Kitabı oku: «Meine zwei Leben», sayfa 3
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2007 begann ich eine Affäre mit Manfred. Ich hatte ihn schon kurz nach der Eröffnung unseres Eissalons kennengelernt. Manfred, etwa so alt wie Holger, ein Eismaschinenverkäufer. Eloquent, charmant, gut aussehend, ein typischer Vertreter halt. Immer wieder kam er aus beruflichen Gründen in unser Lokal, bei jedem seiner Besuche sah er mir tief in die Augen und sagte, wie schön ich sei. Zwei Jahre lang wehrte ich mich dagegen, mit ihm auszugehen, obwohl er mir so gut gefiel. Aber irgendwann konnte ich das nicht mehr. Wir wurden ein Liebespaar.
Er gab mir die Kraft, mich von Holger scheiden zu lassen. Der Fehler war nur, dass mein Ex und ich auch nach unserer Trennung, zumindest teilweise, zusammen wohnen blieben. Und Holger nicht damit aufhören konnte, mich zu kritisieren.
Wie an diesem Tag im April 2008. Ich kam nachhause, ich war müde von der Arbeit im Eissalon. Holger saß am Computer, er beschäftigte sich mit einem Ego-Shooter-Spiel, und während er in seiner Parallelwelt dutzende Feinde abschoss, wurde er laufend aggressiver gegen mich. Esti, wie konnte ich nur jemals so dumm sein, dich zu heiraten. Esti, du bist das Letzte. Esti, du wirst ohne mich untergehen. Wieder hörte ich von ihm diese Sätze, die mich innerlich so wütend machten. Wieder einmal war ich unfähig, ihm auch nur ein Wort zu entgegnen. Wieder einmal stellte ich mir vor, wie es wäre, Holger zu töten.
Ich hatte das schon oft getan. Weil mir diese Fantasien halfen, die Realität besser zu ertragen und meinen unausgesprochenen Hass zu kompensieren. Holger zu beschimpfen, ihn anzuschreien, ihm klarzumachen, was ich von ihm hielt, brachte ich nicht fertig. Da ließ ich lieber zu, dass dieser Regisseur, der alles für mich regelte, in meinem Kopf Platz nahm. Wie damals in Spanien, nachdem mein erster Freund mit mir Schluss gemacht hatte.
Ich wollte Holger nicht umbringen. Ich kämpfte gegen meine Vernichtungsgedanken an. Es gelang mir bis zu dem Moment, in dem Holger brüllte: Esti, du bist Abschaum, du wirst nie wieder einen Mann finden.
Da machte es klick, irgendein Schalter in meinem Gehirn legte sich um. Zwei Gewehre und zwei Pistolen lagen, wie so oft, ganz offen auf unserem Tisch. Ich nahm eine Beretta, stellte mich damit hinter ihn und drückte ab. Drei Mal.
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Ich denke an die Szenen von damals, während ich in Saschas Auto sitze und immer panischer werde. Ich überlege, den Wagen zu starten und Gas zu geben. Unsinn. Ich schaffe es nicht, auf einer Autobahn zu fahren, seit ich vor einem Jahr einen Unfall auf der Wiener Südosttangente hatte. Ich war damals auf dem Weg zu einem Kirtag, mit vollen Eiskanistern im Kofferraum, mein 14-jähriger Ferialpraktikant, der Sohn eines Nachbarn, saß am Beifahrersitz. Meine Bremsen versagten, vielleicht betätigte ich sie auch zu spät. Wir überstanden den Unfall beide unverletzt. Trotzdem, er ließ einen Schock in mir zurück. Beinahe wäre ein Kind wegen meiner Unachtsamkeit umgekommen.
Ich werde nie wieder auf einer Schnellstraße fahren, das hatte ich mir damals geschworen. Weil ich keine gute Autofahrerin bin und andere Menschen nur gefährde, wenn ich mit mehr als fünfzig Stundenkilometern unterwegs sein muss.
Ich beschließe, auf Sascha zu warten. Er wird zurückkommen. Oder? Ja, nein, ja, nein. Gott, danke, er ist da. Er hat nur meinen mexikanischen Pass dabei, er behauptet, er hätte den spanischen nirgendwo gesehen. Ich weiß, es hat keinen Sinn, ihn nochmals in meine Wohnung zu schicken.
