Kitabı oku: «Meine zwei Leben», sayfa 2

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Ich rufe meine Putzfrau an, Daniela. Sie ist so alt wie ich, eine gebürtige Serbin. Ich schätze sie sehr, weil sie klug, ehrlich und eine hervorragende Mutter ist. Seit sechs Jahren arbeitet sie für mich als Reinigungskraft und Küchenhilfe, noch nie hat sie mich enttäuscht. Jetzt ist sie bei mir daheim, räumt auf und bügelt. Alles unnötig geworden. Ich werde nie wieder in meiner Wohnung sein. Mein wunderschönes Leben, das gerade erst begonnen hat, ist vorbei. Ich weiß, die Hölle kommt auf mich zu. Ich will die Menschen, die ich liebe, davor bewahren, mit mir unterzugehen, mein Baby, Roland, meine Eltern, meinen Bruder. Denn sie tragen keine Schuld an meinen Verbrechen.

Ich habe Daniela am Handy. Sie versteht kaum Deutsch, aber es gelingt mir, ihr zu erklären, dass ich sie auf der Philadelphia-Brücke treffen will. Sie fragt mich, wo ich dort genau wäre. Ich stehe ungefähr in der Mitte der Brücke. Junkies und Bettler sitzen am Gehweg neben mir, überall sind Menschen, die hektisch ihrer Wege gehen. Hoffentlich findet mich Daniela in dem Trubel.

Ja, da, ich sehe sie kommen. Ich laufe ihr entgegen. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Daniela, ich brauche dringend meine schwarze Geldtasche und mein Sparbuch aus dem Safe im Geschäft. Ich drücke ihr die Schlüssel dazu in die Hände. Sie geht sofort los. Ich warte, warte, warte. Ich werde nervöser und nervöser. Alles dauert so lange.

Ja, klar: Sicherlich wird Daniela bereits verhört und kommt mit Beamten in Zivil zurück. Ich rufe sie nochmal an, obwohl ich weiß, dass ich mich damit gefährde. Sie hebt ab. Ich stehe schon auf der Brücke, behauptet sie. Ich sehe sie nicht. Doch, sie ist wirklich hier. Sie überreicht mir das Geld und mein Sparbuch. Danke. Ich gebe ihr fünfzig Euro für ihre Arbeit, umarme und küsse sie. Wir weinen beide. Sie stellt mir keine Fragen. Wir haben einander immer ohne Worte verstanden.

Daniela hatte immer ein schlechtes Verhältnis zu Holger und Manfred. Nie sprachen die beiden ihren Namen aus. Sie sagten nur: Dragica, putzen, Dragica. Sie schrien Daniela oft an und machten ihre Arbeit schlecht. Sie zeigten ihr Stellen, die angeblich schmutzig, aber in Wahrheit sauber waren. Daniela war auch manchmal dabei, wenn mich Holger und später Manfred aus nichtigen Anlässen anbrüllten.

Ich fragte mich oft, warum wir zwei uns diese Schikanen gefallen ließen. Der Grund dafür war, dass Daniela und ich die absurde Überzeugung verinnerlicht hatten, Männern dienen zu müssen. Egal wie sie sich uns gegenüber verhielten. Danielas Leben war ja auch tragisch, nie durfte sie müde oder krank sein, und nach ihrem schweren Job musste sie ihren Gatten und die Schwiegereltern bedienen, die sie wie eine Sklavin behandelten. Irre. Aber dieser Irrsinn verband uns. Eine lange Zeit hindurch.

Der Drang, mich zu unterwerfen, entwickelte sich schon sehr früh in mir. Obwohl es dafür keinen wirklichen Grund gab. Denn meine Kindheit war zwar schwierig, aber nicht schlecht. Ich hatte immer genug zu essen, einen sauberen Schlafplatz und eine Familie, die mich liebte und dafür sorgte, dass ich eine gute Ausbildung bekam. Trotz der vielen Probleme, die wir hatten. Zuerst in Mexiko und später in Spanien.

In unserer neuen Heimat galten wir als Zuwanderer und damit als minderwertig. Obwohl mein Vater Psychologie studiert und meine Mutter eine Dolmetscherausbildung hatte. Besonders die ersten Jahre in Barcelona sind für uns hart ge wesen. Vielleicht entwickelte sich mein Vater deshalb immer mehr zu einem Menschen, der kaum Widerspruch duldete. Er gab die Regeln daheim vor. Brav sein, fleißig sein. Bloß nicht auffallen. Gesetze, die für meinen Bruder und mich mitunter nicht einhaltbar gewesen sind. Aber, und das kapierte ich rasch, es war notwendig, dass es sie gab und wir sie befolgten. Denn sonst wären wir daheim im Chaos versunken.

