Kitabı oku: «Skyle», sayfa 6
• 17 •
In der Morgendämmerung waren die Schatten in den Bogengängen tiefer als gewöhnlich. Die Mauern des Palastes verschwanden im hellen Grau des Nebels. Fly stand in Paradeuniform unter einer Arkade, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Zwei Soldaten flankierten sie. Über dem kleinen, von Wandelgängen umgebenen Innenhof kreisten drei gewaltige Schatten. Fly durchzuckte beim Anblick der Drachen ein vertrauter Schmerz, doch sie bewahrte Haltung.
Mit mächtigen Flügelschlägen setzten die drei Drachen zur Landung an. Kaum hatten ihre Krallen den Marmorboden berührt, ließ sich Fly auf die Knie sinken. Die Soldaten folgten ihrem Beispiel. Sie neigten die Köpfe. Fly erhaschte dennoch einen Blick auf den mittleren Drachen, dessen Ankunft sie erwartet hatte. Er war kleiner als die anderen beiden und silberweiß, mit dünner, durchscheinender Schuppenhaut, die auf dem Rücken und am Kopf grün schimmerte. Es dauerte nur einen Wimpernschlag, bis statt der Drachen ein Mann und zwei Frauen auf dem Hof standen. Fly hielt den Blick starr auf die Marmorplatten gerichtet und versuchte, sich nicht an der Nacktheit der Neuankömmlinge zu stören. Verdammte Drachen!
Als sie den Kopf nach einer Weile wieder hob, waren die drei in weite Roben gekleidet. Sie machten einen Schritt auf Fly und ihre Begleiter zu. Fly erhob sich geschmeidig.
»Drachenkaiser Viper«, begrüßte sie den Mann mit dem silbernen Haar und senkte abermals den Kopf. »Wir haben Euch erwartet.«
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Die Strahlen der Mittagssonnen fielen durch die breiten Fenster. Staubkörner tanzten in den Säulen aus Licht. Die flachen, langgestreckten Trainingshallen waren um diese Tageszeit gut besucht.
Die meisten, die hier trainierten, waren Soldaten. Wie immer fanden sich auch junge Adelige, die gegeneinander fochten oder ihre Leibdiener Schaukämpfe austragen ließen, flankiert von Trauben junger Damen in ausladenden Röcken, die den wenig reiferen Männern aus den Adelshäusern fächernd und kichernd hinterherliefen. Der schwere Stoff ihrer Kleider schleifte raschelnd über den Boden und die Absatzstiefel knallten auf den hellen Holzbohlen. Fly warf den jungen Leuten einen entnervten Blick zu. Warum mussten sie sich ausgerechnet hier treffen? Konnten sie sich nicht einen besseren Ort für ihre Flirts suchen?
»Fly! Fokus!«, bellte ihr Schwertmeister. Juubas Dolchklingen zischten nur eine Handbreit vor ihrem Gesicht durch die Luft. Blitzschnell sprang Fly zurück und hieb nach ihrer Gegnerin. Juuba wich aus, doch Fly riss im letzten Moment ihren Dolch hoch und durchtrennte das rote Seidenband, das ihre Freundin am Oberarm trug. Sofort hob Juuba ihre Dolche in Paradestellung und trat einen Schritt zurück. Das Band segelte zu Boden und blieb als kleines Stoffhäufchen auf den Bohlen liegen. Damit hatte Fly das Ziel der heutigen Trainingseinheit erreicht.
Juuba verzog enttäuscht das Gesicht. Fly steckte ihre Dolche weg. Sie hatte sich in der vergangenen Stunde zurückgehalten, um Juuba die Möglichkeit zu geben, sie vielleicht doch noch zu schlagen. Aber es waren zu viele Leute anwesend, die hier nichts zu suchen hatten, und sie wollte nur noch so schnell wie möglich wegkommen.