Sascha, bitte bring mich zum Flughafen. Nein, geht nicht. Ich verstehe. Aber er erweist mir einen letzten Dienst, er fährt zu einem Handy-Shop, kauft ein Wertkarten-Telefon für mich. Er übergibt es mir, als ich schon ein Taxi angehalten habe. Esti, alles Gute. Tränen laufen über meine Wangen. Ich setze meine Sonnenbrille auf. Zum Airport, bitte. Der Taxichauffeur will mit mir plaudern. Woher kommen Sie? Wohin fliegen Sie? Gefällt Ihnen Wien?
Fragen, Fragen, Fragen. Warum hält der Typ nicht einfach den Mund? Ich kann keine Antworten geben, ich weine. Doch das soll er nicht merken. Ich verstärke meinen Akzent, tue, als würde ich ihn nicht verstehen. Bitte, Gott, lass uns endlich an unserem Ziel ankommen. Ich weiß, dass ich so schnell wie möglich das Land verlassen muss, aber ich kann nicht gehen, ohne vorher mit Roland geredet zu haben. Was wird er über mich denken?
Endlich komme ich am Flughafen an, ich bitte den Taxifahrer um ein Stück Papier. Ich schreibe darauf, dass ich alles, was ich besitze, Roland schenke, mein Geschäft, meine Möbel, meine Kleider, meine Bücher, und ich kritzle auch noch eine persönliche Nachricht für ihn auf den Zettel: Bitte, komm nach Schwechat, zum Flughafen. Ruf mich unter dieser Telefonnummer an, wenn du da bist. Es ist die Nummer meines Pre-Paid-Handys. Ich zahle die Taxi-Rechnung und gebe dem Chauffeur weitere zwanzig Euro, damit er den Brief Roland an seinen Arbeitsplatz bringt.
In der Abflughalle schaue ich auf die Tafeln, ich suche nach Flügen nach Spanien, nach Mexiko, nach irgendwohin. Ich kann die Anzeigen nicht lesen, die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Ich gehe zum Last-Minute-Schalter, frage den Mann hinter dem Pult nach abgehenden Flügen. Ihr Ziel? Ich bin blockiert, stottere. Egal, wohin geht die nächste Maschine? Nach Paris. Okay. Ich kaufe ein Ticket. Was, wenn es schon einen EU-weiten Haftbefehl gegen mich gibt? Ich muss mich an die Wand lehnen, um nicht umzufallen. Ich wirke auf die Leute um mich sicherlich wie eine Geistesgestörte. Niemand darf die Rettung rufen, das wäre das Ende für mich.
Wie soll ich es schaffen, mich endlich normal zu benehmen? Was soll ich tun? Kann mir das bitte jemand sagen? Ich bin nicht auf eine solche Situation vorbereitet, ich bin zu dumm, um sie zu bewältigen. Nie hatte ich Pläne für den Ernstfall entworfen. Und jetzt ist der Ernstfall da. Von Paris geht eine Maschine nach Mexiko weiter. Ich buche einen Platz darauf.
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Mein neues Telefon läutet. Roland ist am Flughafen angekommen. Ich sehe ihn mit verwirrtem Blick und mit seinem Handy am Ohr in der Halle umherirren. Liebling, dreh dich um. Er entdeckt mich jetzt auch. Wir laufen aufeinander zu, umarmen uns, nicht länger als drei Sekunden. Während ich seinen Körper an meinem spüre, ist meine Welt wieder in Ordnung. Plötzlich sind sie weg, meine Ohnmachtsgefühle.
Esti, was ist los? Ich bin zurück in der Wirklichkeit. Komm, gehen wir kurz raus auf den Parkplatz. Was soll ich Roland sagen? Ihm, diesem Menschen, dessen Leben so normal verlaufen ist. 47 Jahre hindurch. Bis jetzt.