Lange wohnten wir in einem Fünfzig-Quadratmeter-Appartement. Zu sechst. Mein Vater, meine Mutter, ihre Schwester, meine Oma und wir beiden Kinder. Mein Vater war der Hauptverdiener, doch um uns über Wasser zu halten, musste auch meine Mutter arbeiten. Sie tippte für Studenten Manuskripte ab und war mit dieser Zusatzanforderung natürlich ziemlich überfordert. Weil sie ja auch noch so viele andere Aufgaben zu bewältigen hatte. Meinen Bruder und mich zu versorgen, ihre Mutter, die körperlich laufend schwächer wurde, und meine angeblich schizophrene Tante.

Mein Bruder und ich glaubten nie an ihre Krankheit. Lange hatte sie ein ganz normales Leben geführt, damals in Mexiko. Sie war einmal eine angesehene Sportlehrerin gewesen, bildhübsch, lustig und hochintelligent. Bis ihr Vater starb. Sie verkraftete seinen Tod nicht, ging danach nicht mehr außer Haus, wusch sich nicht mehr, hörte auf zu sprechen und wurde zum Pflegefall.

Je älter ich wurde, desto mehr begriff ich, dass meine Eltern unter einem enormen Druck standen, dass an jedem Morgen ein neuer Kampf für sie begann und sie daher kaum Zeit für lange Gespräche mit mir haben konnten. Ich gewöhnte mich daran, über meine Probleme kaum, oder eigentlich gar nicht, zu sprechen. Das war ein Fehler.

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Ich hätte mit meiner Familie reden müssen, viel mehr reden. Ich hätte ihnen sagen sollen, dass ich wegen der fürchterlichen Dinge, die in Mexiko geschehen waren, an Alpträumen litt. Die Geschichte mit den Puppen war ja nicht das einzige Drama, das ich dort erlebt hatte.

Drei Mal versuchten Banditen, mich auf offener Straße zu entführen. Weiße Mädchen galten in meiner alten Heimat als wertvoll, sie ließen sich für hohe Summen an illegale Adoptionsagenturen verkaufen. Aber mein Vater schaffte es immer, die Kriminellen zu vertreiben, bevor sie mich in ein Auto zerren und verschleppen konnten. Und dann geschah auch noch diese Sache in dem Bus. Meine Mutter und ich saßen darin, nebeneinander, auf einer Bank. Plötzlich gab es einen unvorhergesehenen Stopp. Vermummte mit Waffen stürmten den Passagierraum, und sie drohten damit, die Fahrgäste zu erschießen, wenn sie ihnen nicht ihr Geld aushändigen würden.

Ich habe mich bei allen diesen Überfällen geduckt und geweint. Still geweint. Ein Verhaltensmuster, das in mir blieb. Immer wenn jemand auf mich losging, wurde ich unfähig, Widerstand zu leisten. Spürten die anderen Menschen meine Hilflosigkeit? Stand schon von klein an „mach mich fertig“ auf meiner Stirn geschrieben? Warum wäre ich wohl sonst zu einem einfachen Opfer für Vergewaltiger geworden?

Das erste Mal geschah es, als ich 16 war. Ich lernte einen jungen Mann in einer Disco kennen, er schien mir vertrauenswürdig, und als er mich auf einen Drink in seine Wohnung bat, ahnte ich nichts Böses. Bei ihm daheim fiel er über mich her.

Ich hatte daraus nichts gelernt. Ein paar Monate später passierte mir das Gleiche nochmal, wieder mit einer Bekanntschaft aus einem Lokal. Der Typ war viel älter als ich, schon um die 30. Ich ließ mich ohne Bedenken von ihm zu einer Privatparty einladen. Während des Fests ging er mit mir in ein leeres Zimmer und fesselte mich dort mit Handschellen.

Nein, ich habe mich gegen beide nicht gewehrt. Nein, ich habe nicht um Hilfe geschrien, während sie sich an mir vergingen. Nein, ich habe sie nicht bei der Polizei angezeigt. Nein, ich habe niemandem von ihren Verbrechen erzählt.