»Du hast wieder gewonnen«, stellte Juuba unzufrieden fest. Fly entgegnete nichts darauf. Abrupt wandte sie sich ab und stapfte auf den Ausgang zu. Sie wusste, dass es albern war, Juuba einfach stehenzulassen und das Training frühzeitig zu beenden, aber es war ihr egal. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als die Stille der gläsernen Palastkorridore. Doch sie hatte sich zu früh gefreut.
»Fly!«, rief Meister Bastien kühl.
Fly blieb stehen. »Was?«, fauchte sie.
Der Krieger hatte die Arme verschränkt und bedeutete ihr mit einer knappen Kopfbewegung, dass sie zurückkommen sollte. Fly schnaubte abfällig und wandte sich zum Gehen.
»Einen Schritt weiter, Fräulein«, hörte sie Bastien grollen, »und ich sorge dafür, dass die Königin von deinem Benehmen erfährt.«
Fly fuhr herum. »Das ist Erpressung!«, zischte sie empört, doch sie machte trotzdem kehrt. Sie wollte nicht, dass die Frühlingskönigin von ihrem kindischen Verhalten erfuhr, aber sie wollte sich auch von niemandem herumkommandieren lassen. Sie reckte herausfordernd das Kinn vor. »Was gibt es?«
»Ich will, dass du gegen mich antrittst.«
»Warum?«, fragte Fly.
»Keine Widerrede! Du kämpfst gegen mich, jetzt und hier, und ich wähle die Waffe.«
»Was? Das ist nicht fair!«, empörte sie sich. Es war üblich, dass der Herausforderer Zeit und Ort des Duells bestimmte, aber der Verteidiger durfte in der Regel die Waffen wählen.
»Langschwerter, östlicher Stil. Wer zwei Runden für sich entscheidet, gewinnt«, knurrte Bastien. »Nimm deine Position ein, jetzt!«
Fly tat murrend, wie ihr geheißen. Juuba reichte ihr ein Langschwert und Fly und ihr Meister bezogen Position. Einige Wimpernschläge verharrten sie regungslos, dann stürzten sie aufeinander zu.
Meister Bastien hatte mit dem östlichen Stil eine Schwerttechnik befohlen, die sich auf den Angriff konzentrierte. Hier war Geschwindigkeit alles. Die Attacken, Paraden und Finten dieses Stils boten wenig Gelegenheit, eine starke Verteidigung aufzubauen und zu halten. Der zweite Schwertkampfstil, der in Skyle verbreitet war, war die nördliche Schule, die auch als Weißer Schwerttanz bezeichnet wurde. Lange, fließende Bewegungen, eine möglichst lückenlose Deckung und gut vorbereitete Angriffe zeichneten ihn aus. Er war das Gegenteil der östlichen Schule, die der Volksmund Rosenfeuer nannte.
Die Schwierigkeit beim östlichen Schwertkampfstil war der Umstand, dass man als Kämpfer schnell ermüdete. Das Rosenfeuer war aggressiver und schneller als der Schwerttanz und kostete daher in kürzerer Zeit viel mehr Kraft.
Mit zusammengebissenen Zähnen wich Fly Meister Bastiens Attacken aus und versuchte, selbst einen Angriff zu starten. Der Weiße Schwerttanz und das Rosenfeuer – Fly hatte bisher niemanden getroffen, der beide Stile in Vollkommenheit beherrschte. Ihr Schwertmeister war in beiden Schulen bewandert, aber er war im Frühlingsreich geboren und seine Stärken lagen deswegen beim Rosenfeuer, wie Fly bei diesem Kampf wieder einmal feststellen musste.
Es dauerte keine drei Minuten, bis Bastien sie mit einem unvorhersehbaren Ausfall entwaffnete. Flys Langschwert wurde ihr aus der Hand gerissen. Meister Bastien verstärkte kurz den Druck seiner Klingenspitze an Flys Rippen, ehe er seine Waffe senkte. Fly knurrte ungehalten. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie sich ihre Klinge geschnappt und erneut Stellung bezogen.
