Kitabı oku: «Der Fall Maria Okeke», sayfa 3

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Zwei Tage später hatte ich die Akte Okeke in der Post. Sie war für einen Suizid erstaunlich umfangreich. Welche Abklärungen können die Behörden bei Suizid schon treffen? Es gibt im Normalfall keine Verdächtigen, die zu vernehmen sind, keine Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmungen, keine Abhörprotokolle oder Listen von Deliktgut. In Marias Fall waren die Ermittlungen über den Normalfall hinausgegangen, vermutlich aufgrund des unklaren Ablaufs ihres Todes. Die Akte enthielt den Polizeirapport der besagten Nacht, das Protokoll des Augenscheins, den Bericht des Bezirksarztes. Sie enthielt die Einvernahmen der betroffenen Autofahrer, den Obduktionsbericht, die Auswertungen des Gentests und der Spurensicherung. Und sie enthielt die Befragung von Henry Okeke, dem Vater der Toten, und von ihrer Freundin, die sie zuletzt lebend gesehen hatte. Ich wollte instinktiv mit letzteren beginnen. «Wollen» im Sinne von «ich hätte es bevorzugt» oder «ich hatte den Drang dazu» oder «es wäre mir sehr genehm». Aber anstatt meinem inneren Trieb nachzugeben und mir zuerst die letzten beiden Dokumente vorzunehmen, begann ich mit der ersten Seite des Polizeiprotokolls, um die Akte systematisch Seite um Seite durchzuackern. Manchmal lohnt sich Selbstbeherrschung. Es kann sein, dass man auf erstaunliche Art und Weise dafür entlohnt wird. Es kann natürlich auch sein, dass es dich nicht weiterbringt.

Ich habe schon viele Polizeirapporte gesehen und gelesen. Der hier fiel nicht aus dem Rahmen. Der Tatort wurde in wenigen Sätzen beschrieben. Es gab eine Liste der sichergestellten Gegenstände. Die Personalien der Auskunftspersonen – der betroffenen Autofahrer – waren aufgeschrieben sowie eine Kurzzusammenfassung ihrer ersten Aussagen: In der Nacht vom 2./3. März war um 03 Uhr 15 ein Notruf bei der Polizei eingegangen. Es war eine für die Jahreszeit milde Nacht gewesen, sternenlos, da der Himmel bedeckt war. Ab und zu ging ein Schauer nieder. Die zuständigen Beamten der Nachtschicht waren ausgerückt und hatten eine menschliche Katastrophe vorgefunden. Der Autofahrer, der die Polizei gerufen hatte, Michael Meyer, sagte aus, er habe nach seiner Schicht wie immer auf der A1 nach Hause fahren wollen. Plötzlich sei er über einen grossen Gegenstand gefahren, der Wagen sei ins Schleudern geraten. An mehr konnte er sich nicht erinnern, er stand unter Schock. Wegen der Witterungsverhältnisse hatte er den menschlichen Körper nicht auf der Fahrbahn liegen sehen. Die anderen Autolenker sagten Ähnliches aus. Einige hatten Maria noch wahrgenommen, aber es war bereits zu spät, um anzuhalten oder auszuweichen. Soweit bot der Bericht keine Überraschung und nicht viel Neues. Es war eine solide Arbeit mit erstaunlich wenigen Rechtschreibefehlern. Mit Rapporten ist es aber immer so eine Sache. Ein Rapport ist ein Rapport. Ein Instrument zur objektiven Beschreibung eines Geschehens. Was fehlte, war die subjektive Meinung des Rapportierenden. Was war ihm als Erstes durch den Kopf gegangen? Was war ihm instinktiv aufgefallen? Wie hatte es sich angefühlt, als er an den Unfallort kam? Ich blätterte zurück zur ersten Seite. Der Verfasser war Detektiv Wachtmeister Guido Béjart. Ich nahm mir vor, diesen Guido Béjart bald anzurufen und ihm ein paar Fragen zu stellen. Fragen zu den Dingen, die eben gerade nicht im Rapport festgehalten worden waren. Ich hoffte, er würde mir Auskunft geben.