Ja, ich habe Holger und Manfred geliebt. Nur, sie nutzten diese Liebe aus und machten mich wieder zu dem Mädchen, das sich duckte und still weinte. Genauso, wie die Uniformierten, die meine Puppen töteten. Genauso, wie die Männer, die mich entführen wollten. Genauso wie die Vermummten aus dem Bus. Genauso wie meine Vergewaltiger.

Ich hätte Holger und Manfred rechtzeitig verlassen müssen. Doch ich konnte nicht. Ich schaffte das nicht. Aber ich schaffte es, sie zu töten.

DIE FLUCHT

Ich übersah alle Warnsignale und gab mich meinen Träumen hin.

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Esti, denk nicht an früher, denk an das, was auf dich zukommt. Ich sollte mein Sparbuch auflösen, so schnell wie möglich. 10.000 Euro sind darauf gebucht, ich brauche das Geld dringend. Ich laufe zum Postamt. Die Halle ist voll mit wartenden Menschen. Die Angestellten bewegen sich wie in Zeitlupe.

Endlich bin ich an der Reihe. Bitte, ich möchte alle meine Ersparnisse ausbezahlt bekommen. Die Frau am Schalter schaut mich mit einem seltsamen Blick an, sie sagt, sie wisse nicht, ob genug Bares in der Kassa wäre. Warum behauptet sie das? Hat die Polizei bereits die Banken alarmiert? Umständlich kramt sie in ihren Laden herum. Endlich gibt sie mir die Scheine. Zehn Bündel zu jeweils zehn Hundertern. Ich stopfe sie in ein Seitenfach meiner Handtasche. Ich bebe vor Nervosität, ich bilde mir ein, dass mich alle Leute in dem Raum anstarren.

Nein, das darf nicht wahr sein. Ich habe keinen Pass dabei. Weder meinen mexikanischen, noch meinen spanischen. Sie liegen daheim, bei meinen anderen Dokumenten. Warum habe ich Daniela nicht gesagt, dass sie mir meine Papiere mitbringen soll? Wie konnte ich nur darauf vergessen? Jetzt ist sie nicht mehr in meiner Wohnung, und ich selbst traue mich nicht mehr dorthin. Da sind sicherlich auch schon Polizisten.

Danke, Gott. Ich sehe in einem Auto Sascha, einen meiner Stammkunden. Ich deute ihm, anzuhalten. Die Polizei sucht mich wegen eines Blödsinns, den Manfred gemacht hat, erkläre ich ihm schnell, ich brauche dringend meine Pässe, sie sind in einem Kästchen bei mir zuhause. Bitte, hol sie für mich. Er lässt mich in seinen Wagen einsteigen, fährt in die Nähe meiner Wohnung und parkt in einer Seitengasse. Wir sehen einander stumm an. Ahnt er die Wahrheit?

Sascha zieht den Autoschlüssel nicht ab. Wenn ich in 15 Minuten nicht da bin, sagt er, dann fahr los. Ich spüre, das Ganze ist verrückt. Ich bräuchte jemanden, der mir sagt, was ich tun soll. Die Zeit läuft, und die Blockade in meinem Kopf wird immer größer. Wozu brauche ich meine Pässe, wenn die Fahnder sowieso schon meinen Namen wissen? Kann ich Sascha trauen?

Wir mochten einander, vom ersten Moment an. Seit er vor sechs Jahren zu mir ins Geschäft kam, einen Eisbecher bestellte und wir, während er ihn langsam auslöffelte, zu plaudern anfingen. Wir redeten damals über nichts Besonderes, genauso wenig wie bei seinen vielen weiteren Besuchen im Lokal. Aber irgendwie fühlte ich mich immer wohl in seiner Nähe.

Sascha ist jünger als ich, Mitte zwanzig, 1,80 groß, sehr schlank, Kopf komplett rasiert. Er hat blaue Augen, markante Gesichtszüge, einen scharfen Verstand und einen speziellen Humor. Ich liebte es immer, mich mit ihm zu unterhalten. Ich bin mir sicher, dass er Tabletten nimmt, nicht ständig und nicht im Übermaß, aber seine Sucht ist ihm anzusehen. Sensible Menschen wie er geraten oft in diese Falle.

Als Manfred und ich vor vier Jahren, ich war noch mit Holger verheiratet, eine geheime Affäre anfingen, sah er uns einmal zusammen in einem Gastgarten sitzen. Sascha wusste sofort Bescheid. Meine Blicke hätten mich verraten, erzählte er mir später. Er sprach nie zu irgendjemandem über mein Verhältnis mit Manfred. Das rechne ich ihm bis heute hoch an.