Heftig prallten sie aufeinander. Ihre Langschwerter verkeilten sich, lösten sich, trafen sich wieder. Der Schlagabtausch war hitzig und kräftezehrend. Nur wenige Minuten später landete Fly einen Treffer und schlug ihrem Meister das Schwert aus der Hand. Die Klinge kam klirrend auf dem Boden auf. Fly setzte triumphierend ihre Schwertspitze an die Kehle ihres Gegners.
Meister Bastien reckte zum Zeichen seiner Niederlage die Faust seiner Schwerthand in die Höhe. »Sehr gut, Fly. Eine Runde noch.«
Fly nickte und nahm ein letztes Mal ihre Kampfstellung ein.
Juuba hatte sich etwas abseits auf dem Boden niedergelassen und beobachtete zusammen mit ein paar Zuschauern den Kampf. Auch Offiziersanwärter und Soldaten aus anderen Wolkenreichen waren zugegen. Ihre Uniformen zeigten ihre Zugehörigkeit: hellgrüne Frühlingsuniformen, dunkelgrün für die Marine. Braune Uniformen aus dem Herbstreich, weiße für die Truppen des Sommerrates, schwarze Umhänge aus dem Winterreich. Die offiziellen Beziehungen zum Winterreich mochten sich sonst auf Handelsabkommen beschränken, doch noch immer kamen junge Angehörige der Wintergarde nach Melody, um hier einen Teil ihrer Ausbildung zu absolvieren. Im Gegenzug gingen die Soldatinnen und Soldaten aus dem Frühlingsreich und vereinzelt Mitglieder der Marine an den Winterhof. Fly hatte sich schon häufiger gefragt, warum die Frühlingskönigin dies zuließ. Das Herbstreich und die Sommerinseln waren Verbündete, zumindest auf dem Papier, doch das Winterreich war eine vollkommen andere Angelegenheit. Sie war überzeugt, dass Ihre Majestät schon längst einen offenen Krieg gegen das Winterreich deklariert hätte, wenn es keine so engen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Königshäusern gegeben hätte.
Bastien hatte sein Schwert aufgehoben. Auf der Suche nach besserem Stand rutschten seine Füße in den weichen Lederschuhen über den Boden. Das eigentümliche Geräusch riss Fly aus ihren Gedanken. Sie packte ihr Langschwert fester und stellte mit Schrecken fest, dass sie kurz davor gewesen war, den schlimmsten Fehler zu begehen, den ein Krieger machen konnte, indem sie ihren Fokus verlor.
»Konzentration, Fly!«, murmelte sie sich selbst zu. Mit grimmigem Gesicht und fest aufeinandergepressten Zähnen erwartete sie den Angriff. Sowohl Fly als auch Bastien wussten, dass sie diese dritte und letzte Runde schnell beenden mussten, wenn einer von ihnen den Sieg davontragen wollte.
Sie beobachteten einander und versuchten, eine Lücke in der Verteidigung des Gegners zu finden. Sie hatten nicht umsonst all die Jahre miteinander trainiert. Die ersten Runden waren mit Überraschungsangriffen gewonnen worden, nun waren sie auf der Hut. Ohne es zu merken, waren sie in eine Mischform aus beiden Schwertstilen übergegangen. Das führte dazu, dass keiner einen kritischen Treffer landen oder den anderen entwaffnen konnte.
So kam es, dass dieser letzte Kampf nach einer knappen Viertelstunde schließlich unentschieden endete. Fly und Meister Bastien waren vollkommen außer Atem und am Ende ihrer Kräfte, doch nach diesem ausgeglichenen Kampf konnten sie beide mit einem Unentschieden leben. Sie stützten sich schwer atmend auf ihre Schwerter, die Gesichter verschwitzt, einander musternd. Dann fingen sie beide fast gleichzeitig an zu grinsen und reichten sich die Hand zum Zeichen der Anerkennung.