Worauf ich nicht gefasst war, war die ausführliche Fotodokumentation im Anhang zum Rapport. Die Bilder trafen mich mit voller Wucht. Fotos von der Fahrbahn mit dem zerschmetterten Körper. Nahaufnahmen von dem, was einmal Maria gewesen war. Bilder der Umgebung, der Brücke, der beteiligten Fahrzeuge. Bilder der blutigen Überreste.

Ich wollte mich dem Rest der Akte widmen, doch ich konnte nicht. Ständig hatte ich Marias verstümmelten, entstellten Körper vor Augen. Das eingedrückte Gesicht, das beinahe nicht mehr als solches zu erkennen war. Den weggerissenen Kiefer. Den Knochen, der weiss aus dem verformten Oberschenkel klaffte. Den zerquetschten Brustkorb. Das rotschwarze Blut. Die billigen, knappen Fähnchen, die zerfetzt und zerrissen an diesem zerstörten dunkelbraunen Körper hingen, machten die Fotos noch unerträglicher, als sie sowieso waren. Mir war schlecht. Ich schob die Akte von mir, nahm meine Zigaretten und setzte mich in den Hinterhof. Ich nahm einige tiefe Züge. Der Magnolienbaum neben mir war innert Tagen voll erblüht. Die rosa-weissen Blüten rochen stark und weckten Erinnerungen an frühere Zeiten, an andere Frühlinge. Die Vögel lärmten, und der Hund meines Büronachbarn wedelte mir aufmunternd zu. Als ich sah, wie schön die Welt sein konnte, ging es mir nicht besser. Es ging mir schlechter.

Ich rauchte eine zweite Zigarette. Trotzdem fühlte ich mich nicht in der Lage weiterzumachen. Ich würde mich ein andermal mit den Berichten und Einvernahmen befassen. Für heute hatte ich genug gelesen. Und gesehen. Es war an der Zeit für einen Anruf.

9

Ich rief den Polizeiposten an. Nach einigem Hin und Her wurde ich mit Béjart verbunden.

«Detektiv Guido Béjart?», fragte ich.

«Ja, und wer sind Sie?», fragte er einigermassen misstrauisch zurück. Er hatte eine sexy raue Stimme. Er klang wie Tom Waits auf «Closing Time».

«Moira van der Meer», sagte ich. «Ich bin Anwältin. Sie haben eine schöne Stimme», fügte ich hinzu. Weshalb nicht mal ein Kompliment machen?

Es folgte ein Moment der Stille. «Danke», meinte Guido Béjart, der Detektiv Wachtmeister. «Was wollen Sie?» Es klang, als könne er mich nicht leiden.

«Ich stelle Nachforschungen im Fall Maria Okeke an. Der Vater, Henry Okeke, hat mich beauftragt», sagte ich. «Sie waren vor Ort.»

«War ich das?», fragte er.

«Ja. In der Nacht vom 2. auf den 3. März. Sie haben den Rapport geschrieben», half ich ihm auf die Sprünge.

«Ich weiss. Das war eine rhetorische Frage. Glauben Sie wirklich, ich hätte diese Nacht vergessen.» Er atmete hörbar ein. «Und? Was wollen Sie?»

Irgendwie gestaltete sich dieses Gespräch harziger als vorgesehen. Trotz der sexy Stimme. «Ich möchte mit Ihnen über diese Nacht sprechen», sagte ich.

«Weshalb? Es steht alles im Rapport. Und den haben Sie ja.»

«Es geht nicht um den Rapport. Es geht …» Ich suchte nach Worten. «Es geht mir um Ihre Eindrücke. Darum, wie es sich angefühlt hat.»

«Wie es sich angefühlt hat? Wie meinen Sie das?»

Ich hörte förmlich, wie er seine Stirn runzelte. «Ich möchte von Ihnen wissen, wie es sich angefühlt hat. Die Situation in dieser Nacht. Das tote Mädchen. Die Umgebung. Was haben Sie gedacht? Was hat es in Ihnen ausgelöst?» Ich war überzeugt, dass er mir gleich den Hörer auflegen würde. Dass er mir sagen würde, ich sei ja verrückt und solle ihn nicht mit solchem Quark belästigen. Aber nichts dergleichen geschah.

«Wir sollten uns treffen», sagte Béjart.

Ich schwieg verdutzt. Das hatte ich nun gar nicht erwartet.

«Sind Sie noch dran?»