Er war sehr jung, als er heiratete, bald bekam er mit seiner Frau zwei Söhne. Er arbeitete immer fleißig, irgendwann begann es in seiner Ehe zu kriseln, seine Scheidung erfolgte aber in Freundschaft. Danach ging er eine neue Partnerschaft ein. Sie dauerte fast neun Jahre. Ich war der Trennungsgrund. Ich, Esti, eine Mörderin.
Als wir zusammenkamen, zweieinhalb Jahre nachdem ich Holger und sechs Wochen nachdem ich Manfred getötet hatte, kannten wir einander schon einige Zeit. Manfred war mit Roland befreundet gewesen. So hatten wir einander kennengelernt. Ich mochte sofort seine ruhige Art, seine Verlässlichkeit, ich konnte gut mit ihm reden.
Klar, dass er mir beistand, mir eine seelische Stütze sein wollte, nachdem Manfred als vermisst galt. Er versuchte mich abzulenken, lud mich zum Essen ein, er erkundigte sich ständig nach meinem Befinden. Es dauerte nicht lange, bis wir uns ineinander verliebten. Ich, 15 Jahre jünger als er, versprach ihm alles Glück dieser Welt. Wir werden eine Familie gründen, sag te ich zu ihm. Er war da nicht so zuversichtlich. Esti, ich hatte Hodenkrebs und eine Strahlentherapie, meine Chancen, ein Kind zu zeugen, sind gering. Du wirst sehen, es wird klappen, erklärte ich ihm. Und es hat wirklich geklappt.
Jetzt sitzen Roland und ich am Flughafengelände, in seinem Auto, und ich weiß nicht, was ich ihm erzählen soll. Die Wahrheit geht nicht. Ich will ihn nicht zum Mitwisser machen. Er und das Baby in meinem Bauch sind die beiden Menschen, die ich am meisten liebe auf dieser Welt.
Roland, ich muss weg, dringend. Ich werde jetzt gleich nach Spanien fliegen. Warum? Er schaut mich mit einem verständnislosen Blick an. Ich spüre, er hat keinen Verdacht. Er glaubt anscheinend noch immer, dass das Polizeiaufgebot vor meinem Eissalon mit einem Einbruch beim Friseur Erkan im Zusammenhang steht. Meinem Vater geht es sehr schlecht, erkläre ich ihm, du weißt, er ist herzkrank, er wurde heute Morgen in ein Spital gebracht. Warum hast du mich nicht schon früher angerufen? Von wem hast du die Nachricht erfahren? Von deiner Mutter, von deinem Bruder?
Warum, höre ich Roland fragen, willst du mir deinen Eissalon überschreiben, bloß, weil du ein bisschen Zeit in Barcelona verbringen willst? Esti, lüg mich nicht an.
Bitte, erwarte keine Antworten von mir. Stell mir keine Fragen mehr, ich möchte dich doch nur beschützen. Wovor? Esti, erklär mir endlich, was wirklich geschehen ist. Er wird lauter. Das kann ich nicht. Ich bitte dich nur, mir zu verzeihen. Was soll ich dir verzeihen? Fürchterliche Dinge sind geschehen, sage ich, es gibt so viele Missverständnisse, ich hätte früher mit dir reden sollen. Jetzt geh, fahr wieder in die Arbeit. Sein Blick zerreißt fast mein Herz. Bitte, fahr endlich. Ich küsse ihn noch einmal und steige schnell aus seinem Wagen.
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Ich bin jetzt wieder alleine und fühle mich noch einsamer als vor dem Treffen mit Roland. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Wenn ich in Paris ankomme oder spätestens, wenn ich in Mexiko bin, wird mich die Interpol verhaften. Ich darf meine Tickets nicht benutzen. Ich muss weg vom Flughafen. Soll die Polizei hier nach mir suchen. Damit gewinne ich vielleicht etwas Zeit.
Ich steige in ein Taxi. Zum Westbahnhof, bitte. Mein Magen beginnt zu rebellieren. Mir fällt ein, dass ich heute noch nichts gegessen oder getrunken habe. Ich merke, wie hungrig und durstig ich bin. Komisch, denke ich mir, dass diese Instinkte selbst in der fürchterlichen Situation, in der ich mich befinde, noch funktionieren.