»Das war ein fairer Kampf«, stellte Bastien fest, als Juuba ihnen Handtücher und Wasser reichte. Fly nahm einen tiefen Schluck Wasser, ehe sie den Krug an ihren Meister weiterreichte. Schon lange hatte sie nicht mehr so ein gutes Training gehabt. Sie legte die rechte Faust an die linke Handfläche und verbeugte sich tief.
»Vielen Dank für diesen lehrreichen Kampf!«, sagte sie, und sie meinte ihre Worte ernst.
Bastien setzte den Krug an und nahm einen Schluck. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du dir einen neuen Meister suchst. Es gibt nichts mehr, was ich dir beibringen kann.«
Erschrocken richtete Fly sich auf. »Ich habe mit den anderen Ausbildern gesprochen«, fuhr Bastien fort. »Sie denken dasselbe.«
»Aber wenn ich hier nichts mehr lernen kann, wo dann?« Flys Blick schweifte zu den verschiedenfarbigen Uniformen in der Halle, ehe er zu Meister Bastiens Gesicht zurückkehrte.
»Fly, da draußen wartet eine Welt auf dich!«, verkündete er. »Irgendwo gibt es immer einen Kämpfer, der stärker ist als man selbst, ein Ort, der einem eine größere Herausforderung bietet als die, die man schon überwunden hat. Es geht immer weiter, und das macht den ganzen Reiz des Lebens aus.«
Fly starrte ihn sprachlos an, etwas, das selten geschah. Ihre Gedanken rasten, als sie sich der Tragweite der Aussage bewusst wurde. Sie sollte den Hof der Frühlingskönigin verlassen, um sich einen neuen Meister zu suchen? Ihre Majestät zurücklassen und losziehen in der vagen Hoffnung, irgendwo einen Kämpfer zu finden, der sie mehr lehren konnte? Niemals! Sie würde die Königin nicht verlassen, um nichts in der Welt. Ihr Platz war im Glaspalast von Jazli, und niemand würde sie hier wegbringen.
Anscheinend hatte Meister Bastien ihr ihre Gedanken an der Nasenspitze angesehen, denn er lachte leise.
»Warum lachen Sie?«, fragte Fly gereizt.
Ihr Schwertmeister schüttelte amüsiert den Kopf. »Du bist mindestens doppelt so alt wie ich und verhältst dich schlimmer als meine jüngste Tochter. Du erinnerst mich ehrlich gesagt sehr an sie.«
Fly warf ihm einen todbringenden Blick zu und wandte sich ab.
Juuba trat neben sie, um sie zu beglückwünschen. »Das war unglaublich! Ich habe dich selten so verbissen kämpfen sehen.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Du warst wirklich, wirklich gut. Übrigens, wir haben eine Einladung für morgen Abend. Ein paar von den Herbstadeligen haben eine Feier geplant. Ich habe gehört, ihr Quartier ist eine der Prachtvillen am Südrand der Stadt.«
Fly runzelte kurz die Stirn. »Haben sie gesagt, was sie vorhaben?«
Juuba schüttelte den Kopf. »Nein, aber scheinbar sind wir nicht die einzigen Gäste. Wenn du willst, kann ich mich umhören.« Fly zögerte, doch Juuba stieß sie sanft an. »Komm schon«, drängte sie, »es wird dir guttun, mal ein bisschen aus Jazli rauszukommen. Außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr so richtig amüsiert.«
»Wie, du meinst seit dem Ausritt vorgestern?«, stichelte Fly. Andererseits, vielleicht würde es ja ganz lustig werden. Also stimmte sie zu.
Juuba klatschte übermütig in die Hände. »Wunderbar! Dann sage ich ihnen gleich Bescheid!« Und schon war sie verschwunden.
Fly bückte sich, um ihre Trainingswaffe aufzuheben, als ein Palastdiener auf sie zueilte. Fly erkannte ihn als einen Leibdiener der Königin.
