Kitabı oku: «Skyle», sayfa 3

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• 8 •

Hawk unterdrückte ein Gähnen. Der heiße Wüstenwind, der durch die Arkadengänge in den Senatssaal wehte, verschaffte nur wenig Abkühlung von der einsetzenden Mittagshitze. Er trug die Geräusche und Gerüche der umliegenden Stadt herein. Doch egal, wie sehr Hawk sich danach sehnte, mit einem Glas Tee im Schatten der Sonnensegel auf dem Bazaar zu sitzen, er wusste um seine Pflichten als Ratgeber und zwang seine Aufmerksamkeit zur aktuellen Debatte zurück. Immerhin war der Tee akzeptabel.

Hawk trank einen Schluck und lauschte Senatorin Dana, die über Engpässe in der Wasserversorgung im Osten des Kontinents berichtete. Hawk speicherte die Namen, Orte und Fakten, die sie nannte, in seinem Gedächtnis ab. Möglicherweise würden sie ihm noch nützlich werden. Schließlich einigten sich die Senatorinnen darauf, Pläne für einen Hilfstransport auszuarbeiten. Hawk runzelte die Stirn, ehe er seine Miene wieder unter Kontrolle hatte. Bis die Pläne in ein oder zwei Monaten abgesegnet waren und in die Tat umgesetzt werden konnten, wären die meisten Leute in den kleinen Oasenstädten in ernsthaften Schwierigkeiten.

Das Land hatte schon lange keine solche Dürre mehr erlebt wie in den vergangenen Jahren. Nicht, dass Hawk persönlich das Ausbleiben der Regenzeit störte. Doch mit der Hitze sank der ohnehin niedrige Grundwasserpegel in den Wüstenregionen so tief, dass das Wasser nicht mehr gefördert werden konnte, sofern es noch nicht ganz versiegt war. Anders als die Rjtak im Süden des Sommerreichs waren die Menschen nicht an das Leben in der Wüste angepasst. Nicht genug zumindest, um ohne zusätzliches Regenwasser überleben zu können.

Hawk rechnete durch, welche Kosten ein Wassertransport in den Osten verursachte, als Siham ihn aus seinen Gedanken riss.

»Crimson Flower hat wieder zugeschlagen.« Ihre Stimme war rau von unterdrücktem Zorn und Jahrzehnten des Myralkonsums. Unruhiges Gemurmel ging durch die Reihen der Senatsmitglieder.

Senatorin Fatima beugte sich vor. »Wo?«

»Im Nordwesten, in den Hafenstädten an der Küste.«

Senatorin Suha pfiff leise durch die Zähne. »In allen?«

Siham schüttelte den Kopf. »Die Nachricht kam vorhin erst herein, ich habe noch keine genaueren Informationen.« Wenn es nach Hawk ging, würde sie auch keine weiteren Informationen erhalten.

»Was haben sie dieses Mal angerichtet?«

Siham zuckte mit den Achseln, ihre Miene war hart. »Das Übliche: Sklaven befreit.«

Fatima schüttelte bekümmert den Kopf. »Die großen Handelshäuser werden das nicht mehr lange dulden«, stellte sie fest. Die Senatsmitglieder nickten einhellig. Fatima war Tochter einer einflussreichen Handelsfamilie. Sie wusste, wovon sie sprach. Sie hatte ihrer Familie durch die Arbeit im Sommerrat eine ganze Reihe Privilegien verschafft, wie alle Frauen in diesem Saal.

»Wir müssen härter gegen diese Aufrührer durchgreifen!«, forderte Siham. Wieder war Nicken die Antwort.

»Aber … wo fangen wir an?", fragte Senatorin Afaf, die mit den letzten Wahlen Senatsmitglied geworden war. Sie hatte ihre Familie mit ihren gekauften Stimmen an den Rand des Ruins getrieben, wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte. Für Hawk stand fest, dass sie ihre neue Position dazu nutzen würde, ihren einstigen Reichtum sogar noch zu übertreffen.

»Wir sollten von der Küste aus anfangen zu suchen und alle Städte und Anwesen durchkämmen«, schlug Senatorin Suha vor.

»Unsinn! Crimson Flower muss von Phoenix aus agieren, sonst könnten sie unmöglich immer wieder so schnell im ganzen Land zuschlagen. Wir müssen die Hauptstadt durchsuchen!«, hielt Senatorin Dana dagegen.

Eine weitere hitzige Diskussion entbrannte. Hawk lehnte sich zurück. Wenn es um dieses Thema ging, würde es zu keiner echten Einigung kommen. Das Augenmerk der Senatorinnen lag darauf, möglichst viel Geld in ihre eigenen Taschen zu wirtschaften, ohne ihre Machtposition zu verlieren. Solange die Revolutionäre von Crimson Flower ihren Reichtum nicht angriffen, wurden sie von ihnen nach wie vor nicht als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen. Dieses Mal wurde die Entscheidung über ein weiteres Vorgehen sogar vertragt. Hawk war das ganz recht, es verschaffte ihm ein wenig Handlungsspielraum.

Die Stundenglocke kündigte die Pause für den Senat und das Ende von Hawks Quälerei an. Den Nachmittag würde er in einem Planungstreffen mit seinen Offizieren verbringen. Nicht der schönste Zeitvertreib, aber alles war besser als die Sitzungen des Sommerrats. Er wollte sich gerade erheben, als er sah, wie Senatorin Suha sich Senatorin Siham näherte. Suha, eine übergewichtige Matrone mit einem imposanten Doppelkinn, ließ sich mit einem Schnaufen neben Siham auf ein Sitzpolster sinken.

Sie beugte sich vertraulich zu ihr hinüber. »Was machen wir wegen des letzten Zwischenfalls?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.

Siham schnaubte abfällig. »Wir senden einen Spähtrupp in den Westen und warten ab, was sie finden.« Die Betonung des Wortes machte Hawk klar, dass er vermutlich zu diesem Spähtrupp gehören würde, zusammen mit einer Gruppe handverlesener Männer. Er kannte diese Masche von Siham bereits. Wenn sie im Rat ihren Kopf nicht durchsetzen konnte, sandte sie eine kleine Elitetruppe aus, um die schmutzige Arbeit für sie zu erledigen. Solange die Gruppe eine bestimmte Truppenstärke nicht überschritt, lag dies durchaus in ihren Machtbefugnissen als Militärverantwortliche.

Auch Suha wusste das und nickte. »Hervorragend.« Sie wirkte so zufrieden, dass nicht mehr viel fehlte und sie hätte sich die Hände gerieben. »Und die übrigen Sklaven?«

»Die, die Crimson Flower nicht befreit hat? Wir können keinen Aufstand riskieren. Meine Männer werden sich darum kümmern, dass sie ersetzt werden. — He, pass doch auf! Unnützes Pack!«

Ein Sklavenjunge war mit einer Karaffe Wein an die beiden herangetreten und bei Sihams Worten erschrocken zusammengezuckt, sodass er das tiefrote Getränk über Sihams helle Seidengewänder verschüttet hatte. Seine Augen waren voller Angst. Vermutlich hatte er Verwandte oder Bekannte in einem der Häuser an der Westküste. Das Gesicht des Jungen hatte alle Farbe verloren. Er verbeugte sich zitternd.

»Vergebt mir, Lalla!«

Senatorin Siham erhob sich, packte das zierliche Kind bei den Haaren und schlug ihm mit der flachen Hand so kräftig ins Gesicht, dass der Kopf des Jungen nach hinten geworfen wurde. Der Sklavenjunge taumelte und stürzte auf einen der niedrigen Tische aus Nussholz, auf denen während der Pausen das Essen serviert wurde. Polternd und klirrend riss er das Geschirr herunter, Speisen und Getränke landeten auf dem Boden. Siham blickte den Sklaven mit angewidertem Gesicht an.

Mit einem Satz war Hawk neben dem Jungen und packte ihn am Oberarm. Der Sklavenjunge wimmerte und wich zurück. Hawk zerrte ihn wieder auf die Füße. Dass er in dieser Situation eingegriffen hatte, war bereits riskant. Aber er konnte nicht zulassen, dass vor seinen Augen ein Sklave misshandelt wurde.

»Hawk!« Senatorin Sihams Gesicht war eine Maske aus Wut und Ekel. »Schaff ihn mir aus den Augen!«

Hawk verbeugte sich knapp, ohne den Sklaven loszulassen, und bugsierte ihn aus dem Senatssaal. Er würde dafür sorgen, dass der Junge möglichst rasch aus dem Palast gebracht wurde. Nach diesem Fauxpas würde niemand Fragen stellen, wenn der Junge von der Bildfläche verschwand.