Sascha ist okay, rede ich mir ein. Er hat einen guten Charakter. Ich hoffe, ich täusche mich nicht in ihm. Denn ich habe mich ja schon so oft in Männern getäuscht.

Meinen ersten Freund lernte ich mit 17 kennen. Er war zwei Jahre älter als ich, hatte brünette Haare, wunderschöne braune Augen, eine tolle Figur. Ich verliebte mich in ihn sofort, als ich ihn in einem Restaurant am Strand von Barcelona kennenlernte. Jahrelang war ich mit ihm zusammen.

Ich hätte schon von Beginn unserer Beziehung an begreifen müssen, dass er mich nicht liebte. Weil er sich weigerte, mich seiner Familie vorzustellen. Weil er mich nur zu sich nachhause mitnahm, wenn niemand da war. Weil er lieber auf Partys ging, als mit mir alleine Zeit zu verbringen.

Doch ich übersah alle Warnsignale und gab mich meinen Träumen hin. In meiner Vorstellung blieb mein Freund ein Mann, der es ernst mit mir meinte, der mich nach Abschluss meines Studiums heiraten und Kinder mit mir haben würde.

Dann stand ich da, mit meinem Diplom in der Hand, und ich sagte zu ihm, dass unsere Zukunft jetzt beginnen könne. Er verstand nicht, wovon ich sprach. Ich erklärte ihm, was passieren sollte. Ich redete von einer Hochzeit in Weiß und davon, dass wir uns schnell eine eigene kleine Bleibe suchen sollten. Davon, dass es nun an der Zeit wäre, seine Familie kennenzulernen und dass meine Eltern ihn sicherlich als Schwiegersohn akzeptieren würden. Esti, da hast du aber gehörig etwas missverstanden, meinte er, und machte mit mir Schluss.

Mein Vater und meine Mutter hatten leider Recht behalten. Sie hatten viel früher als ich begriffen, dass mein Freund nie an einer ernsthaften Verbindung mit mir interessiert war. Weil er aus einer besseren sozialen Schicht als ich stammte und das Leben nur als ein einziges großes Spiel sah. Aber ich hatte ihre Überzeugungsversuche abgewehrt, so lange Zeit, und mich weiter meinen Illusionen hingegeben. Bis ich die Rechnung präsentiert bekam.

Nach dem Ende der Beziehung fiel ich in ein tiefes seelisches Loch. Ich konnte kaum noch schlafen oder essen, ich verlor mich total. Da passierte es zum ersten Mal in meinem Leben. Etwas Fremdes, etwas Böses übernahm die Kontrolle über mich. Es war, als würde ein Regisseur in meinem Gehirn Platz nehmen und damit beginnen, meine Gedanken zu steuern.

Ich überlegte, meinen Ex-Freund umzubringen, die Bremsschläuche seines Autos oder die Therme in seiner Wohnung zu manipulieren. Immer, wenn ich solche Ideen hatte, war es, als würde ich in meinem eigenen Auto am Beifahrersitz angeschnallt sitzen, während jemand anderer den Wagen lenkte. Letztendlich schaffte ich es, einen Fuß aufs Bremspedal zu setzen und es ganz fest durchzudrücken. Ich tat meinem Ex-Freund nichts an. Es gelang mir, meine Vernichtungsfantasien zu bezwingen. Und ich war froh, als meine Eltern mich fragten: Esti, willst du den Sommer in Deutschland verbringen und dort bei einer Gastfamilie als Au-Pair-Mädchen arbeiten? Du weißt, wir haben Freunde in Bayern, sie würden dich mit offenen Armen empfangen. Meine Familie hatte offensichtlich begriffen, dass ich Ablenkung brauchte. Ja, natürlich möchte ich für eine Weile weg aus Spanien. Wann geht der nächste Flug nach München?

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Die erste Zeit in Deutschland ging es mir gar nicht gut. Der Regisseur in meinem Kopf war zwar völlig verschwunden, meine Traurigkeit aber nicht. Ich liebte diesen Mann, der mich so schrecklich enttäuscht hatte, einfach noch immer.

In diesem Zustand lernte ich Holger kennen. Nach meinem Au-Pair-Job hatte ich meinen Auslands-Aufenthalt ein bisschen verlängert, ich arbeitete nun in einem Eissalon in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Nürnberg. Irgendwann, an einem wunderschönen Sommermorgen, stand er vor mir an der Theke. Holger, ein Verkäufer von Kühlgeräten, ein großer, blonder Mann, der auf gewisse Weise meinem Ex-Freund ähnlich sah, um 14 Jahre älter als ich. Ich war damals 22, er 36.