»Ihre Majestät, die Frühlingskönigin, wünscht, dich zu sprechen.« Der Mann senkte die Stimme. »Sie bittet um eine Eskorte für den Drachenkaiser Viper.«
Fly hatte ihren ungewöhnlichen Besucher beinahe vergessen. »Warte kurz«, bat sie den Diener. Sie verschwand im Umkleideraum, schlüpfte in ihre offizielle Uniform und den kurzen hellgrünen Militärmantel und folgte dem Mann zügig zum Audienzsaal der Königin.
Lautlos trat Fly durch eine verborgene Tür in den Audienzsaal und nahm ihren Platz hinter dem Thron der Frühlingskönigin ein.
Die Königin und Drachenkaiser Viper kamen gerade aus dem angrenzenden Besprechungsraum zurück, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Fly fiel auf, wie sehr sie sich ähnelten. Beide hatten die stolze, selbstbewusste Haltung der Herrschenden. Man konnte ihre Macht förmlich greifen.
Fly konnte kaum die Augen von Viper lassen. Seine wächserne Haut verstörte sie, die silbernen farblosen Haare, seine blutleeren Lippen. Schwacher, metallischer Blutgeruch umgab diesen Mann, und der süßliche Gestank von Gift. Flys Blick huschte zu Bat, die mit zwei weiteren Hofdamen an einem der Bogenfenster saß. Die Drachin verzog keine Miene.
Vipers Geruch bestätigte nur, was Fly schon wusste: Viper war gefährlicher als andere Drachen. Seine Macht und sein Ansehen gaben ihm die Möglichkeit, Dinge zu tun, die sich Fly nicht einmal ausmalen wollte. Sie wusste nichts über ihn, nur dass er als Südlicher Drachenkaiser großen Einfluss besaß.
Die beiden waren inzwischen in Hörweite. Viper schüttelte gerade den Kopf. »Ich danke Euch für Euer Angebot, es ehrt mich. Aber ich fürchte, dass ich ablehnen muss.«
Die Königin lächelte mild. »Das ist sehr bedauerlich. Ich hatte gehofft, zwischen unseren Völkern könnte eine dauerhafte Allianz entstehen.«
Viper erwiderte ihr Lächeln schmallippig. »Ich fürchte nicht.« Er entdeckte Fly, die sich im Hintergrund hielt. Fly fiel zum ersten Mal auf, dass seine Augen genauso farblos waren wie der Rest seines Körpers. Und obwohl Vipers Augen sie nur streiften, sah sie, dass die Iris seines rechten Auges blassgolden war, die seines linken silbern. »Ihr habt einen exquisiten Geschmack«, bemerkte Viper, als sein Blick weiter durch den Raum schweifte. Er ließ dabei offen, worauf er sich bezog.
»Vielen Dank«, erwiderte die Frühlingskönigin. »Ich bedauere, dass Ihr den weiten Weg vergebens gemacht habt.«
Vipers Miene wurde berechnend. »Es war mir eine große Ehre.«
Fly ging auf, wie gefährlich es war, diesen Mann ins Innerste des Glaspalastes eingelassen zu haben, so nah bei der Königin. Sie wusste, dass es Ihre Majestät gewesen war, die den Drachenkaiser eingeladen hatte. Sie hatte ihn in die Mitte ihrer Macht vorgelassen, nicht umgekehrt. Fly wusste plötzlich, dass die Königin dieses politische Machtspiel verloren hatte. Unwillkürlich knirschte sie mit den Zähnen.
»Ich danke Euch für ein äußerst erhellendes Gespräch«, sagte Viper höflich.
Die Frühlingskönigin nickte und gab einem ihrer Leibdiener ein Zeichen. Der Diener öffnete die Flügeltür des Audienzsaals und die beiden Drachinnen, die Viper am Morgen bei seiner Ankunft begleitet hatten, traten ein, gefolgt von Ministern und Beratern der Königin.
Der Drachenkaiser dankte der Königin und verabschiedete sich förmlich. Fly schauderte leicht, als Viper an ihr vorüberging und sein Geruch sie einhüllte. Alles in ihr schrie danach, auf dem Absatz kehrtzumachen, doch sie hielt die Luft an und bewahrte Haltung.