Ich nickte mit dem Kopf und schob ein «Hmhm» nach, als mir aufging, dass er mich ja nicht sehen konnte.

«Also? Wann und wo?»

Ich hatte nichts gegen ein Treffen mit dem Mann mit der sexy Stimme einzuwenden. Aber ich hätte doch gerne sofort eine Antwort auf meine Frage erhalten. Geduld war keine meiner Stärken. Er liess sich nicht umstimmen.

«Über gewisse Dinge spricht man nicht am Telefon. Ausserdem muss ich gleich weg.»

Na dann. Man muss manchmal ein Einsehen haben, wenn das angestrebte Ziel nicht sofort zu erreichen ist. Wir verabredeten uns für den folgenden Abend. Früher ging es nicht. Heute war er ausgebucht, morgen stand ich den ganzen Tag vor Gericht. Nachdem ich aufgelegt hatte, schob ich missmutig einen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch hin und her. Ich war unendlich neugierig auf diesen geheimnisvollen Polizisten. Ich war unendlich neugierig, was er mir mitzuteilen hatte. Ich schaute auf die Uhr. Erst vier Uhr. Irgendwie musste ich diesen Tag noch rumbringen. Ich griff erneut zum Hörer.

10

Eine Stunde später sass ich in einem Wartezimmer an der Wartstrasse, nicht weit vom Hotel Wartmann, und wartete wahnsinnig lange auf Herrn Wagner. Kein Witz. Aber was für eine Alliteration. James Wagner ist mein Therapeut. Mein Psychotherapeut. Spätestens seit «In Treatment» ist es ja durchaus angesagt, sich in Behandlung zu begeben. Der Gang zum Psychologen gehört zum Lifestyle. Eigentlich wurde dieser Trend bereits früher eingeleitet, als Tony sich in «The Sopranos» von der scharfen Jennifer Melfi therapieren liess. Legendär ist Tonys Schlussanalyse: «Ich hab irgendwann erkannt, dass unsere Mütter – dass sie Busfahrer sind. Sie sind – nein, sie sind der Bus. Sie sind das Fahrzeug, das uns hierherbringt. Sie lassen uns raus und fahren weiter. Sie setzen ihre eigene Reise fort. Und das Problem ist, dass wir dauernd versuchen, wieder in den Bus zu kommen, anstatt ihn einfach fahren zu lassen.» Immer sind die Mütter schuld. Ich bin zum Glück keine Mutter. Ich hab auch nicht vor, jemals Mutter zu werden. Wenn meine Mutter mir eines beigebracht hatte, dann das.

Und nur damit es gesagt ist: Ich hatte die Psychotherapie bereits für mich entdeckt, als ihre in Anspruchnahme noch mit Schamgefühl verbunden war. Als Psychotherapie noch gleichgesetzt wurde mit versagt haben. Eine Schraube locker haben. Nicht ganz durchgebacken sein. Zwei Jahre nach Marias Verschwinden suchte ich zum ersten Mal einen Psychologen auf. Meine sämtlichen Sitzungen würden locker eine komplette Staffel «In Treatment» ergeben, die allerdings wohl niemand sehen möchte. Seit einiger Zeit vereinbare ich nur noch sporadisch Therapiesitzungen. Ich denke, ich bin so sehr therapiert, wie ich nur therapiert werden kann. Zu mehr bin ich nicht fähig. James Wagner, mein Therapeut, sieht dies natürlich anders. Uns verbindet mittlerweile mehr ein freundschaftliches Verhältnis als eine Therapeut-Patient-Beziehung. Das hindert James aber nicht daran, mir saftige Rechnungen zu schicken.

An manchen Tagen verspüre ich das spontane Bedürfnis nach einer Unterhaltung mit James. Das Bedürfnis, ihm das Neuste aus meinem Leben zu erzählen und eine Reaktion darauf zu erhalten, eine Rückmeldung, ob ich gut unterwegs bin oder nicht. Irgendwie fehlt mir ein sechster Sinn, um das selber beurteilen zu können. Ich bin wie eine Fledermaus ohne Radar und laufe stets Gefahr, gegen ein Hindernis zu fliegen. Heute war so ein Tag. James hatte mir auf meinen Anruf hin einen Termin nach Feierabend angeboten, was mir recht war.