Ich schaue aus dem Fenster des Wagens. Wir fahren an zwei Lokalen vorbei, die ich jahrelang mit Eis beliefert habe. Nun begreife ich alles erst so richtig. Mein bisheriges Leben, es existiert nicht mehr. Die vielen Menschen in Wien, die ich mochte, ich werde sie nie wiedersehen, ihnen nichts erklären können. Was sollte ich ihnen sagen? Ich verstehe mich doch selbst nicht. Und ich bin auch nicht daran gewöhnt, über meine Probleme zu sprechen.
Nach der Tat an Holger ging es mir psychisch sehr schlecht, und nach der an Manfred genauso. Es ist nicht schön, Menschen zu töten. Es ist die Hölle, mit dem Wissen, eine Mörderin zu sein, zu leben. Da hilft nur verdrängen. Doch das funktioniert nicht immer, und dann laufen meine Verbrechen wie ein Film vor mir ab. Ich fürchte mich vor diesen Momenten. Tausende Male überlegte ich, mich jemandem anzuvertrauen. Einem Psychiater, meiner Mutter, einer Freundin.
Hatte ich überhaupt jemals eine Freundin, eine richtige Freundin? Eigentlich nicht. Warum nicht?
Schon von Kindheit an hatte ich Angst davor, von anderen Menschen enttäuscht zu werden. Dafür gab es Gründe. Als ich mit meiner Familie nach Spanien kam, gehörten wir der untersten sozialen Schicht an. Viele Kinder weigerten sich, mit mir zu spielen, wenn sie erfuhren, dass ich aus Mexiko stammte. Meine Mutter tröstete mich dann immer. Esti, sei nicht traurig, diese Buben und Mädchen sind dumm. Du bist gescheit, du bist ein liebenswerter Mensch, und wenn sie das nicht kapieren, sind sie deiner nicht würdig. Du bist nicht minderwertig, weil du in einem anderen Land geboren wurdest, versteh das. Ich fühlte mich trotzdem wie ein Stück Dreck.
Dann kam ich in die Schule, in eine öffentlich-katholische. Dort unterrichteten Nonnen. Obwohl ich fleißig lernte und gute Noten schrieb, mochten sie mich nicht. Ich war auch für sie bloß die arme Ausländerin. Meine Klassenkameraden orientierten sich an dem Verhalten meiner Lehrerinnen und hielten Distanz zu mir.
Mit zwölf verbesserte sich meine Situation allmählich. Meine Eltern hatten mittlerweile genug Geld gespart, um eine große Eigentumswohnung in einer guten Lage von Barcelona zu kaufen und mich auf eine Privatschule zu schicken. Dort waren meine Mitschüler netter zu mir. Sie luden mich auf Partys ein. Ich fand in meiner Klasse Mädchen, mit denen ich ins Kino gehen oder durch die Stadt bummeln konnte. Wir tauschten auch kleine Geheimnisse miteinander aus, welche Burschen uns gefielen und so. Aber über das, was wirklich in mir vorging, redete ich nicht mit ihnen.
Genausowenig wie mit meinem Vater oder meiner Mutter. Obwohl ich das inzwischen hätte tun können. Denn sie befanden sich nicht mehr im Dauer-Stress. Sie merkten schnell, wenn es mir nicht gut ging. Aber ich blockte alle ihre Versuche, in meine Seele vorzudringen, ab. Ich schaffte es einfach nicht, mit ihnen über meine Ängste und meine Traurigkeit zu sprechen. Nie.
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Ich bin am Westbahnhof angekommen. Ich gehe in die riesige Halle, kaufe im erstbesten Geschäft eine Mozzarella-Tomaten-Ciabatta und eine Flasche stilles Mineralwasser. Ich esse und trinke schnell, nehme eine Vitamintablette für Schwangere. Am Infostand erkundige ich mich nach Zügen ins Ausland. Alle fahren von Meidling ab. Aber genau dorthin darf ich auf keinen Fall. Da kenne ich so viele Leute, da ist mein Eissalon, da ist meine Wohnung, da ist die Polizei.