Die Königin wandte sich an sie. »Fly, sei so gut und geleite unsere Gäste nach draußen. Ich wünsche, dass sie wohlbehalten nach Hause zurückkehren können.«
Fly salutierte knapp. Sie hatte verstanden, dass die Königin Viper aus dem Palast geführt wissen wollte. Sie traute den Drachen ebenso wenig wie Fly.
Fly verbeugte sich tief vor Viper und seinen Begleiterinnen. »Wenn Ihr mir folgen mögt …«
• 18 •
Der anhaltende Regen tauchte die Landschaft in graue Schleier. Raven kochte. Seit Ewigkeiten, so schien es ihm, durchkämmte er die südlichen Herbstinseln auf der Suche nach dem Zerleger. Er verspürte nicht übel Lust, dem Rjtak, wenn er ihn erst einmal gefunden hatte, den Hals umzudrehen. Seine Beute war ihm immer einen Schritt voraus. Es war ein gefährliches Spiel, das sie spielten. Doch Raven war kein Kind mehr, und auch Kel trieb schon so lange sein Unwesen, dass er an die sechzig Lebensjahre heranreichen musste.
Raven wusste immerhin, dass er auf der richtigen Spur war. In Gedanken versunken stapfte er durch den regennassen Wald auf einer der Inseln, einem Tipp folgend, den ihm ein Dorfbewohner gegeben hatte. Angeblich hielt sich seit Tagen eine merkwürdige Gestalt in einer verlassenen Köhlerhütte auf. Raven hatte wenig Hoffnung, dass es tatsächlich der Zerleger war, aber auch diesem Hinweis musste er nachgehen.
Raven starrte grimmig vor sich hin. Oh, Wolf würde ihn für diese Jagd entschädigen müssen, so viel stand fest, und zwar mit weit mehr Geld, als er ihm versprochen hatte!
Stetig rauschte der Regen auf ihn herunter. Die letzten Blätter raschelten, als der Wind durch sie hindurchfuhr. Die schlanken Gestalten der Sciuri huschten an den Baumstämmen auf und ab oder glitten mit weiten Sprüngen von Baumkrone zu Baumkrone. Ihr grünes Fell glänzte vom Regen und ihre keckernden Schreie hallten im Wald wider. In der Ferne riefen Wildgänse. Eine Horde Buschschweine mit rostgelbem Fell und weißen Pinselohren suchte unter dem Laub nach den letzten Früchten des Waldes. Irgendwo über den Baumwipfeln schrie ein Schelladler. Das Unterholz war erfüllt vom Rascheln und Wispern kleiner Lebewesen. Der ganze Wald strotzte nur so vor Leben.
Am Rand der gesuchten Lichtung blieb Raven stehen. Es war genau, wie der Mann im Dorf gesagt hatte: Dort im Schatten der Felsen stand die windschiefe Köhlerhütte. Ringsum ragten drohend die Bäume in der Dämmerung auf.
Witternd hob Raven den Kopf. Er roch einen Rjtak unter den Schichten der Walddüfte, doch die Spur war kalt und mindestens zwei Tage alt. Raven fluchte leise. Wieder eine Sackgasse. Aber vielleicht fand er ja in der Hütte einen Hinweis darauf, wohin der Zerleger gegangen war.
Er trat auf die Lichtung. Ein weiteres Mal witterte Raven, nahm alle Spuren in sich auf und fügte in seinem Kopf ein Duftbild der Lichtung zusammen, das sich wie ein Schleier über das Bild legte, welches seine Augen ihm lieferten. Kels Spur war jetzt ganz deutlich zu erkennen. Sie führte auf der anderen Seite der Lichtung zwischen den Felsen hindurch und verschwand im Wald.
Ein Rascheln ließ ihn herumfahren.
Noch bevor die Gestalt hinter ihm ihre Klingen gezogen hatte, wirbelte Raven herum und zückte seine Pistolen.