Hawk musterte das schmale, hübsche Gesicht des Sklaven: hohe Wangenknochen, lange, dunkle Wimpern und ausdrucksstarke Augen. Dieser Junge war wie die meisten Sklaven im Palast aufgrund seines Aussehens ausgewählt worden. Die Gier der Senatorinnen nach immer neuen Lustsklaven war landläufig bekannt.

Tränen liefen dem Jungen über die Wangen. Seine rechte Wange schwoll von Sihams Schlag an. In seinen Augen stand nackte Angst. Hawk unterdrückte ein Seufzen und schleifte den Jungen weiter. Er konnte kein Mitleid mit dem Sklavenjungen zeigen. Zu viel stand auf dem Spiel.

Nachdem sie die labyrinthischen Flure des Palastes durchquert hatten, gelangten sie zu den Sklavenunterkünften, wo sich auch zwei Dutzend Zellen befanden. Sie waren eigens zu dem Zweck errichtet worden, ungehorsame Sklaven zu maßregeln. Dorthin musste Hawk den Jungen bringen, wenn er kein Aufsehen erregen wollte. Hawk bedeutete dem diensthabenden Wächter, eine der Zellen zu öffnen. Er stieß den Jungen hinein, der mit einem Aufschrei zu Boden stürzte, und warf zornig die Tür ins Schloss. Dieser ganze Ort war ihm zuwider. So viele unschuldig weggesperrte Menschen!

Der Schlüssel knirschte, als der Wächter ihn umdrehte.

Beim Hinaustreten warf Hawk einen Blick auf den Stand der Sonnen, dann machte er sich zielstrebig auf den Weg aus dem Palast und tauchte in das Gassengewirr von Estate Phoenix ein. Wenn er sich beeilte, schaffte er es vor dem anberaumten Treffen, Crimson Flower auf dem Bazaar über den Jungen zu unterrichten und sie anzuweisen, ihn so schnell wie möglich aus dem Palast zu holen.

Während er sich durch die lärmende Menschenmenge schob, die wie jeden Tag den alten Markt zu beiden Seiten der Nord-Süd-Handelsroute belebte, dachte er über das bevorstehende Gespräch nach. Die Senatorinnen planten die Einrichtung einer neuen Militärakademie in Kooperation mit dem Herbstkönig und hatten Hawk als Drache des Sommerrates die Verantwortung übertragen. Je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten, würde er im kommenden Frühling nach Crown's End reisen, um mit dem König und seinem Stab zu verhandeln. Bis dahin musste er mit seinen Offizieren alle organisatorischen und logistischen Fragen geklärt haben.

Wie immer waren es vor allem die Frauen, die den Bazaar bevölkerten. Ihre wallende, farbenfrohe Kleidung und die hellen Stimmen verwandelten sie in eine Masse bunter aufgeregt zwitschernder Vögel. Goldschmuck glänzte auf bronzener Haut, weiße Zähne blitzten in lachenden Mündern, dunkles Haar wogte im Wüstenwind.

Die Frauen feilschten lautstark, tratschten und schoben sich gestikulierend durch den Strom der Bazaarbesucher. Hawk war sich sicher, dass jeder einzelne der wenigen Männer eine genau abgezählte Menge an Münzen und eine Liste der Dinge in der Tasche hatte, die er besorgen sollte. Einige Männer schoben sich voll beladen hinter ihren Frauen durchs Gedränge, die die Menge mit ihren ausladenden Busen teilten wie ein Schiff die Wolken des Meeres.

Hinter dem Stand einer besonders lauten Händlerin, die neben Steingut mit traditionellen Rjtak-Mustern auch Porzellan aus dem Frühlingsreich feilbot, befand sich ein Teezelt. Hier ließ Hawk sich nieder. Er setzte seine Sonnenbrille ab und machte die Besitzerin mit einem Handzeichen auf sich aufmerksam. Sie nickte und brachte ihm kurz darauf eine Kanne mit Milchtee. Hawk dankte ihr und lehnte sich zurück. Milchtee bedeutete, dass sie nicht offen sprechen konnte und er ein anderes Mitglied von Crimson Flower für die Befreiung des Sklavenjungen finden musste. Das war allerdings kein Grund, hervorragenden Tee zu verschmähen.

• 9 •

Die Mauern des Weißen Klosters verschmolzen beinahe mit dem Schnee des Berghangs, in den es hineingebaut worden war. Einzig die wenigen beleuchteten Fenster und die schwarzen Torflügel hoben sich vom Schnee und den Wolken ab.

Auf dem höchsten der rechteckigen Türme schlug jemand eine bronzene Glocke. Die Mönche in den blauen und grünen Trachten des Klosters versammelten sich zum Abendgebet. Die Nacht senkte sich schnell auf die Landschaft herab, während die Mönche in kleinen Gruppen zu zweit oder zu dritt den verschneiten Innenhof überquerten, um in die Gebetshalle zu gelangen. Sie unterhielten sich leise. Ihre Stimmen hallten dumpf von den Wänden wider.

Als sie die Halle betraten, verstummten sie und mit ihnen der Gesang, der seit Tagesanbruch unaufhörlich durch das Kloster geklungen war. In stiller Meditation verbrachten sie die Zeit des Abendgebets, bevor sie schweigend ihr Nachtmahl einnahmen und sich in ihren Schlafkammern zur Ruhe legten. Erst wenn die Sonnen aufgingen, würden sie wieder zu ihren Gesängen anheben und die einsame Bergwelt mit ihren Stimmen füllen.

Die Mönche waren nicht mehr jung. Sie hatten seit mehr als vierzig Jahren keinen Novizen mehr aufgenommen, doch dies würde sich ändern, wenn die Zeit gekommen war. Der Abt selbst, gekleidet in mitternachtsblaue Gewänder, war beinahe hundertzwanzig Jahre alt. Als Dank dafür, dass er sein Dasein der vielgestaltigen Götterwelt der Berge widmete, war ihm ein ungewöhnlich langes Leben geschenkt worden.

Der Abt fühlte, dass etwas nicht stimmte. Schon während des Gebets war er unkonzentriert gewesen, etwas, was ihm für gewöhnlich nicht so leicht passierte. Er hatte eine Veränderung gespürt.

Anstatt mit den anderen Mönchen zum Essen zu gehen, bat er zwei Wächtermönche, mit ihm zu kommen. Gemeinsam stiegen sie im Schein einer Pechfackel die Wendeltreppe ins Innere der Himmelsspitze hinab, jenes Berges, an dessen Hang das Weiße Kloster vor Tausenden von Jahren gebaut worden war.

Schließlich hielten sie vor einer Tür aus weißem Granit. Der Abt rezitierte mit gesenktem Kopf die Worte, mit denen er um Einlass in die Halle der Zeit bat. Nur den Wächtern und dem Abt war es gestattet, die heilige Halle zu betreten.

Flache, mit Lampenöl gefüllte Steinschalen an den Wänden erhellten die Halle mit einem goldenen Schein. In ihrer Mitte befand sich jener Teppich, der der Grund für den Bau dieses Klosters gewesen war. In prächtigen Farben leuchtete er auf dem Steinboden der Halle. Der Abt trat an den Abschnitt heran, an dem sich Skyles Schicksal selbst wob.

Die Fäden des Teppichs verknüpften sich miteinander und lösten sich wieder, nur um sogleich neue Verbindungen einzugehen. So entstand ein verwirrendes Muster, zu vielschichtig, um es auf Anhieb zu begreifen. Der Abt sann lange darüber nach, was die nahe Zukunft der Welt bringen mochte. Die ferne Zukunft veränderte sich so stetig und so gravierend, dass es keinen Zweck hatte, sie deuten zu wollen. Es waren die Wesen dieser Welt selbst, die mit jeder Entscheidung, die sie fällten, die Zukunft formten.

Er stutzte. Es gab Dutzende Fäden, die sich immer wieder kreuzten. Er verfolgte sie durch die Knotenreihen zurück und sah, dass sie den Mustern längst vergangener Jahrhunderte entsprangen. Das war nichts Besonderes. Es gab viele Geschöpfe in Skyle, die viel älter wurden als die kurzlebigen Menschen. Doch dass diese Muster zusammenliefen, irritierte ihn. Er konnte nicht sagen, ob die Muster ein Ereignis ankündigten oder ob sie sich auf Personen bezogen. Was auch immer sie bezeichneten: Ihr Zusammenlaufen im Zeitteppich bedeutete Ärger.

Er seufzte tief. Skyle standen schwere Zeiten bevor.