Und nun sass ich also hier und wartete darauf, meine Seele durchchecken zu lassen. Das Wartezimmer meines Therapeuten sieht aus, wie viele Wartezimmer von Therapeuten aussehen. Alles ist teuer, aber unauffällig: von den durchaus bequemen, aber nicht zu bequemen Designerstühlen über den geschliffenen Holzboden, den in dezenten Farben gehaltenen Kelim und die farblich stimmigen, dezenten Gemälde an der Wand. Alles vermittelt ein unaufdringliches «Fühl dich wohl hier». Die Strategie geht auf. Ich fühle mich wohl hier.

Ich hatte auch schon versucht, meine Wohnung ähnlich zu gestalten, auch sie zu einer Wohlfühloase zu machen mit Teppichen, warmen Farbtönen und dem einen oder anderen dekorativen Gegenstand. Doch es war mir nicht gelungen. Die Sachen passten nicht zu meiner Wohnung, nicht zu mir. Ich hatte mich gefühlt wie früher, als Jugendliche, wenn ich den Stil eines gerade angesagten Promis imitierte. Ich kleidete mich wie sie, schminkte mich gleich, machte die Sprache und die Mimik nach, immer im Bewusstsein, eine Nachahmerin zu sein. Immer im Bewusstsein, dass ich nicht ich selbst war, sondern eine Rolle spielte. So war es mir nach der Neuausstattung meiner Wohnung ergangen: Ich fühlte mich in meiner stimmigen dezenten Wohnung nicht wohl. Also brachte ich den ganzen Krempel kurzerhand zur Heilsarmee. Ich wurde behandelt wie die Reinkarnation der Jungfrau Maria. Meine Wohnung erhielt ihr altes, etwas schäbiges, karges Selbst zurück, und seither ist es dabei geblieben. Ich schlafe auf einem Futon, habe nur das Notwendigste an Möbeln, und die Wände sind grösstenteils kahl und weiss. Es gefällt mir so. Ich bin so. Kahl und karg. Innerlich.

Endlich kam James in Begleitung eines Patienten aus seinem Sprechzimmer. «Hi», sagte er zu mir, nachdem er den Patienten verabschiedet hatte. James ist vor drei Jahrzenten der Liebe wegen aus den USA hierhergezogen. Die Liebe ist schon lange weitergezogen, aber er ist geblieben. Er geht jetzt auf Mitte fünfzig zu. James gehört zu den Männern, die Frauen lieben und die sich immer neu verlieben wollen. So ist es nicht weiter erstaunlich – wenn für einen Therapeuten vielleicht auch nicht gerade üblich –, dass er bereits zweimal geschieden ist.

«Hallo», sagte ich und erhob mich. James begleitete mich in sein Sprechzimmer. Ich setzte mich in den Therapiestuhl.

«Wie geht’s?», fragte ich. «Immer noch am Alimente Zahlen?» Das war eine Art Dauerscherz zwischen uns. In einer schwachen Minute des Selbstmitleids hatte James sich über die horrenden Summen beklagt, die er seinen Kindern aus erster Ehe bezahlen musste. Er war der festen Überzeugung, weniger Chancen bei Frauen zu haben, da er deswegen ein armer Schlucker war. Ich hatte nicht versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

«Ja, aber nicht mehr lange.» James lachte. «In zwölf Monaten ist es vollbracht.»

«Dann bist du also bald wieder eine gute Partie», sagte ich und zwinkerte ihm zu. Ich flirtete manchmal mit James, auf eine durch und durch harmlose Art. Es war bloss Spass. Mehr war da nicht. James ist mein Therapeut. Wir kennen uns zu gut. Nein, James kennt mich zu gut, meine dunkle Seele, meine Abgründe, meine Störungen. Zwischen uns könnte nie etwas laufen nach all dem, was ich ihm erzählt habe. Das wäre echt abartig.

«Also Moira.» James lehnte sich zurück und betrachtete mich. Das Vorgeplänkel war vorüber. Nun ging es zur Sache. «Was ist los?»

Ich schlug die Augen nieder. Ich habe von meinem Vater geträumt, wollte ich sagen. Ich denke wieder immerzu an Maria, wollte ich sagen. Ich bin durcheinander, wollte ich sagen. Ich sagte nichts von allem. «Ich habe einen neuen Fall», sagte ich stattdessen.