Wohin soll ich? Bevor ich darüber nachdenke, muss ich dringend mein Aussehen verändern. Ich gehe die wenigen Meter vom Westbahnhof zur inneren Mariahilferstraße, ich kaufe in einem Geschäft eine große, dunkle Brille. Beim Bezahlen zittern meine Hände, der Optiker schaut mich mit prüfendem Blick an. Warum schaffe ich es nicht, mich unauffällig zu benehmen?
Mit den Sonnenbrillen, die beinahe mein halbes Gesicht bedecken, fühle ich mich ein wenig sicherer, ich wage mich sogar in ein Einkaufszentrum. Minirock und Stöckelschuhe sind keine geeignete Kleidung für eine Flucht. Ich probiere eine schwarze Cargo, Größe 34, an. Sie passt. Nein, ich nehme lieber eine 36. Denn ich werde bald zunehmen. Ich bin schwanger. Ich ziehe die viel zu weite Hose über, ich bitte die Verkäuferin, das Etikett rauszuschneiden. Jetzt brauche ich noch dringend bequeme Schuhe, ich entscheide mich für dunkle Wildleder-Sneakers. Ich lasse sie ebenfalls gleich an.
Es ist fast 17 Uhr und ich bin immer noch in Wien. Esti, das geht gar nicht. Esti, du musst endlich eine Entscheidung treffen. Wieder setze ich mich in ein Taxi. Nach Erdberg, zum Busbahnhof.
Der Fahrer hat das Radio an. Die Nachrichten beginnen. Erstmeldung: In einem Keller in Wien-Meidling wurden bei Bauarbeiten zwei zerstückelte Männerleichen gefunden. Ich höre nicht, was der Sprecher sonst noch sagt. Alles um mich dreht sich. Ich glaube, ich werde verrückt.
In Erdberg erkundige ich mich nach dem nächsten Bus raus aus Österreich. Hat der Kundenbetreuer die Nachrichten gehört? Was wurde im Radio noch gesagt? Dass nach einer Frau, die mit mexikanischen Papieren unterwegs ist, gefahndet wird? Der nächste Bus fährt nach Ungarn. Und der übernächste? Nach Rumänien. Und die anderen? Alle gehen nach Osteuropa. Okay, ein Ticket nach Ungarn. Ihren Pass, bitte. Wie? Ich habe meinen Pass nicht dabei. Dann können Sie den Bus nicht nehmen, an der Grenze wird es eine Ausweiskontrolle geben.
Ich setze mich wieder in ein Taxi, wieder entsteht ein neuer Plan in meinem Gehirn. Ich habe meinen Bus nach Villach verpasst und muss noch heute dorthin, erzähle ich dem Fahrer. Das wird teuer. Wie viel? Er denkt nach. Im Radio laufen abermals die Nachrichten. Nein, bitte hör nicht hin. Na komm, mein Chauffeur, plaudere mit mir.
Natürlich, die erste Meldung handelt vom Leichenfund in Meidling. Ich bete zu Gott, dass ich in dem Bericht nicht erwähnt werde. Der Taxifahrer dreht leiser, er greift nach seinem Handy und telefoniert in türkischer Sprache. Ich verstehe ihn nicht. Mit wem redet er, was sagt er?
Ich muss nach Kärnten, das ist die einzige Chance. Von dort ist es nicht weit nach Italien. Dort wird es nicht schwierig sein, unterzutauchen. Ich kann die Sprache, ich bin oft dort gewesen. Mit Manfred. Bei Eismessen, bei Eisseminaren, um einen Bio-Eis-Salon zu besichtigen. Eis, Eis, Eis. Eis herzustellen, war meine Leidenschaft, mein Lokal mein Baby – mein Kindersatz.
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Manfred hat mich für die Energie, mit der ich mein Geschäft betrieb, bewundert. Esti, du bist großartig. Esti, du bist eine Künstlerin. Ja, so wunderbare Komplimente machte er mir damals. Früher. Am Anfang.