Winter 1044

Zweites Jahrtausend der Neuen Zeit von Skyle

52. Jahr der Regentschaft der Frühlingskönigin

• 10 •

Der Glaspalast der Frühlingskönigin thronte als schillerndes Juwel über den Wasserfällen von Jazli, einige Meilen außerhalb von Primavera Melody. Am Morgen gingen die Zwillingssonnen golden vor den Toren des Palastes auf. Am Abend versanken sie blutrot in den Fluten der Wasserfälle und Seen hinter seinen weißen Mauern.

Gerade erhoben sich die Zwillingssonnen von ihrer Nachtruhe und schoben sich durch den Schleier der Sturmwand über den Horizont. Wo ihre Strahlen auf das milchige Glas trafen, brachen sie sich und ließen die Wände erstrahlen. Wie ein eingefangener Regenbogen schimmerte der Palast und tauchte die Wasserfälle zu seinen Füßen in ein Kaleidoskop aus Farben.

Fly stand am Fenster und blickte in die hinabstürzenden Fluten. Hier drinnen kam das Getöse der Wassermassen nur als leises Rauschen an. Die Architekten des Palastes hatten mit den Magiewebern dafür gesorgt, dass kaum ein Laut die Glaswände durchdrang.

Hinter den Wasserfällen von Jazli und den dazugehörigen Seen erstreckten sich die Ebenen des Frühlingsreiches, deren fruchtbarer Boden Skyles Kornkammern bildete. Felder und Hügel waren seit diesem Morgen mit einer dünnen Schneedecke überzuckert. Das Weiß des Landes verschmolz im Südwesten mit dem Weißgrau der Sturmwand und dem blauen Himmel. Fly liebte dieses Land über alles, seine Weite, die liebliche Landschaft, das milde Klima. Dass es in der vergangenen Nacht geschneit hatte, grenzte an ein Wunder. Es war Jahre her, dass es im Frühlingsreich Schnee gegeben hatte, noch dazu so früh im Winter. Es juckte sie in den Fingern, hinauszugehen und in dem knirschenden Schneezucker eine Schneeballschlacht mit Juuba anzuzetteln.

Von hinten näherten sich leise Schritte. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben, doch sie blieb, wo sie war. Erst, als Juuba bis auf wenige Armlängen herangekommen war, drehte sie sich um. Dabei zog sie einen ihrer Wurfdolche aus seiner Scheide und parierte damit Juubas Schwertstreich, der ihrer Kehle gegolten hatte. Sofort zog sie den Dolch zurück und duckte sich unter dem nächsten Schlag weg. Gleichzeitig setzte sie einen gut gezielten Beinfeger an und riss Juuba zu Boden.

Juuba stürzte schwer. Ihr Schwert glitt einige Meter über den Glasfußboden. Nur einen Augenblick später war Fly über ihr und setzte ihr den Dolch an die Kehle. Sie starrten sich an. Flys smaragdgrüne Augen bohrten sich in Juubas braune.

Dann zog Fly den Dolch zurück und richtete sich auf. »Du wirst besser«, lobte sie ihre Freundin und half ihr auf die Beine.

Juuba schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch nicht gut genug, um dich zu schlagen.« Betrübt ging Juuba, um ihr Schwert zu holen.

»Keine Sorge, irgendwann schaffst du auch das«, munterte Fly sie auf und klopfte Juuba auf die Schulter. »Komm. Wir sollten die Königin nicht warten lassen.«

Juuba senkte den Blick. »Sehr wohl«, sagte sie, doch sie konnte nicht lange ernst bleiben. Sie hüpfte an Fly vorbei den Flur entlang, der zu den Gemächern der Frühlingskönigin führte. Fly folgte ihr. Sie genoss das Vertrauen, das Ihre Majestät ihr entgegenbrachte. Es war nach wie vor eine große Ehre, bei den wöchentlichen Audienzen dabei zu sein und es machte doppelt so viel Spaß, wenn Juuba dabei war.

Bald schon hatte sich ihr ausgelassenes Hüpfen zu einem fröhlichen Wettrennen entwickelt. Vor der hohen, doppelflügligen Quarzglastür, die zum Morgensalon der Königin führte, blieben sie keuchend stehen. Eine Weile rangen sie nach Luft, dann überprüfte Fly den Sitz ihrer Uniform, warf einen kurzen Blick auf Juubas Kleidung und klopfte entschlossen an die Tür.

»Herein!«, tönte es durch das milchige Glas.

Juuba warf Fly einen raschen Blick zu. »Die Königin scheint gute Laune zu haben.« Sie öffnete den Türflügel, woraufhin eine Folge heller Glockentöne erklang. Juuba nahm Haltung an und ging hinein. Fly folgte ihr. Sie liebte Morgende wie diesen, an denen ihr alles perfekt schien.

• 11 •

In dicken, weißen Flocken fiel der Schnee vom nächtlichen Himmel und legte sich auf die gerefften Segel, die breite Reling und die Bohlen des Oberdecks. Raven lehnte rauchend am Brückenaufgang und beobachtete, wie das Schiff nach und nach von der weißen Schicht überzogen wurde. Die Luke, die auf das Gefangenendeck des Schoners führte, war bereits verschwunden. Dort unten saßen die vier Menschen, die sie in den vergangenen Tagen aufgespürt hatten. Kingston hatte beschlossen, dass sie dieses Mal nach Autonne Gale segeln sollten, um ihre Beute direkt an die Soldaten des Herbstkönigs zu übergeben. Aktuell lagen sie eine halbe Tagesreise vor der Hauptstadt des Herbstreiches vertäut, morgen würden sie Gale erreichen.

Raven war es egal, wohin sie segelten, solange er die Gelegenheit bekam, ein paar neue Aufträge anzunehmen. Er überlegte, ob er zu den Gefangenen hinuntersteigen sollte, um ihnen einen kurzen … Besuch abzustatten, doch er verwarf diesen Gedanken wieder. Tot nützten sie ihm weniger als lebend. In der Regel sank die Höhe des Kopfgelds, je schlechter der Zustand der Gesuchten war. Nur wenige Aufträge waren mit einem Tot-oder-lebendig-Siegel versehen, jenem kleinen Symbol, das es Raven erlaubte, seinem Lieblingsspiel nachzugehen: die Beute zu Tode zu hetzen. Er fletschte in seiner schuppigen Schnauze ein mächtiges, mehrreihiges Gebiss. Einen Lidschlag später war von der monströsen Schnauze nichts geblieben als ein breites Feixen, dazu das mörderische Funkeln in seinen Augen.

Er hatte beim Jagen schon lange nicht mehr richtig Spaß gehabt. Höchste Zeit, sich in Autonne Gale ein paar anständige Aufträge zu besorgen. Mit einem Seufzen stieß er den Rauch aus und schnippte den glimmenden Zigarettenstummel in den frischen Schnee. Nachtwachen waren echt das Letzte. Er freute sich schon auf die Hauptstadt, auch wenn das Wetter im Herbstreich zu dieser Jahreszeit wenig anheimelnd war. Ob der kleine schwarzhaarige Kater aus der Straße bei den Casinos noch seinem Gewerbe nachging? Es war fast zwei Jahre her, seit er das letzte Mal in Gale gewesen war, die letzten Aufträge hatte er sich in anderen Städten gesucht. Die meiste Zeit waren sie mit dem Schoner im Frühlings- und Sommerreich unterwegs gewesen – besseres Wetter, leichtere Beute. Wenn ein Gesuchter in den Wälder des Herbstreiches abtauchte, war das Aufspüren eine elende Schinderei. Die Hauptstadt des Herbstreiches war nicht sein liebster Aufenthaltsort, nicht zu vergleichen mit Moon Bay, Tolpor oder Primavera Melody, aber besser als nichts. Und der schwarzhaarige Kater … Wenn er noch im Geschäft war, würde er ihm einen Besuch abstatten. Seine Streifzüge machten ihm besonders Spaß, wenn er alte Bekannte traf.

»Hör auf, so anzüglich zu grinsen, Raven.«

Eine belustigte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Raven blickte in die Takelage, aus der die Stimme gekommen war, und ließ die langen schwarzen Krallen an seinen Händen verschwinden, die er instinktiv ausgefahren hatte. Dann strich er sich das eisblaue Haar aus der Stirn und legte den Kopf schief. »Was willst du, Wolf?«

»Dich besuchen, was sonst?« Wolf sprang aufs Deck und landete sicher neben dem Fockmast. Er ging zu Raven und umarmte ihn fest. »Schön, dich zu sehen.«

»Gleichfalls«, antwortete Raven und erwiderte die Umarmung.

Sie ließen sich auf die Stufen zum Deckaufbau sinken.