Holger sah mich mit bewunderndem Blick an, und er machte mir Komplimente. Natürlich sagte ich ja, als er mich um ein Rendezvous bat. Und natürlich sagte ich ja, als er mich ein paar Wochen später schon fragte, ob ich seine Frau werden wollte. Esti, redete ich mir ein, da ist endlich ein Mann in dein Leben getreten, der dich nicht nur ausnutzen will. Sein Antrag kann nichts anderes bedeuten, als dass er es ernst mit dir meint und dich aufrichtig mag. Und die Liebe zu ihm wird schon noch kommen, dachte ich mir.

Holger wirkte vertrauenswürdig auf mich. Esti, du wirst es gut bei ihm haben, er wird dich vor allem Bösen auf dieser Welt beschützen, bis in alle Ewigkeit. Esti, er will bis zur Hochzeitsnacht nicht mit dir schlafen, das ist romantisch.

Ich erzählte Holger von meinem Wunsch nach einer Trauung in Weiß. Nein, mein Kleines, sagte er, das ist nicht möglich, ich bin ein Hare-Krishna-Anhänger. Bitte akzeptiere meinen Glauben genauso, wie ich deinen akzeptiere.

Die standesamtliche Zeremonie fand in kleinem Rahmen statt, nur ein paar von Holgers Freunden waren da, unsere Familien kamen nicht, weil sie unsere Entscheidung für überstürzt hielten. Ich weinte still in mich hinein, als wir einander die Eheringe an die Finger steckten. Niemand merkte meine Verzweiflung. Längst hatte ich mir die Fähigkeit angeeignet, besonders stark zu scheinen, wenn ich mich ganz schwach fühlte. Ich setzte mein Poker-Gesicht auf, lächelte und hielt mich aufrecht. Ich tanzte. Nur das Essen fiel mir schwer. Von unserer Hochzeitstorte bekam ich kaum einen Bissen runter. Ich ahnte, dass ich einen fürchterlichen Fehler gemacht hatte. Aber ich zwang mich, ganz fest daran zu glauben: Alles wird wunderbar.

Nichts wurde wunderbar. Bald ging es los. Esti, du bist so dumm. Esti, du kriegst gar nichts auf die Reihe. Esti, du bist unerotisch, nimm ein paar Kilo zu. Als Holger anfing, mich so zu behandeln, hätte ich mich sofort von ihm trennen müssen. Ich tat es nicht, weil ich eine Scheidung nicht mit meinem Glauben vereinbaren konnte. Weil ich meinen Eltern meinen Fehler nicht eingestehen wollte. Weil ich hoffte, Holger würde wieder zu dem Prinzen werden, als den ich ihn kennengelernt hatte. Weil ich ihn mittlerweile doch schon liebte.

Bald zogen wir nach Berlin, in seine Heimatstadt. Ich nahm wieder eine Stelle in einem Eissalon an. Holger arbeitete unregelmäßig bei diversen Firmen. Ich verdiente als Kellnerin gutes Geld. Holger nahm es mir immer sofort ab. Du bist zu jung und zu naiv, um es ordentlich zu verwalten, sagte er.

Manchmal lehnte ich mich gegen ihn auf, doch nur in Gedanken. Ich überlegte, nach Spanien zu meinen Eltern zurückzukehren. Holger ahnte offenbar etwas von meinen Befreiungsfantasien. Er nahm mir meine Papiere weg.

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Dann war Holger wieder nett zu mir. 2005, nachdem er zum wiederholten Mal seinen Job verloren hatte, erklärte er mir freudestrahlend: Esti, ich weiß, was dein größter Wunsch ist, du hast schon so oft darüber geredet, und jetzt werden wir ihn uns gemeinsam erfüllen. Wir werden nach Wien ziehen, dort einen Eissalon eröffnen und eine Familie gründen. Ich jubelte, ich war glücklich.

Wien war immer schon meine Traumstadt gewesen, von Jugend an hatte sie mich magisch angezogen. Ich kannte sie zwar nur aus Fotobänden, aber die Bilder von den engen Gassen mit Kopfsteinpflaster, dem Stephansdom und dem Prater mit dem Riesenrad faszinierten mich einfach. An einem Ort zu leben, an dem die Zeit ein bisschen stehengeblieben zu sein schien, müsste wundervoll sein, dachte ich.