Wenige Tage nachdem Holger und ich unseren Eissalon in Wien eröffnet hatten, kam Manfred zum ersten Mal in unser Geschäft und bot uns seine Geräte zum Kauf an. Er gefiel mir sofort, er zog mich auf eine zauberhafte Weise an. Ich begann mir vorzustellen, ihn zu küssen, mit ihm zu schlafen, mit ihm eine Beziehung zu haben. Tagträume, denen ich mehr Zeit gab, wenn ich mit Holger Streit hatte. Aber ich habe Manfreds Vorschläge, mit ihm auszugehen, abgelehnt. Lange. Nein, Esti, du bist verheiratet. Nein, Esti, du darfst deinem Mann nicht untreu sein, auch wenn er dich kaum noch anrührt. Nein, Esti, du musst verzichten.
Irgendwann schaffte ich das nicht mehr. Es war im Juni 2007, die Stimmung zwischen Holger und mir war den ganzen Tag über schon extrem schlecht gewesen. Am Morgen hatte er in einem Wutanfall mit seinen Fäusten auf die Wand im Badezimmer eingehauen. Und später, im Eissalon, einer Frau Avancen gemacht, total sein Typ, also groß, vollbusig, breites Becken – ich fragte mich oft, warum er mich jemals anziehend gefunden hatte. Ein paar Stunden danach kam Manfred in das Lokal. Holger war da längst daheim. Diesmal sagte ich „ja“, als mich Manfred fragte, ob ich mit ihm in einem Lokal ums Eck ein Glas Wein trinken möchte.
Der Abend war wunderschön, endlich fühlte ich mich wieder begehrt und verstanden. Wir gingen noch ein paar weitere Male miteinander aus, irgendwann landeten wir im Bett. Der Sex war gut. Was Manfred zu mir sagte, klang vielversprechend. Esti, ich begreife nicht, warum du bei diesem Mann bleibst, der dich nicht zu schätzen weiß. Esti, du hast Besseres verdient. Esti, ich liebe dich. Esti, denk endlich mal an dich.
Das tat ich dann auch. Ich beschloss, mich von Holger zu trennen. Und gab mich neuen Illusionen hin. Ich malte mir aus, wie es wäre, mit Manfred verheiratet zu sein und mit ihm Babys zu haben. Meine Fantasien wurden so mächtig, dass ich sie für die Realität hielt. Ja, das ist eine echte Fähigkeit von mir. Ich bringe es fertig, mich wegzubeamen aus der Wirklichkeit und in meinen Gedanken ganz woanders zu sein. Das hat mir oft geholfen, wenn ich in schlimmen Situationen war und ich mich in eine bessere Welt transferierte. Das hat mir aber auch oft geschadet.
Im Fall von Manfred ist das so gewesen. Nach der Scheidung von Holger machte er schnell mit mir Schluss. Esti, wir haben uns beide in etwas reingesteigert, mir ist mittlerweile klar geworden, dass wir nicht zueinander passen. Ich werde bald 45, du bist einfach zu jung für mich. Die Kinder aus meiner ersten Ehe sind schon erwachsen, ich bin bereits Großvater. Ich mache mich vor mir selbst lächerlich, wenn ich nun nochmal Vater werde.
Meine Enttäuschung über seine Worte war grenzenlos, ich weinte, ich flehte Manfred an, mich nicht zu verlassen. Er tat es trotzdem. Aber das wirkliche Ende zwischen uns beiden war noch lange nicht da.
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Der Taxifahrer hat sein Handy-Gespräch beendet. Er will tausend Euro. Was? So viel? Ich habe nur 600. Bitte frag deinen Chef, ob’s billiger geht. Er schüttelt den Kopf. Das wird nicht möglich sein, sagt er, telefoniert aber nochmal. Er redet wieder türkisch. Okay, 800 und ich will das Geld sehen. 750, mehr habe ich nicht. Ich zeige ihm die Scheine. Gib mir gleich 200, und es geht los. Danke, Gott. Endlich komme ich fort.