Raven zog einen Flachmann mit Rum aus der Manteltasche, nahm einen Schluck und reichte ihn Wolf. »Wir haben ein paar Pakete bei den Herbsttruppen abzuliefern. Wenn du noch einen Tag gewartet hättest, hätte ich dich in Gale besucht.«

»Ich war sowieso auf dem Unteren Wolkenmeer unterwegs, als ich dich gerochen habe.«

»Verstehe. Wo warst du?«

»Bei Viper.«

»Ich dachte, du hättest nichts mehr mit dem Südlichen Drachenkaiser zu schaffen.«

Wolf zuckte mit den Achseln. »Er hatte mich gebeten, vorbeizukommen, weil er einen Auftrag für mich hatte.«

»Hast du ihn angenommen?«, fragte Raven neugierig.

»Ja, ich konnte ihn gleich vor Ort erledigen. Außerdem habe ich Crow getroffen. Es geht ihm gut.«

Raven verzog den Mund, als er an seinen kleinen Bruder dachte. »Schön für ihn.« Er lehnte sich zurück und hielt das Gesicht den Schneeflocken entgegen. Sie kitzelten auf seiner Haut wie winzige Eisfedern.

»Apropos Drachenkaiser. Hat Scarab sich bei dir gemeldet?«

Das Bild der Westlichen Drachenkaiserin stieg vor Ravens innerem Auge auf. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie dürfte für den Winter aber in ihrem südlichen Versteck sein. Wollen wir sie besuchen?« Sie hatten ihre alte Freundin schon viel zu lange nicht mehr gesehen.

»Ich vermute, sie hat genug zu tun«, meinte Wolf. »Sie wird sich melden, wenn sie Zeit hat.« Er trank einen Schluck Rum. »Wie lange wird sie sich noch aus der Menschenpolitik heraushalten können?«

»Keine Ahnung«, antwortete Raven. »Nicht mehr lange, wenn ich mir die letzten Entwicklungen angucke.«

»Meinst du die Winterrebellen?«

»Ja, und den Umstand, dass auf immer mehr Drachen grundlos Kopfgelder ausgesetzt werden.«

»Dann stecken die Frühlingskönigin und die Marine dahinter. Das geht auch wieder vorüber. Wir können unsere Kopfgelder einfach aussitzen, bis sie verjährt sind.«

Raven schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht. Ich habe Gerüchte gehört, dass die Exorzisten wieder unterwegs sein sollen.«

Wolf ließ den Flachmann, den er an die Lippen gehoben hatte, wieder sinken. »Die Drachentöter sind zurück? Bist du dir sicher?«

Raven hob abwehrend die Hände. »Das sind nur Gerüchte. Ich weiß nicht, wie viel dran ist.«

»Aber wenn sie wahr sind, dann werden die Drachenjagden wieder beginnen.«

»Vermutlich«, stimmte Raven Wolf unbekümmert zu. Mit ihren Fähigkeiten brauchten sie sich wenig Sorgen um die Exorzisten zu machen.

»Vielleicht ist die Zeit reif«, überlegte Wolf. »Vielleicht sollte ich meine Pläne endlich fertigstellen.«

Raven betrachtete ihn von der Seite. In der Dunkelheit schimmerten die eingeflochtenen Silberperlen an Wolfs Strähne blass. »Die Baupläne? Dann willst du das Schiff wirklich bauen?«

»Was dachtest du denn?«, kam Wolfs belustigte Gegenfrage. »Dass ich die Pläne nur zum Spaß zeichne?«

»Bei dir weiß man nie«, erwiderte Raven leichthin und nahm den Flachmann entgegen.

»Ja, es ist Zeit«, verkündete Wolf. »Kannst du jemanden für mich suchen?«

»Kommt drauf an, wie gut du mich bezahlst.«

»Ich möchte für den Bau das alte Team der Wonder zusammentrommeln, aber ich weiß nicht, wo Kel steckt. Er ist ein Rjtak und sollte sich irgendwo im südlichen Herbstreich aufhalten. Er agiert unter dem Namen ›der Zerleger‹.«

Raven brummte unbestimmt.

Wolf erhob sich. »Sag mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast. Du weißt ja, wo du mich findest.«

»Willst du schon wieder los?«

»Ja. Wenn ich die Pläne vervollständigen will, dann habe ich noch viel zu tun.«

Raven blieb sitzen. »Halt die Augen offen, vielleicht hörst du in Gale etwas über unsere Exorzistenfreunde.«

»Mache ich. Wir sehen uns!« Damit verschwand Wolf. Raven trank den letzten Schluck Rum und schloss die Augen. Um ihn herum versank die Welt in kalter Stille.

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