Esti, bald bist du dort und wirst deiner Leidenschaft nachgehen können. Eis herstellen, neue Sorten kreieren, in deinem eigenen Geschäft. Esti, das klingt doch fabelhaft.

Die Suche nach einem geeigneten Lokal dauerte nicht lange. Holger und ich setzten uns vor den Computer, studierten auf österreichischen Immobilienseiten die Angebote und fanden schnell in Meidling, einem Außenbezirk von Wien, ein Geschäft zur Pacht, das „Venus“ hieß. Nicht zu teuer, nicht allzu groß. Die Fotos, die wir davon im Internet sahen, gefielen uns. Was uns auch noch positiv schien: Zu dem Eissalon gehörte ein Lager in einem Nachbarhaus, das wir bei Bedarf anmieten könnten. Eine Dusche und eine Toilette waren darin, der Raum würde sich ganz einfach zu einer Wohnung umfunktionieren lassen. Ohne viel zu überlegen, riefen wir den Anbieter an und schlossen einen Vertrag ab.

Ein paar Wochen später kamen wir in Meidling an. Ich war sofort verliebt in das Lokal. Es sah mit seinen dunkelroten Leder-Sitzgarnituren und seinen Tischen aus echtem Holz wie ein Pub aus. Ich wollte es ein bisschen niedlicher ausstatten, kaufte hübsche Aschenbecher, Tischdeckchen und Zuckerstreuer.

Schnell machten wir das Lager im Nachbarhaus zu einer netten Bleibe. Wir strichen die Wände neu, stellten unsere alten Möbel aus Berlin hinein. Innerhalb kürzester Zeit wurde dieses Zimmer, das nur eine Rumpelkammer gewesen war, zu einer kuscheligen kleinen Wohnung.

Ich erkundete die Gegend und war begeistert. Die Lage des Geschäfts schien mir perfekt. In der Nähe eine U-Bahn-Station, ein paar Gassen weiter eine Schule, rundum Büros. Esti, Holger und du, ihr habt die richtige Entscheidung getroffen, der Eissalon wird gut laufen. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie wir das Geschäft im Winter nutzen könnten. Unsere Kunden sollten dann dort Kaffee und Tee trinken und selbstgebackene Kekse kaufen.

Unsere Zukunft in Wien wird wunderbar, davon war ich überzeugt.

Kurz nach der Eröffnung des Geschäfts holte mich die Realität ein. Nein, Holger, unsere Abmachung ist nicht gewesen, dass ich schufte, während du faul auf der Couch liegst. Wir hatten anderes besprochen. Dass wir in Österreich endlich Kinder kriegen würden, zum Beispiel. Später. Wie oft habe ich dieses Wort auch von ihm gehört. Also hoffte ich auch diesmal wieder auf das Später. Während die Gegenwart laufend unerfreulicher wurde. Weil sich Holger zunehmend zu einem Spinner entwickelte.

Immer mehr fing er an, sich für Waffen zu interessieren. Immer mehr verschrieb er sich den Hare Krishnas. Immer mehr machte es ihm Spaß, mich zu demütigen. Je geduldiger ich mich seinen Anweisungen fügte, desto fordernder wurden seine Befehle. Je kraftloser ich mich fühlte, desto massiver übte er Macht über mich aus. Esti, mach dies, Esti, mach das. Esti, du bist nicht fleißig genug. Esti, es ist deine Schuld, wenn der Eissalon nicht läuft. Nichts konnte ich ihm recht machen, obwohl ich so viel für ihn tat, Miniröcke, Push-up-BHs und Stöckelschuhe anzog, um für ihn sexy zu sein. Ihn zu Schießübungen begleitete, sogar seine Pistolen, die ich hasste, putzte. Mein Ich völlig aufgab. Das Schlimmste überhaupt: Er zwang mich schließlich sogar dazu, meinen Glauben zu verleugnen und den Hare Krishnas beizutreten. Einmal pro Woche musste ich fortan mit ihm Veranstaltungen seiner Sekte besuchen und mich ihren Gesetzen unterwerfen. Nein, Esti, Sex ist nicht wichtig, sagte er, es gibt andere Dinge, die viel bedeutender sind. Aber wie sollte ich ohne Sex schwanger werden?

Heimlich ging ich weiter in die Kirche, bat Gott um Verzeihung für meine Irrwege, flehte ihn um Verständnis an, fragte ihn, wie ich mich aus der Sackgasse, in die ich mich selbst hineinmanövriert hatte, befreien sollte. Ich bekam keine Antworten.