Kitabı oku: «Skyle», sayfa 2

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• 4 •

Kajin!«

»Oh, Kajin! Willkommen!«

»Kajin! Ich habe frische Hang-Wurzeln da! Für dich mache ich einen guten Preis!«

Lächelnd winkte Lynx den Händlern zu. »Danke, heute nicht! Ich schicke nächstes Mal eines der Mädchen vorbei!«, rief sie über den Marktlärm hinweg.

»Was? Das ist aber schade! So ein hübsches junges Ding wie du hat doch sicher ein paar Cœurs für einen alten Mann wie mich übrig. Außerdem haben die Wurzeln wirklich hervorragende Qualität!«

Sie schenkte ihm ein Lächeln und sah davon ab, den grauhaarigen Bauern zu berichtigen. »Danke, Gustave, aber diese Woche nicht. Wenn du allerdings Serro da hast, nehme ich gerne etwas.«

Gustave verzog das faltige, braun gebrannte Gesicht. »Tut mir leid, Liebes, aber damit kann ich nicht dienen.«

»Aber ich habe Serro!«, rief der Händler neben ihnen, doch Gustave tat seine Einmischung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.

Lynx bemerkte die tiefen Sorgenfalten auf der Stirn des Mannes. Gustave wirkte erschöpft. Sie wechselte einen kurzen Blick mit Sakura, die neben ihr ungeduldig auf den Zehen wippte. Auf ihr Kopfnicken hin verschwand das Mädchen, um einige weitere Besorgungen von der Liste zu machen, solange Lynx mit dem Bauern sprach.

»Wie geht es dir, Gustave?«

»Gut, gut.«

»Was macht deine Familie?«, fragte Lynx und setzte das Barkeepergesicht auf, mit dem sie selbst die schlecht gelauntesten Gäste zum Reden brachte.

»Meiner Frau geht es gut, sie ist so resolut wie immer.«

Lynx, die seine Gattin kannte, lächelte. »Das freut mich zu hören! Und deine Kinder?«

Ein Schatten legte sich auf Gustaves Gesicht. »Mein ältester Sohn und mein Enkel haben sich die Wolkengrippe geholt.« Er spuckte aus. »Dieser verdammte Regen!«

Lynx' Blick wanderte unwillkürlich zum strahlend blauen Himmel. Er war eine Ausnahme. In Autonne Gale und auf den umliegenden Inseln hatte es seit Wochen beinahe ununterbrochen geregnet, und zwar so viel, dass es bereits schwierig wurde, auf dem Markt die Vorräte für den White Dragon zu besorgen.

»Ich hatte schon fast vergessen, wie blauer Himmel aussieht«, sagte sie zu Gustave.

Dieser nickte. »Daran sind die Alchemisten schuld, darauf wette ich meinen Nurek-Karren!«

Der Händler vom Nachbarstand mischte sich wieder ein. »Verbreitest du schon wieder deine Verschwörungstheorien, alter Mann? Hast du nichts Besseres zu tun, als junge Frauen damit zu belästigen?« Er verzog den Mund zu einem abfälligen Lächeln. »Wie wäre es, wenn du stattdessen versuchen würdest, deine Waren loszuwerden?« Er hielt inne. »Ach, nein, ich hatte vergessen: Du kannst ja nicht einmal die einfachsten Wünsche deiner Kunden erfüllen!«

Lynx schaute den Mann an. »Wenigstens ist Gustaves Verhalten tadellos. Und glücklicherweise gibt es noch andere Stände, an denen ich Serro kaufen kann.«

Der Händler wurde blass. ›Kajin‹, wie man sie hier nannte, war bei den Händlern von Autonne Gale wohlbekannt. Es sich mit der Besitzerin des wohl berühmtesten Wirtshauses der Stadt zu verscherzen, ging niemals gut aus. Lynx ignorierte den Mann geflissentlich und wandte sich wieder Gustave zu.