James warf mir einen Blick zu. «Weshalb bist du hier, wenn du nicht reden möchtest?»

«Ich rede ja», sagte ich. «Ich habe einen neuen Fall.»

James zog die Augenbrauen hoch. Nach und nach gelang es ihm, mir die Details zu entlocken. Wir sprachen über die tote Maria, die sich von der Brücke gestürzt hatte. Über die Fotos, die mir so nahe gingen. Wir sprachen über meinen Vater. Und über Maria, meine Maria, meine verschwundene Maria, von der ich nicht wusste, ob sie lebte oder tot war.

«Meinst du, es ist klug, dass du diesen Fall angenommen hast?», fragte James schliesslich.

Ich zuckte die Achseln. «Ich hatte keine Wahl», sagte ich.

«Man hat immer eine Wahl.»

Wir sassen eine Weile schweigend da.

Vielleicht hat man immer eine Wahl. Aber man hat auch ein Schicksal, dem man nicht entfliehen kann. Es holt einen ein, welche Wahl man auch trifft.

«Ich will nur herausfinden, was genau mit Maria passiert ist», sagte ich.

«Mit Maria Okeke? Oder mit deiner Schwester Maria?», fragte James.

Diese Frage stellte ich mir auch die ganze Zeit, seit ich den Fall übernommen hatte.

«Und wird sie davon wieder lebendig, Maria, wenn du das herausgefunden hast?», hakte James nach.

«Vielleicht», sagte ich. «Vielleicht wird ein Teil von ihr irgendwo wieder lebendig.»

James musterte mich. «Trinkst du?», fragte er.

Die Frage war durchaus berechtigt. Es hatte Phasen in meinem Leben gegeben, da hatte ich den Tag mit einer Flasche Sekt begrüsst und mit einer Flasche Wodka verabschiedet. Es hat durchaus seine Gründe, weswegen ich erst mit Anfang dreissig mein Anwaltsexamen abgelegt hatte. Auch das war Thema meiner Therapie gewesen.

Ich schüttelte den Kopf. «Nicht mehr als sonst», sagte ich. Das stimmte. Ich trank meine drei, vier abendlichen Gläser Wein. Ohne die konnte ich nicht einschlafen. Ansonsten widerstand ich allen Versuchungen.

«Tabletten? Sonstige Substanzen?»

Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich nahm es ihm nicht übel. James kannte alle meine Laster.

«Du siehst nicht gut aus», sagte er.

«Ich weiss», sagte ich.

«Irgendwann musst du mit der Vergangenheit abschliessen», sagte James. «Dieser Auftrag hilft dir nicht dabei. Im Gegenteil.»

«Ich habe nichts abzuschliessen.»

«Du lügst», sagte James.

«Nein.»

«Du weisst, dass du lügst», sagte James.

Das stimmte. Ich vereinbarte einen weiteren Termin mit James. Ich hatte das Gefühl, ihn im Moment bitter nötig zu haben.

11

Ich war kurz vor neunzehn Uhr zu Hause. Mein Magen knurrte. Alleinstehende Frauen unter vierzig sind ja angeblich bekannt dafür, dass in ihren Kühlschränken – abgesehen von ein wenig fettfreiem Joghurt – gähnende Leere herrscht. Bei mir ist das nicht so. Mein Kühlschrank ist immer gut gefüllt. Ebenso mein Vorratsschrank. Essen ist wichtig. Hungergefühle führen dazu, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Hungergefühle machen, dass ich mich einsam fühle. Hungrig sein deprimiert mich. Durstig sein auch. Ich holte eine angebrochene Flasche Weisswein aus dem Kühlschrank und goss mir ein grosszügiges Glas ein. Dann machte ich mich an die Zubereitung meines Abendessens, eine Pasta-Primavera-Variation mit Rucola, Pepperoncini und Pecorino. Zum Essen setzte ich mich an meinen alten Kirschholztisch.

Es ist wichtig, sich nicht gehen zu lassen, wenn man alleine lebt. Vor allem, wenn man alleine lebt. Wehret den Anfängen. Fang nie an, dein Essen auf dem Sofa einzunehmen, wenn möglich noch bei laufendem Fernseher. Wenn du das einmal machst, machst du es wieder, denn es ist ja so gemütlich, und was ist schon dabei? Und du machst es nochmals und noch einmal, und beim nächsten Mal benutzt du vielleicht nicht mal mehr einen Teller und ein Glas, sondern du isst direkt aus der Pfanne, denn so ersparst du dir den Abwasch, und irgendwann kochst du auch nicht mehr, sondern kaufst nur noch Fertiggerichte, denn was soll der Aufwand nur für dich selbst? So nimmt das Chaos seinen Lauf, und eines Tages wachst du mitten in einem Müllberg auf, denn was ist schon dabei, wenn du nicht immer sofort alle Packungen und Reste wegwirfst, du lebst schliesslich alleine, also wen soll’s gross stören? Aber verrate mir, was das über dich, über deine Wertschätzung dir selbst gegenüber aussagt? Nichts Gutes. Das musste ich erst lernen. Ein Hurra auf James. Wie auch immer. Auf jeden Fall nehme ich meine Mahlzeiten zivilisiert am Küchentisch ein und setze mich erst hinterher aufs Sofa. Und siehe da, es geht mir tatsächlich besser als früher. Ich habe einige meiner selbstzerstörerischen Verhaltensweisen geändert, aber bei weitem nicht alle. Will ich auch nicht. Mich zu gut fühlen ist nicht mein Ziel. Gott bewahre mich vor dem Zustand der dauerhaften Zufriedenheit. Etwas Langweiligeres kann ich mir nicht vorstellen.

Nach dem Essen legte ich die Wassermusik von Händel in den CD-Player und fläzte mich mit einem weiteren Glas Wein aufs Sofa. Ich liebe klassische Musik. Sie beruhigt mich. Sie lässt mich nachdenken. Sie macht mich glücklich und wehmütig. Ich dachte an meine Schwester. Ich erinnerte mich, dass Maria und ich uns einmal nach der Schule in der Stadt verabredet hatten. Wir wollten shoppen gehen. Ich kam eine halbe Stunde zu spät. Als Maria mich sah, lächelte sie glücklich. Sie sagte: «Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Ich dachte, du kommst nie mehr.»

Und dann war sie die, die nie mehr kam. Nachdem meine Schwester verschwunden war, war nichts mehr privat in unserer Familie. Die Polizei durchsuchte Zimmer, Schränke, Tagebücher, Vergangenheiten und Gedanken. Alles wurde aufgedeckt, offengelegt, entblösst. Trotzdem fanden sie keine Spur von Maria. Sie blieb spurlos verschwunden. Ich stand auf und ging zum Bücherregal, wo an prominenter Stelle ein Foto von Maria steht, aufgenommen kurz bevor sie verschwand. Wie oft habe ich das Foto schon zur Hand genommen. Wie oft habe ich es studiert, wie oft Maria angestarrt, als könnte der unterbelichtete Abzug mir irgendetwas über sie erzählen, zu mir sprechen. Ich seufzte und wandte mich ab. Ich bewegte mich am Rande gefährlicher Gewässer. Wenn ich noch weiter über Maria nachdachte, würde ich mich betrinken müssen. Und da ich am Morgen Verhandlung am örtlichen Gericht hatte, kam das nicht in Frage. Ich stellte mein Glas zur Seite und nahm die Akten zur Vorbereitung für den morgigen Tag zur Hand.

Später streckte ich mich auf meinem Futon aus. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, vor schwierigen Verhandlungen Meditationsübungen für gutes und leichtes Einschlafen zu praktizieren. Ich versuchte, an nichts zu denken. Da, wo sich normalerweise meine Gedanken befanden, sollte ein grosses weisses Loch entstehen. Es funktionierte nicht. Da, wo sich normalerweise meine Gedanken befanden, befand sich nur ein Gedanke, nämlich der an meine Schwester. Ich brach die Übungen ab. Ich trank ein letztes Glas Wein und rauchte eine Zigarette am Fenster. Wieder war die Nacht klar, und ich konnte die Sterne sehen. Da hatte ich eine Art Eingebung: Vielleicht sollte ich bei der toten Maria ähnlich vorgehen wie die Polizei bei meiner verschwundenen Maria. Vielleicht sollte ich nach Spuren suchen. Vielleicht sollte ich ihr Zimmer durchsuchen, ihren Schrank, ihr Tagebuch und ihre Vergangenheit.

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