Wir fahren in Richtung Südautobahn, vorbei an so vielen Orten, die ich gut kenne, an denen ich schon oft gewesen bin. Ich sehe prächtige Altbauten. Ich sehe ein italienisches Restaurant, in dem ich lustige Abende verbracht habe. Ich sehe Parks, in denen ich spazieren gegangen bin. Ich sehe die vielen Leute auf den Straßen. Wien einfach. Meine geliebte Stadt, in der ich nie wieder sein werde. Ich bin traurig. Ich denke an Roland. Ich denke an meine Angestellten, die jetzt arbeitslos sind. Ich denke an die Mütter meiner Opfer. Sicher haben sie bereits erfahren, dass ihre Söhne tot sind und ich sie umgebracht habe. Ich bin eine Bestie. Warum habe ich so Schreckliches getan? Ich verstehe mich selbst nicht.
Nein, keine Ausflüchte, keine Entschuldigungen mehr. Weil es keine gibt. Ich fühle mich innerlich tot. Ich denke an meine Eltern. Auch sie werden jetzt schon alles wissen. Mein Vater ist herzkrank, ich mache mir Sorgen um ihn. Wie konnte ich ihm und meiner Mutter das nur antun?
Der Taxifahrer ist Anfang dreißig, smart, schlank, groß. Er trägt gut geschnittene Jeans und ein weißes, schlichtes T-Shirt, das sich von seiner dunklen Haut abhebt. Er spricht perfekt Deutsch. Er erzählt mir nette Geschichten von seiner Frau und seinem kleinen Sohn.
Warum musst du nach Villach? Weil ich Musikerin bin und bei einer Veranstaltung auftreten soll. Woher kommst du? Aus Spanien. Und ich erwarte ein Baby. Bin ich total doof? Ich bitte ihn, eine CD einzulegen. Wenn wir weiter Radio hören, wird der Typ erfahren, dass eine im zweiten Monat schwangere Spanierin wegen Verdachts des Doppelmords gesucht wird.
Welches Instrument spielst du? Ich fühle mich überführt. Ich bastle schnell an einer neuen Story. Ich tanze bloß, erzähle ich nun. Flamenco, Salsa, Bachata. Der Taxifahrer gibt sich mit meinen Antworten zufrieden.
Er steigt aufs Gas, ich merke erst jetzt, dass wir schon auf der Autobahn sind. Wenn ich nicht schwanger wäre, würde ich die Türe des Wagens aufmachen und rausspringen. Würde ich das wirklich tun? Ich glaube schon. Mein Leben hat doch sowieso keinen Sinn mehr. Aber ich bin nicht mehr alleine. Wenn ich mich umbringe, begehe ich noch einen Mord. An meinem Kind.
Wir sind in Villach angekommen. Bitte, fahr weiter nach Italien. Ich muss in Udine auftreten. Was soll das? Ich bezahle den Extra-Weg, 300 Euro mehr, okay? Ich gebe dem Taxifahrer die restlichen 550 Euro, die bis Villach ausgemacht gewesen sind. Hast du deinen Pass dabei? Ja, aber nur meinen mexikanischen. Bist du keine Spanierin? Auch Mexikanerin. Ich bin so dumm. Ich erzähle einem Fremden mehr über mich, als notwendig wäre. Es wird doch ohnehin keine Kontrollen geben, sage ich. Diese Woche schon, weil in Italien eine wichtige politische Veranstaltung stattfindet. Nein, dann können wir nicht rüber, ich habe Probleme mit der Polizei. Der Satz springt aus mir heraus, mir wird klar, dass ich nicht mehr fähig bin, auch nur ein bisschen klug zu handeln. Wie wird der Taxifahrer auf mein Geständnis reagieren? Ich habe nichts unter Kontrolle, einfach gar nichts. Du bist schwanger und die Polizei sucht dich? Ja. Bitte, halt an. Er fährt weiter. Probieren wir, was geht.
Wir überqueren die Grenze, niemand will meine Papiere sehen. Danke, Gott. Also, wohin soll ich dich bringen? Nach Udine. Zu weit. Ich setze dich in der nächsten Ortschaft ab. Der Taxifahrer schaut auf sein Navi. Carnia ist Endstation. Okay, okay. Alles läuft besser, als ich gedacht hatte.
Wie nach meinen Taten. Schon bei meinem ersten Mord hätte ich auffliegen müssen. So bescheuert, wie ich mich damals verhalten habe.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.