»Nimm es Benoit nicht übel, Kajin«, bat Gustave leise. »Er meint es nicht so. Er hat bei der Standvergabe für das nächste Jahr ein schlechtes Los gezogen.«

Lynx schnaubte. »Das hätte er sich vorher überlegen sollen«, entgegnete sie, dann wurde ihr Gesichtsausdruck milder. »Ich habe ein bewährtes Hausmittel gegen die Wolkengrippe. Ich werde eines der Mädchen nachher damit vorbeischicken.«

Gustave schüttelte den Kopf. »Das kann ich unmöglich annehmen, Kajin.«

»Oh, ich überlasse es dir nicht umsonst! Wenn es wirkt, erwarte ich, dass du mir für den Rest des Jahres einen guten Preis für deine Hang-Wurzeln machst.«

»In Ordnung.« Gustave sah sie unsicher an und sie lächelte beruhigend. »Nur Hang-Wurzeln, mehr nicht. Du schuldest mir keinen Gefallen.«

Erleichterung huschte über die Züge des alten Mannes.

»Bis bald, Gustave! Lass mich wissen, ob das Mittel gewirkt hat.« Damit drehte sie sich um und setzte ihren Weg durch das bunte Gewimmel des Marktes fort.

Jetzt im Frühherbst herrschte im Marktviertel von Gale lebhafte Betriebsamkeit. Händler aus allen Teilen des Herbstreiches waren zusammengekommen, um ihre Waren feilzubieten. Es wurde angepriesen, gefeilscht und geplaudert, und wie immer blieben die Leute stehen, um Lynx Platz zu machen. Der Preis für die Popularität des White Dragon war ihre Anonymität, und Lynx war bereit, ihn zu zahlen. Solange niemand ihren wahren Namen kannte, war sie sicher.

Sie schlenderte zu der Aussichtsplattform hinüber, die über die Dächer der hangabwärts liegenden Häuser gebaut worden war und den Marktplatz zur Meerseite begrenzte. Umgeben von den Gerüchen der Garküchen und Gewürzhändler lehnte sie sich an das Geländer und genoss für einen Augenblick die Sonnenstrahlen auf dem Gesicht. Ihr Blick wanderte über die Häuserdächer zum Hafen. In den Strahlen der Zwillingssonnen kreuzten gut ein Dutzend Luftschiffe auf dem Wolkenmeer vor der Stadt. Einige von ihnen trugen das Zeichen des Herbstkönigs auf ihren Segeln, andere die Wappen der großen Handelshäuser, und eines hatte die hellgrünen Segel eines Marineschiffes aus dem Frühlingsreich. Die kleineren, wendigeren Gleiter schossen auf den Luftströmungen über der Stadt hin und her und segelten weiter ins Landesinnere. Eine Handvoll Katamarane nutzte die günstigen Winde, um mit geblähten Segeln die Stadt rasch hinter sich zu lassen.

Sie verlor sich für eine Weile im Anblick des Wolkenmeeres und der Schiffe. Erst Sakura holte sie wieder in die Gegenwart zurück.

»Kajin! Ich habe alles besorgt, was auf der Liste stand!« Sie strahlte Lynx an, Grübchen auf den Wangen.

Lynx nickte. »Vielen Dank. Dann fehlen jetzt nur noch die Gewürze, und dann können wir zum Dragon zurück.«

Sakura nickte begeistert. »Darf ich mitkommen?«

»In Ordnung. Wie wäre es, wenn du die Auswahl und das Feilschen übernimmst?«

»Klar, überlass das mir!« Lynx senkte zustimmend den Kopf und folgte Sakura zwischen den Ständen der Gewürzhändler hindurch.

Es dauerte nicht lange, bis Sakura einen Stand gefunden hatte, an dem sie einkaufen wollte. Es war nicht ihr üblicher Händler, aber Lynx bemerkte zu ihrer Zufriedenheit, dass Sakura die Gewürze nach ihrer hohen Qualität und nicht nach dem niedrigen Preis ausgewählt hatte. Preise konnten verhandelt werden, Qualität nicht. Sakura hatte bereits viel gelernt.

Lynx überließ ihrem jungen Schützling das Feilschen und hielt sich im Hintergrund. Der Blick des Händlers wanderte immer wieder zu ihr, als würde sie ihn magnetisch anziehen. Lynx schwieg und ließ ihr Lächeln und den Blick aus ihren bernsteinfarbenen Augen wirken. Schließlich wurde der Händler nervös und ließ sich von Sakura zu einem Preis überreden, der weit unter dem Wert seiner Ware lag. Nachdem er eingewilligt hatte, konnte Sakura ihren Stolz nicht länger verbergen.

Lynx trat vor, um die Säckchen mit den Gewürzen zu bezahlen. Der Mann schluckte vernehmlich. »Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen Geschäfte zu machen!«, rang er sich schließlich ab.

Lynx' Lächeln wurde breiter. »Gleichfalls!«, gab sie zurück. Sie zahlte, verneigte sich und dankte dem Verkäufer für das Angebot, seinen Laufburschen mit der Ware zum White Dragon zu schicken. Mit einer zufriedenen Sakura an ihrer Seite machte sich Lynx auf den Heimweg.

»Dir kann keiner widerstehen, oder, Kajin?«, fragte Sakura fröhlich.

Lynx wiegte den Kopf. »Nicht viele«, stimmte sie zu.

Sakura kicherte und hüpfte zwei Schritte voraus, ihre vollen Einkaufstaschen schlenkernd. Eines Tages würde sie eine ebenso gute Barkeeperin wie Mitsu sein. Lynx freute sich darüber, wie sehr sich die Sakura von heute von dem Mädchen von vor zwei Jahren unterschied. Damals hatte sie Sakura vollkommen ausgehungert und vor Dreck starrend dabei erwischt, wie sie ihr die Börse stehlen wollte. Sie hatte das Mädchen dazu überredet, mit ihr zu kommen und im White Dragon für sie zu arbeiten.

Als sie das dreistöckige Gebäude aus hellem Stein erreichten, erwartete Mitsu sie bereits. Auch sie hatte sich in den vier Jahren, in denen sie im White Dragon arbeitete, sehr verändert. Sie war nicht länger eine der gefallenen Schwestern aus den Vergnügungsvierteln von Gale, sondern eine selbstbewusste junge Frau, die stolz die Uniform des Dragons trug.

Lynx begrüßte sie, woraufhin Mitsu sich vor ihr verbeugte.

»Willkommen zurück, Kajin«, sagte sie und nahm Lynx die Taschen mit den Einkäufen ab. Dann verschwand sie, gefolgt von Sakura, durch die Tür des Wirtshauses.

Lynx sah den beiden nach. Kajin … Diesen Namen hatte ihr vor langer Zeit ein Fremder gegeben. Er war ein Reisender aus dem Norden gewesen, der sich zum Ziel gemacht hatte, jeder der Himmelsinseln in allen vier Reichen einen Besuch abzustatten. Seither war es bei diesem Namen geblieben. Kajin. Es war besser, wenn die Leute nicht allzu viel über sie wussten.

Sie wandte sich um und betrachtete die Straße vor dem White Dragon. Das Gewimmel aus Handkarren, schweren Nurek-Wagen, Menschen und Moosvolk war kaum zu überschauen. Ihr Wirtshaus lag im Herzen der Stadt, an einer belebten Straße zwischen dem Tiegel und dem hügelwärts gelegenen Villenviertel. Hier sah man die Anzeichen des Elends nur, wenn man genau hinschaute: die beiden Bettlerkinder, die sich im Schatten einer Gasse herumdrückten. Die junge Frau mit dem schmalen, ängstlichen Gesicht, die ihre dünne Börse mit beiden Händen umklammerte, als sie vorbeieilte. Die Patrouille der Herbstsoldaten in ihren braunen Uniformen, die in einiger Entfernung vorübermarschierte. Der abblätternde Putz an der Häuserfront gegenüber. Das bis zur Unleserlichkeit verwitterte Schild über der Ladentür des Buchhändlers nebenan. Schleichend hatte sich der Verfall in der Stadt ausgebreitet. Lynx wusste, dass er auf lange Sicht nicht mehr aufzuhalten war.

Mit einem Seufzen drehte sie sich um und betrat den White Dragon. Sie wünschte sich, sie könnte mehr tun.

Leise fiel die Eingangstür hinter ihr ins Schloss.

• 5 •

Mit ausdrucksloser Miene saß Hawk auf einem der Sitzpolster im Senatssaal und lauschte den Debatten. Sein Blick glitt durch die Arkadenbögen nach draußen, über das Häusermeer von Estate Phoenix. Die dunklen Augen der Fensteröffnungen spähten im Sonnenlicht misstrauisch aus den weiß getünchten Wänden unter den hellen Lehmdächern. Alle Gebäude waren zwei Stockwerke hoch, lediglich der grauweiße Feuerturm durchbrach das gleichförmige Bild. Hinter den letzten Gebäuden begann das schmutzige Gelbbraun der Staubwüste, die sich bis zum Horizont erstreckte, wo sie mit dem flirrend hellen Himmel verschmolz.

Hawk ließ seine Augen kurz in der Ferne ruhen, dann unterdrückte er ein Seufzen und lenkte seine Aufmerksamkeit in den Senatssaal zurück. Seit Stunden diskutierte der Sommerrat über Nichtigkeiten. Kaum zu glauben, in wie viele Worte so wenig Inhalt gekleidet werden konnte. Die zwölf Senatsmitglieder, allesamt Frauen, saßen auf dicken Sitzpolstern im Kreis um einen niedrigen Tisch, umgeben von der üppigen Pracht des Palastes. Hawk hatte es vor langer Zeit aufgegeben, an die Verschwendung innerhalb der Palastmauern, ja, in ganz Estate Phoenix einen Gedanken zu vergeuden. Er sorgte dafür, dass das Militärbudget nicht zu stark gekürzt wurde und an den richtigen Stellen ankam. Alles andere kümmerte ihn wenig.

Senatorin Siham, eine strenge, verbitterte Frau, war seit einigen Jahren im Rat für das Militär verantwortlich. Sie scherte sich nicht um Finanzen, ein Umstand, der Hawk in der Vergangenheit bereits einige Male zugutegekommen war. So konnte er die Gelder verteilen, wie es am besten in seine Pläne passte. Deshalb legte er keinen Wert darauf, dies an die große Glocke zu hängen. Es war am sichersten, wenn die Senatorinnen weiterhin den Eindruck hatten, dass sie in allen Bereichen die ungeteilte Macht besaßen. Selbstzufrieden und abgeschirmt saßen sie in ihrem Palast und spannen fruchtlose Intrigen gegen die Frühlingskönigin. Solange ihre größte Sorge war, der Herrscherin gleichzeitig den Hof zu machen, um sie nicht zu verärgern, hatte Hawk alle Freiheiten, die er brauchte.

Das Läuten der Stundenglocke erlöste ihn von seiner Langeweile.

Er beugte sich zu Siham hinüber. »Senatorin«, sagte er leise.

Siham nickte unwirsch. »Geh, ich komme später nach.«

Hawk zwang sich, keine Miene zu verziehen. Bevor Siham ihn zur Auswahl der Rekruten begleitete, würden sich die Menschen mit den Rjtak verbrüdern und ein Fest der Liebe feiern.

»Ihr habt den Bericht bis morgen«, murmelte er, ehe er sich erhob und sich verbeugte. »Wenn Ihr mich entschuldigt, werte Senatorinnen, ich empfehle mich.«

»Aber Hawk!« Senatorin Danas Gesicht verriet kaum verhohlenen Neid darüber, dass Hawk dem Senatssaal entfliehen konnte, und echte Verzweiflung. »Du kannst uns doch nicht an diesem entscheidenden Punkt verlassen!« Die übrigen Senatorinnen hatten die Debatte weitergeführt und seine Verabschiedung nur mit einem Kopfnicken zur Kenntnis genommen.

Hawk verbeugte sich erneut. »Es betrübt mich zutiefst, dass ich Euch verlassen muss, Senatorin Dana, aber ich darf meine anderen Verpflichtungen nicht vernachlässigen.« Mit einem letzten Nicken in die Runde verließ er den Saal, erleichtert, dem Geschwafel endlich zu entkommen.

»Sayed Hawk«, sprach ihn eine dünne Stimme von der Seite an. Ein Sklavenjunge reichte ihm den weißen hochgeschlossenen Militärmantel. Hawk schlüpfte hinein und knöpfte ihn zu. Dabei strich er über die eingestickten Doppelsonnen am Kragenaufschlag, das Wappen des Sommerrats. Dann nahm er dem geduldig wartenden Jungen auch seinen weißen Langbogen ab. Er nickte ihm zum Dank zu, bevor er zu seinem Rekrutierungsoffizier aufschloss, der einige Meter den Flur hinunter auf ihn wartete. Auf dem Weg zog er seine schwarze, verspiegelte Sonnenbrille aus der Manteltasche und ließ seinen kobaltblauen Augen dahinter verschwinden.

»Wie viele?«, fragte er und ließ sich die Rekrutenliste reichen.

»Vierunddreißig, Sir.«

Hawk überflog die Liste, auf der Namen, Alter und Herkunft der neuen Rekruten standen, ehe er sie zurückreichte. Er hatte das alte, fehlerbehaftete Bewertungssystem abgeschafft. Stattdessen wohnte er als oberster Befehlshaber der Truppen alle zwei Monate dem Auswahlverfahren in Phoenix bei. Es war eine willkommene Abwechslung.

Sie traten hinaus ins gleißende Licht der Zwillingssonnen. Hawks Hand glitt unbewusst zu dem Rjtak-Talwar an seinem Gürtel. Manchmal ließ er sich auf einen Trainingskampf mit seinen Soldaten ein. Nach den endlosen Debatten des Rates hoffte er beinahe, dass ihn heute jemand um einen Kampf bat.

Auf dem Trainingsplatz hinter den Baracken angekommen, sah er, dass die Rekruten bereits in Paare eingeteilt und mit Holzwaffen ausgestattet worden waren. Als er an ihnen vorbeiging, verstummten ihre Gespräche und machten respektvoller Stille Platz. Mit verschränkten Armen stellte er sich zu seinen Ausbildern unter das Sonnensegel. Ein Windstoß fuhr ihm durchs schwarze Haar und brachte den Geruch nach Wüste und Hitze mit sich und die tausend Düfte des Bazaars.

Hawk nickte seinem Rekrutierungsoffizier zu. »Beginnt.«

• 6 •

Es war später Nachmittag und die Zwillingssonnen verbargen sich hinter einem milchigen Schleier, als Raven zum Headhunter-Schoner zurückkehrte. Er schwang sich über die Reling und ließ den Leinensack auf die frisch gescheuerten Planken fallen. Dann streckte er sich und gähnte.

Dröhnende Schritte ertönten hinter ihm. Ohne sich umzudrehen wusste Raven, dass Kingston stinksauer war.

»Raven, du verfluchter Dreckskerl! Wo bist du gewesen?«

Raven grinste den Kapitän des Schoners an, der sich vor ihm aufgebaut hatte. »Jagen.«

Kingstons buschige Augenbrauen waren zornig zusammengezogen. »Ich habe gesagt, bei Sonnenaufgang laufen wir aus!«, blaffte er. »Bis dahin hat jeder zurück an Bord zu sein!«

»Gleiches Recht für alle Besatzungsmitglieder«, mischte sich Needles, seine Vize, ein.

»Jetzt hängen wir in diesem verdammten Hafen fest, bis die Westwinde wieder einsetzen!«, polterte Kingston.

Beiläufig zog Raven eine Zigarette aus seiner Tasche. Er schnippte und ein tanzendes Flämmchen aus Dämonenfeuer erschien auf seiner Fingerspitze, mit dem er seine Zigarette entzündete. Er stieß mit der Stiefelspitze gegen den Leinensack. »Such dir zwei Köpfe aus«, sagte er.

Inzwischen waren einige Besatzungsmitglieder nähergekommen, die Raven mit finsteren Blicken bedachten. Raven ignorierte sie, seine Zigarette zwischen den Lippen, während er eine weitere drehte. Needles bückte sich und entknotete den Strick, mit dem Raven den Sack verschlossen hatte. Sie blickte hinein und verzog das Gesicht, zu gleichen Teilen angewidert und anerkennend.

Kingston trat neben sie. Er zog den Sack ein Stück weiter auf, ohne die feuchten Blutflecken auf dem durchnässten Material zu berühren.

Nach einem Blick hinein sah er Raven überrascht an. »Die waren gestern unter den Neubetitelten. Wo hast du die gefunden?«

»Weiter östlich«, antwortete Raven vage und reichte Kingston die frisch gedrehte Zigarette.

Der Kapitän nahm sie mit einem Grunzen entgegen. »Das ändert nichts daran, dass wir deinetwegen mehrere Tage hier festsitzen! Es gibt auf diesem Schiff Regeln, an die du dich genauso zu halten hast wie alle anderen!«

Raven sah Kingston mit finsterer Miene an. »Dann nimm von mir aus drei! Ich brauche eh dein Siegel für zwei der anderen.« Er konnte förmlich sehen, wie Kingston die Summe der Kopfgelder überschlug und die Anteile durchrechnete. Raven ließ das Dämonenfeuer auf seiner Fingerspitze aufflammen und hielt es Kingston hin. Mit einem abfälligen Schnauben entzündete Kingston seine Zigarette daran.

Schließlich nickte der Kapitän. »Das war das letzte Mal, Raven«, knurrte er, bevor er zur Gangway davonging.

»Ja, ja!«, entgegnete Raven und verschnürte mit schnellen Handgriffen den blutdurchtränkten Sack. Er machte sich nicht die Mühe, seine Selbstzufriedenheit zu verbergen, als er ihn sich über die Schulter warf und Kingston vom Schiff zum Marinestützpunkt folgte.

• 7 •

Mit dem Handrücken wischte sich Wolf den Schweiß von der Stirn. Er blickte am Schiffsrumpf nach oben.

»Versucht noch mal, es zu drehen!«, rief er hinauf.

»In Ordnung!«, kam prompt die Antwort, und nach wenigen Augenblicken bewegte sich neben ihm das schmale Rudersegel.

Wolf setzte sich zufrieden auf die Fersen zurück. Neben ihm klopften sich zwei der Arbeiter, die ihm in den letzten Stunden zur Hand gegangen waren, gegenseitig auf die Schultern.

Vom Deck des Schiffes tönte Applaus zu ihnen herunter. »Varg, du hast es geschafft! Du bist der Größte!«

Wolf lächelte verlegen ob des Kompliments. »Na, noch wissen wir nicht, ob es auch in den Luftströmungen funktioniert.«

»Natürlich funktioniert es! Deine Konstruktionen funktionieren immer!« Neben ihm hatte sich gerade Jacques, einer der Vorarbeiter, abgeseilt. »Wirklich, Varg! Du bist ein Genie, was Schiffsbau angeht. Ich verstehe nicht, warum du die Beförderungen, die dir der Chef anbietet, immer ablehnst. Du könntest inzwischen längst in Humming Waters deine eigene Werft leiten!«

Wolf winkte ab. »Ich habe dir doch schon erklärt, warum ich nicht will. Ich bin glücklich mit dieser Stelle, ich will nirgendwo anders arbeiten.« Wäre es nur nach seinem Verdienst gegangen, hätte Wolf die nächsten Jahrzehnte nicht mehr arbeiten müssen. »Mir gefällt es viel besser, selbst Schiffe zu bauen, als nur die Pläne dafür zu entwerfen.« Er rümpfte die Nase. »Zu viel Papierkram.«

Jacques schüttelte den Kopf. »Ich werde aus dir nicht schlau, Varg«, stellte er fest und fuhr sich mit der Hand durch den braunen Vollbart. »Aber wie auch immer: gute Arbeit! Dieses Ruder hat uns wirklich Kopfzerbrechen bereitet.« Er lachte dröhnend und verschwand mit einem Winken im angrenzenden Trockendock.

Wolf blickte ihm nach. Wie gut, dass niemand von den Handwerkern auf der Werft wusste, was die wahren Beweggründe für Wolfs konsequente Ablehnung der Führungspositionen waren, die ihm immer häufiger angeboten wurden.

Ferry, ein begabter Geselle mit dunkelblondem Haar, kam auf Wolf zu. Wolf mochte den Burschen, der stets zuverlässig und gewissenhaft seine Arbeit erledigte und ihm häufig eine Thermoskanne mit Kaffee mitbrachte. Wolf versuchte im Gegenzug, dem jungen Handwerker so viel wie möglich beizubringen. Er erkannte echtes Talent, wenn er welches sah.

Ferry grinste von einem Ohr zum anderen. »Mann, Varg, das war einfach unglaublich. Eine Meisterleistung! Weißt du, was ich glaube?«, fragte er. »Ich glaube, die Zeit ist reif, dass wir mal zusammen feiern gehen. Immerhin arbeiten wir schon seit gut zwei Jahren gemeinsam auf der Werft.«

Wolf rieb sich über den Nasenrücken. »Ich weiß nicht so recht …«

Zwei weitere Schiffsbauer hatten sich zu ihnen gesellt. »Komm schon, hab dich nicht so!«

Ferry sah Wolf fragend an. »Was meinst du? Heute Abend im White Dragon?«

Wolf runzelte die Stirn. »Der White Dragon an der oberen Hauptstraße? Da war ich noch nie.«

Die drei Männer starrten ihn an. »Du kennst den Dragon nicht?«, fragte einer. »Mann, diese Bar ist stadtbekannt!«

»Da muss man gewesen sein. Allein wegen der Aussicht.«

»Die Aussicht?« Wolf zog die Augenbrauen in die Höhe.

Ferry klopfte ihm kameradschatflich auf den Rücken. »Komm heute Abend einfach mit.«

Nach Feierabend zogen sie als bunter, lärmender Haufen durch die Straßen von Autonne Gale zum White Dragon. Wolf fühlte sich ein wenig unbehaglich. Er hatte nichts gegen die Schiffsbauer, aber normalerweise vermied er es, außerhalb der Werft Zeit ihnen zu verbringen. Heute Abend konnte er sich allerdings nicht einfach davonstehlen, deswegen beschloss er, das Beste daraus zu machen. Als sie den White Dragon erreichten, war seine Laune genauso ausgelassen wie die seiner Kollegen.

Ferry hatte von einem Freund einen Tisch reservieren lassen, was angesichts der vielen Gäste, die sich auf den beiden Etagen des Wirtshauses tummelten, ein weiser Entschluss gewesen war. Doch obwohl der Lärmpegel hoch war, gab es scheinbar keinen Streit, keine Handgemenge. Stimmen erfüllten die Luft, zusammen mit dem Geruch nach würzigem Bier und gebratenem Yurainfleisch. Wolf lief das Wasser im Munde zusammen.

»Du siehst ziemlich hungrig aus«, sagte Ferry mitleidig und sprach eine der vorbeieilenden Kellnerinnen an. »Hey, Sakura! Unser Varg ist zum ersten Mal da. Meinst du, du kannst ihm einen eurer Spezialteller organisieren?«

Sakura musterte Wolf von den staubigen Stiefeln und der ölverschmierten Arbeitskleidung bis zum langen Haar und der Strähne mit den eingeflochtenen Silberperlen.

»Natürlich! Ich sage sofort Mitsu Bescheid! Sonst bei euch das Übliche?«

Die Schiffsbauer nickten einhellig.

»In Ordnung.« Sie eilte davon.

Ferry rief ihr nach: »Grüß Mitsu von mir, ja?« Die Schiffsbauer am Tisch brachen in Gelächter aus.

»Werde ich!«, rief Sakura Ferry über den Lärm hinweg zu.

Dieser drehte sich mit zufriedener Miene wieder zu Wolf um. »Mitsu ist eine der Barkeeperinnen«, erklärte er. »Eine süße«, fügte er nach einer Pause hinzu.

Eine der wenigen Frauen in der Truppe, ein Moosweiblein, gab Wolf einen Rippenstoß. »Ferry hat schon seit einer halben Ewigkeit ein Auge auf sie geworfen, aber er hat sich bisher nicht getraut, sie zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen will!«

Ferry sah die Sprecherin halb verärgert, halb belustigt an. »Ach, halt doch den Mund.«

Wolf musterte seine flachsenden Kollegen aufmerksam. Es schien ein üblicher Schlagabtausch zu sein. Dann spähte Ferry zur Bar hinüber. »Ich werde dir jetzt die Aussicht zeigen, von der wir sprachen.«

Wolf zögerte, als sein Magen laut knurrend protestierte. »Aber unser Essen …«

Ferry winkte ab. »Bei dem Betrieb heute Abend dauert das sowieso noch. Komm mit!«

Er stand auf. Wolf folgte ihm, verwundert darüber, dass Ferry zielstrebig auf die Rückwand des Schankraums zuhielt. An dem langen, halbhohen Tresen blieb Ferry stehen und stützte sich betont lässig mit einem Arm darauf. »Guten Abend, Kajin«, sprach er die Barkeeperin an. »Wie geht es Mitsu?«

Die junge Frau mit dem moosgrünen Haar drehte sich zu Ferry um. Jetzt verstand Wolf auch, was die Jungs mit ›Aussicht‹ gemeint hatten: Sie war eine echte Schönheit. Genau wie die Kellnerinnen, die überall im Wirtshaus die Gäste bedienten, war sie in ein schwarzes Kleid und eine weiße Schürze gekleidet, aber sie trug ihr moosgrünes Haar offen. Es schimmerte sanft in dem gedämpften Licht, das im Raum herrschte.