Reglos verharrten die Opponenten. Die Dunkelheit machte es schwer, zwischen Körper und Schatten zu unterscheiden.
»Bist du der Black Sniper?«, kam die volltönende Stimme des Mannes aus der Dunkelheit.
Diesen Namen hatte er schon lange nicht mehr gehört. Als Antwort hob Raven seine Pistolen.
Dann brach der Mond zwischen den Wolken hervor. Sein Silberlicht ließ die Klingen in der Hand des Mannes glänzen. Er war hochgewachsen und muskulös, mit weißem Haar und dunkler Haut. Kaum war der Mond wieder hinter einer Wolke verschwunden, griff der Fremde an. Raven wich ihm mühelos aus.
Sein Angreifer sprang zurück und warf eine Klinge. Raven duckte sich überrascht. Der Mann hatte mit dem Sichelmesser genau auf seine Kehle gezielt – er wollte ihn töten! Rasselnd kehrte die Sichelklinge in die Hand des Fremden zurück. Sie war, ebenso wie ihr Gegenstück, an einer schwarzen Metallkette befestigt. Der Mann konnte die Klingen sowohl werfen als auch im Nahkampf einsetzen. Und er wusste sich gut zu verbergen. Raven hatte ihn nicht bemerkt, bevor er sich zu erkennen gegeben hatte.
Anerkennend hob Raven die Augenbrauen. »Außergewöhnliche Waffen für einen außergewöhnlichen Kämpfer. Wer bist du?«
Der Fremde starrte ihn hasserfüllt an. »Ich bin Rhino. Und ich bin gekommen, um dich zu töten.«
Das tiefe Rubinrot in Ravens Augen wurde augenblicklich heller, als sie auf Rhinos hellroten, stechenden Blick reagierten.
»Tatsächlich?«, fragte Raven kalt. Demonstrativ hob er eine seiner Pistolen. Das kalte Metall fühlte sich wie eine Liebkosung auf seiner Haut an. Ohne Vorwarnung schoss er.
Rhino duckte sich unter den leuchtenden Loumegeschossen weg und startete einen neuen Angriff. Seine Klingen durchschnitten die Luft.
Raven wich zur Seite aus und feuerte zurück. Minutenlang waren sie sich beinahe ebenbürtig. Es war wie ein Tanz, der aus Angreifen und Ducken bestand, aus Vorstoßen und Zurückziehen. Es war ein Tanz des Todes.
Ravens schlanke, durchtrainierte Gestalt tänzelte über den unebenen Boden der Lichtung, während Rhino sichtlich an Geschwindigkeit verlor und schwerer atmete. Er mochte ein Drache sein, doch er konnte mit Raven nicht mithalten. Außerdem hatte er einen Streifschuss an der Schläfe abbekommen, sodass ihm immer wieder Blut in die Augen rann und ihm die Sicht raubte. Schließlich ließ der weißhaarige Fremde einen Moment seine Deckung sinken. Schon tauchte Raven wie ein schwarzer Schatten vor ihm auf. Er setzte seine Pistolenläufe auf Rhinos Brust.
»Ich hasse dich!«, zischte Rhino, ohne zurückzuweichen.
Raven lächelte kalt. »Und welchen Grund habe ich dir gegeben, mich zu hassen?«, fragte er.
