer sei« und »auf eignen, in der Natur gegründeten Principien beruhe«, das folgende schlagende Argument gegen die richtige historische Erkenntnis zur Hand:
Nimmt man an, die erste Musik sey taktlos, und mithin der Takt eine Erfindung der neuern Zeit gewesen, so hätte diese neue Erscheinung ohne allen Zweifel Epoche in der Geschichte der Musik gemacht. Eine ähnliche Erscheinung, die nur die Veränderung der herrschenden Taktart in der kirchlichen Musik betraf, macht wirklich Epoche und blieb unvergesslich. Es war die Einführung des Gregorischen Gesanges an die Stelle des Ambrosischen […]. Allein nirgends findet man in der Geschichte der Musik einen Zeitpunkt bemerkt, wo aus taktlosen Rhythmen ein Uebergang zu dem gleichmässigen Takt statt gefunden habe. Der Takt erschien also niemals als etwas neues, zuvor noch unerhörtes, und so darf man wohl auch für historisch ausgemacht annehmen, dass er von Anfang an den Rhythmen eigenthümlich gewesen sey.44
So durfte Apel für ausgemacht annehmen, weil bis zu seiner Zeit tatsächlich noch immer niemand wusste, dass da überhaupt ein »Uebergang« stattgefunden hatte. Sehr wohl wusste man beispielsweise von »der Einführung des Gregorischen Gesanges an die Stelle des Ambrosischen« und durfte von ihr rühmen, sie sei unvergesslich geblieben, habe Epoche gemacht. Auch geht Apel nicht darin fehl, dass ein Übergang zum Taktrhythmus, sollte es ihn denn gegeben haben, tiefer reichen muss, als es lediglich die rhythmischen Unterschiede zwischen ambrosianischem und gregorianischem Gesang tun – Unterschiede, die sich Apel falsch-zirkelschlüssig nicht anders als solche der »Taktart«, also innerhalb des Taktrhythmus vorzustellen vermag. Verständlich deshalb das Argumentum a potiori, wenn schon dies Geringere Epoche gemacht hat, müsste jenes Tiefergehende es umso eher gemacht haben. Weil sich aber eine Nachricht davon »nirgends findet«, so darf Apel schließen, der Taktrhythmus wäre niemals historisch neu gewesen, es hätte ihn schon immer gegeben und alles, was je Rhythmus war, könnte allenfalls »Veränderungen der herrschenden Taktart« gekannt haben, aber niemals etwas anderes als Takte.
Merkwürdiger Fall: Nichts also ist überliefert von einer Neuerung, einer Reform oder gar einer glänzenden »Erfindung« – als die sich Apel das Aufkommen des Taktrhythmus einzig vorstellen kann. Nicht die Zeit des Umschlags selbst weiß etwas davon, das 17. Jahrhundert, nicht später das 18. und nicht das 19. Jahrhundert. Erst im zwanzigsten gelingt es endlich, die Vorgänge, deren Bedeutung zu der Zeit, da sie sich vollziehen, niemandem bewusst wird, nachträglich zu rekonstruieren – an Hand der überlieferten Musik selbst:
In der Geschichte der europäischen Rhythmik beanspruchen die Liederbücher von Giovanni Giacomo Gastoldi (1591), Thomas Morley (1595) und Hans Leo Haßler (1596) einen besonderen Rang. […] Um welchen Tanz handelt es sich dort? Gastoldi nennt ihn ohne nähere Bezeichnung schlicht Balletto, Morley nach seinem Vorbild Ballett. Auch bei Haßler fehlt ein Name, denn es ist für die Zeitgenossen einfach der Tanz, für Ausländer wohl die Allemande. All das war um 1600 nichts Neues. Neu kann also nur die musikalische Behandlung gewesen sein. Und hier beobachtet man in der Tat etwas, was bisher nicht die Regel war: einen Melodieaufbau nur mit Hilfe von Zweitakt- und Viertaktgruppen. […] Grundsätzlich fällt auf den Taktanfang der Schritt des einen Fußes, auf die Taktmitte das Nachziehen des anderen. Die beiden Stillstände dazwischen sind »unbetont«. Es gibt nun die europäische 4/4-Takt-Ordnung: Hauptakzent auf 1, Nebenakzent auf 3, Tonlosigkeit auf 2 und 4. Wir haben in der Tanzmusik als neues Phänomen den Akzentstufentakt.45
Dies der Name, den Heinrich Besseler für den neuzeitlichen Takt gefunden hat, für den Takt nach dem potenzierten Hervorhebungsverhältnis: 1 2 3 4.
Und der ist damals ein »neues Phänomen«. Getanzt hatte man auch früher, früher auch schon die Füße gesetzt, aber jetzt wird dem Setzen der Füße mit einem Mal das Raster aus betont/unbetont unterlegt. Es liegt nicht einfach »ursprünglich« in den Füßen, sondern jetzt erst wird es in die Schritte der Füße gelegt, jetzt zum ersten Mal auch als dieses Rhythmische empfunden. An ein einfaches tok tok wie dasjenige der Schritte heftet sich der Reflex des betont/unbetont eben besonders leicht, deshalb tut er seine aufkommende Wirkung zu allererst am Tanz. Doch das ist nur der Anfang.
Der hiermit umschriebene Akzentstufentakt erscheint seit 1591 in der Tanzmusik. Aber nicht nur dort. Es gehört zu den Merkmalen des Stilwandels, dass Europa nun von der Mensurgruppe zum Takt übergeht. Er hat nicht überall sofort die abgestufte, mannigfache Form wie bei der Tanzmusik, sondern als Hauptmerkmal nur den regelmäßig wiederkehrenden Druckakzent zu Anfang. Im Takt verkörpert sich ein neues Ordnungsprinzip der Musik. Für die vokale Monodie der Italiener seit 1600 hat das die [sc. moderne] Stiluntersuchung ans Licht gebracht. Es gilt vor allem in der Instrumentalmusik, deren Schwerpunkt in Deutschland und England lag. Auch in der Kirche herrscht nun der Taktrhythmus, wie man aus dem Spätwerk des 1613 verstorbenen Giovanni Gabrieli schließen darf. Sogar der Palestrinastil wird davon erfasst, denn Monteverdis Messe von 1610 im stile antico hält zwar äußerlich an der alten Technik fest, erfüllt sie jedoch mit dem Taktrhythmus des 17. Jahrhunderts.46
Innerhalb so überaus kurzer Zeit durchdringt der Taktrhythmus die gesamte europäische Musik. Das aber ist kein bloßer Stilwandel, wie Besseler meint, kein Wandel, der sich auf der Ebene des Stils hielte, auch nicht bloße Weiterentwicklung etwa der Komplexität in den Mensuren, nicht die Einführung einer novissima ars anstelle der ars nova. Mit dem Hinzutreten der Akzentstufen, mit dem nunmehr sich vorgebenden Gesetz der »Zeitgliederung« nach betont/unbetont vollzieht sich vielmehr jener tiefe prinzipielle Bruch historisch, den Georgiades der Sache nach beschrieben hat.
Und doch vollzieht er sich gleichsam lautlos, geräuschlos, unbemerkt. Dieses Neue, wie radikal es auch mit dem Alten brechen wird, es kommt auf, als wäre es nichts Neues, setzt sich durch, ohne dass es von jemandem durchgesetzt würde, dringt ein in die Musik, ohne dass sich die Musiker darüber Rechenschaft ablegten. Ihrem Bewusstsein nach hält sich noch immer in einem stile antico, was sie spielen, und schon aber gehorcht es dem neuen Gesetz. Dies setzt sich durch, selbst wo man ihm Widerstand leistet – hilflosen Widerstand.
Der Gruppentakt, der stets die gleiche Zahl von Notenwerten zusammenfasst und den regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Taktteilen aufstellt, setzte sich auch in der vokalen Literatur durch. Anfangs suchte man seinem Einfluss durch Fortlassen der Taktstriche oder durch kleine Orientierungsstriche in den Vokalstimmen zu begegnen, doch führten die anwachsenden Schwierigkeiten, die sich bei der Aufführung für die Sänger ergaben, bald zur Abgrenzung der Notenwerte in allen Stimmen, zur Einführung der Taktstriche in die Vokalstimmen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist diese Umbildung des Notenbildes in der Chor- und Sololiteratur zum Abschluss gekommen. Wir finden in den Stimmen das moderne Notierungsbild und in der Literatur eine Rhythmik, die nicht mehr frei aus der durch Taktzeichen und Taktschlag [sc. des alten tactus] geregelten Dauer der Notenwerte die Musik aufbaut, sondern die mit der Metrik, mit dem Einordnen der Schwerpunkte in den Gruppentakt rechnet, die akzentuierende Silben nach dem Akzent oder Taktstrich einstellt.47
Ein Einordnen, das notwendig ein »aktiv-synthetisches Hören« voraussetzt, wie Besseler sehr richtig erkennt: eben jene unwillkürliche, aktive Synthesis in den Hörenden, die taktrhythmische Synthesis, die es vorher, ablesbar am Verlauf der älteren Musik, nicht gegeben hatte – nicht gegeben haben kann. Für die Zeit vor Aufkommen des neuzeitlichen Takts gilt:
Wir beobachten hier kein aktiv-synthetisches Mitgehen, sondern ruhiges, mehr passives Lauschen: das Hinnehmen der Musik in ihrer Objektivität. Dieser Gegenpol zum neuzeitlich-aktiven Musikhören sei als »Vernehmen« bezeichnet. 48
Ein schöner Name für jene ältere Form rhythmischer Wahrnehmung. Diese aber ist es insgesamt, es ist dies »Vernehmen«, was nun abgelöst wird, nicht bloß ein musikalischer Stil. Das Hören selbst hat sich verändert, und das auf eine sehr knapp anzugebende Weise: dadurch, dass in ihm nun jene Synthesis aktiv wird. Damals beginnt sie zu wirken. Sie, die es bis dahin nicht gegeben hatte, beginnt damals zum ersten Mal in den Subjekten wirksam zu werden.