Ihre bernsteinfarbenen Augen funkelten Ferry an. »Ganz gut, schätze ich mal. Aber warum gehst du nicht zu ihr und fragst sie selbst?«

Ferry wirkte zufrieden. Wolf wurde klar, dass er nur auf diese Worte gewartet hatte.

»Bis nachher!«, raunte er Wolf zu und schlüpfte durch eine Tür neben dem Tresen. Wolf blickte ihm kopfschüttelnd nach.

»Du bist zum ersten Mal hier, nicht wahr?«, fragte Kajin.

»Das ist richtig. Ich hatte bereits vom White Dragon gehört, aber bisher hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben, herzukommen.«

»Dann ist es gut, dass sie sich jetzt ergeben hat.«

Wolf gab keine Antwort. Er beobachtete sie eine Weile dabei, wie sie die Gäste bediente. Die meisten von ihnen begrüßte sie mit Namen. Wolf fielen auch die Blicke auf, mit denen die anwesenden Männer sie betrachteten. Fast wie Nachtfalter, die das Licht magisch anzog. Doch es gab nicht einen unter ihnen, der sie ohne den gebührenden Respekt ansprach. Wolf begriff schnell, dass Kajin das Herz dieses Wirtshauses war. Sein Mittelpunkt. Seine Seele.

Gegen seinen Willen war Wolf fasziniert. »Grünes Haar und bernsteinfarbene Augen – das ist eine ungewöhnliche Mischung«, stellte er fest. Kajin war mehr, als sie auf den ersten Blick zu sein schien. Ob er sie aus der Reserve locken konnte?

»Ich bin ein Moosvolk-Menschen-Mischling.«

Wolf nickte mit höflicher Mine. »Ein Moosvolk-Menschen-Mischling, so, so. Dann verrate mir mal … Kajin … Was macht den White Dragon so besonders?«

Sie lachte perlend und hell. »Ich weiß es nicht. Die Leute kommen gerne her. Ihnen gefällt es hier. Aber warum, das weiß ich nicht.«

Wolf beugte sich diskret vor und Kajin tat es ihm auf der anderen Seite des Tresens gleich. Er sah ihr in die bernsteinfarbenen Augen, die zusammen mit seinen aufglühten.

»Kajin, das bedeutet ›schöne Frau‹ in der Alten Sprache, nicht wahr?«, fragte er so leise, dass nur sie ihn verstehen konnte.

Sie sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Wenn du es sagst …«

Wolf lächelte. »Ich glaube, du weißt sehr wohl, warum die Leute hierher kommen. Es liegt daran, dass der White Dragon die Aura eines echten Drachen hat. Eines lebendigen Drachen.«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, sagte sie ungerührt und richtete sich auf.

Für ein paar Minuten nahmen die Gäste am Tresen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

»Wie heißt du?«, fragte sie Wolf plötzlich.

»Hier nennt man mich Varg.«

Die Barkeeperin musterte ihn. »Varg … Dann kommst du aus dem Norden, nicht wahr?« Sie verstummte unter seinem belustigten Blick. Dann lachte sie. »Ich gebe zu, dass ich mehr weiß, als ich dir habe weismachen wollen. Aber ich habe selten Gäste wie dich in meinem Wirtshaus.«

»Das liegt vielleicht daran, dass es in Skyle nicht mehr viele Gäste wie mich gibt.«

»Da hast du recht.« Sie wandte sich amüsiert ab. Wolf war klar, dass es an diesem Abend kein weiteres Gespräch mehr mit Kajin geben würde. Langsam ging Wolf zurück zu seinen Kollegen. Ihre Späße und Geschichten vertrieben die geheimnisvolle Schönheit für den Rest des Abends aus seinen Gedanken.

Erst als er früh am nächsten Morgen die schmale Holztreppe zu seiner Wohnung hinaufstieg, dachte er wieder an sie. Kajin war eine von ihnen. Eine wie er. Sie hatte die ganze Zeit hier in Autonne Gale gelebt, und er hatte nichts von ihr gewusst. Er lächelte. Es war ein interessanter Abend gewesen.

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