Rhino starrte ihn ungläubig an. »Soll das ein Scherz sein?«, schrie er. Er stieß mit seinen Sichelmessern nach Raven. Der sprang zurück, ohne die Läufe seiner Pistolen hochzunehmen. Sie zielten noch immer auf das Brustbein des Drachen. »Du hast sie umgebracht! Du hast sie alle umgebracht! Verdammt! Du bist der Black Sniper! Ich habe jahrelang nach dir gesucht, du verfluchter Bastard! Sie sind alle tot. Du hast sie auf dem Gewissen, elender Verräter! Ich bringe dich um!«
»Wen habe ich getötet?«
Rhino war außer sich vor Wut. »Meine Familie, du verfluchter Hurensohn! Racoon! Du hast meine Schwester und ihre ganze Familie getötet!« Der Schmerz schien Rhino zu überwältigen. »Du hast nicht einmal ihren Partner verschont, obwohl er nicht bei ihnen war, als du sie umgebracht hast! Du hast sie gejagt und zu Tode gehetzt! Sie waren Alchemisten, sie haben nichts getan! Wie kannst du das vergessen? Sie waren Drachen, verstehst du, Drachen! Wie kannst du so gleichgültig sein?«
Mit der Kraft der Verzweiflung bäumte Rhino sich auf und hieb mit seinen Sichelmessern nach Raven. Mit reglosem Gesicht feuerte Raven zweimal. Er traf Rhino ins rechte Schlüsselbein und in den linken Oberschenkel. Der weißhaarige Drache stürzte zu Boden, nur um sich sofort wieder aufzurappeln.
»Du verdammter Überläufer! Warum hilfst du ihnen, uns auszurotten? Warum?« Er schwankte. Blut strömte aus seinen Wunden. Schwer atmete er durch seine zusammengebissenen Zähne. Er war erledigt, das wusste er ebenso gut wie Raven.
Der hielt seine Pistolen locker in den Händen und sah Rhino kalt an. »Lass mich eines klarstellen: Es ist mir egal, wen ich töte. Ich töte um des Tötens willen, und solange ich dafür gut bezahlt werde, ist es mir gleichgültig, ob meine Beute Menschen, Drachen oder sonst einem Volk angehört.« Er breitete die Arme aus. »Außerdem macht es mir Spaß, zu jagen und meine Beute zur Strecke zu bringen. Und natürlich macht es Spaß, sie am Ende zu töten.«
Rhino erschauerte. Zum ersten Mal zeigte er Angst. »Das ist es also.« Er senkte den Kopf. Sein helles, blutgesträhntes Haar fiel ihm in die Stirn. »Die Drachen sind dir gleichgültig.« Er atmete rasselnd ein. »Es ist nicht wahr, was sie über dich erzählen, Black Sniper. Sie sagen, du seist grausam und mitleidlos, aber sie liegen falsch. Du bist völlig wahnsinnig!«
Raven feixte. »Meinst du, ja?« Er tat, als würde er nachdenken. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht bin ich wahnsinnig, vielleicht auch nicht. Aber was auch immer ich bin, es ändert nichts daran, dass ich dich jetzt töten werde.«
Rhino umfasste seine blutigen Klingen fester. Es war Rhinos eigenes Blut, das daran herabtropfte. Dieser Kampf war längst entschieden. Seine Miene war eine Maske aus Schmerz und Hass. »Du verfluchtes Monster! Ich werde nicht zulassen, dass du weiterhin Drachen tötest!«
»Ganz, wie du willst.« Damit zielte Raven und drückte ab. Die Loumegeschosse schlugen lautlos in Rhinos Brust ein und traten aus seinem Rücken wieder aus. Der weißhaarige Drache fiel, und dieses Mal würde er nicht wieder aufstehen. Seine muskulösen Glieder zuckten unter Krämpfen. Er hob ein letztes Mal den Kopf und sah Raven an. »Bastard«, stieß er hervor, dann brach der Blick seiner hellroten Augen und er lag still.
Ein Windstoß fuhr durch die Baumwipfel. Der Wald schien aufzuseufzen. Ein Wispern raunte auf der Lichtung, als sich der Bannzauber auf Rhino löste und er seine ursprüngliche Drachenform zurückgewann.
Ohne den Toten eines weiteren Blickes zu würdigen, stieg Raven über ihn hinweg und hielt auf die verfallene Jagdhütte und die Felsen dahinter zu. Der schwere Blutgeruch überdeckte beinahe die Duftspur, die der Zerleger hinterlassen hatte. Raven steckte mit einer geübten Bewegung seine Pistolen in die Halfter. Er sah sich um. Es war an der Zeit, diesen Ort zu verlassen. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen.