Kitabı oku: «Tod in Winterthur», sayfa 2
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Ich ging quer über den Rasen auf den Pavillon zu. Das Gras war saftig grün, in den Lavendelbüschen summten die Bienen, und da und dort flatterte ein bunter Schmetterling durch die Gegend. Ein idyllischer Spätsommermorgen für den Betrachter, der das Blutbad im Inneren des Hauses nicht sehen konnte.
Die Kriminaltechniker waren an der Arbeit, Jan war bereits abtransportiert worden. Die Blutspuren auf Teppich, Sofa und Holzdielen sprachen ihre eigene Sprache. Eine Sprache der Gewalt. Der Sinnlosigkeit.
Ich hoffte, Norah war tatsächlich unschuldig. Das hoffte ich vor allem um meinetwillen. Norah hatte meine Schwester Maria gekannt und gemocht. Mein Leben mit Maria hatte vor vierundzwanzig Jahren abrupt geendet. Erinnerungen waren das einzige, was ich hatte. So gesehen bedeutete Norah mir viel, auch wenn ich sie kaum kannte. Jan hatte mir auch viel bedeutet. Ich versuchte, all diese Gedanken abzuschütteln. Sie waren im Moment nicht hilfreich. Sie verwirrten mich.
Ich hatte den Pavillon erreicht. Bevor ich Norah gegenübertrat, sammelte ich mich. Dann ging ich zu ihr unter das Blätterdach. Norah sass auf der halbrunden, schmiedeeisernen Bank und schaute zu Boden. Sie weinte nicht. Sie schien noch immer unter Schock zu stehen, ihr Gesicht war fahl und angespannt. Ich ging zu ihr und setzte mich neben sie. Norah sah weiter zu Boden.
«Norah», sagte ich sanft und legte ihr meine Hand auf die Schulter. «Norah, ich bin jetzt hier. Alles wird gut.» Es war eine Floskel, nicht mehr. Ich wusste, dass nichts mehr gut werden würde. Ein Mensch war tot.
«Nichts wird gut.» Norah durchschaute den billigen Trick. Sie hob den Kopf und sah mich an. Im diffusen Licht im Pavillon schienen ihre Augen nicht mehr blau, sondern nachtschwarz zu sein. Nachtschwarz und voller Verzweiflung. «Nichts wird gut», wiederholte sie. Dann fing sie endlich an zu weinen. Erst lautlos, die Tränen liefen ihr über die Wangen, und ihr Mund war verzerrt. Sie begann zu schluchzen, und das Geräusch steigerte und steigerte sich, bis Norah vor Kummer und Gram erstickte Schreie von sich gab. Wortlose Schreie, die mich umso mehr ins Mark trafen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Béjart sich dem Pavillon näherte. Seine Miene war besorgt, und ich konnte ein lautloses «Brauchst du Hilfe?» von seinen Lippen ablesen. Unauffällig winkte ich ab. Norah sollte ihrer Trauer freien Lauf lassen. Vielleicht half es. Vielleicht auch nicht.
Irgendwann verstummte Norah. Sie schniefte noch ein paar Mal, dann kramte sie ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich.
«Willst du reden?», fragte ich sie.
Sie schüttelte den Kopf.
«In Ordnung», sagte ich. «Wir müssen nicht reden. Nicht jetzt.» Ich wollte noch etwas sagen, überlegte es mir aber anders.
Norah hob den Kopf und sah mich an. «Danke», sagte sie. «Du verstehst. Du hast das auch erlebt. Mit Maria.»
Wieder wollte ich etwas sagen. «Nein», wollte ich sagen. «Ich habe das nicht erlebt. Jan ist tot. Ermordet. Maria ist nur verschwunden.» Ich sagte nichts. In diesem Moment spielte es keine Rolle. Nicht für Norah.
«Komm mit», sagte ich stattdessen. «Wir gehen nach Hause.» Norah konnte nicht hier bleiben. Sie konnte nicht zurück in dieses Haus gehen; das musste ich ihr ersparen. Und sowieso durfte sie in den nächsten Tagen nicht hinein. Nicht, solange die kriminaltechnischen Ermittlungen nicht abgeschlossen waren. Ich half Norah beim Aufstehen. Erst jetzt nahm ich sie als Ganzes wahr. Sie war noch immer gross und schlank. Sie trug eine schmal geschnittene schwarze Hose und ein ebenfalls schwarzes Oberteil. Die blonden Haare fielen ihr lang und glatt über den Rücken. Die Füsse steckten in hochhackigen Pumps, die Fingernägel waren rot lackiert. Alles war perfekt. Norah war perfekt. Eine schöne, perfekte Frau. Eine unglückliche Frau.
Ich legte Norah den Arm um die Hüfte und führte sie durch den Garten zur Einfahrt. Becker trat mir in den Weg.
«Wir müssen sie vernehmen», sagte er.
«Nicht mehr heute», antwortete ich.
Becker wollte etwas erwidern, aber ich schnitt ihm das Wort ab. «Sie ist nicht verdächtig. Also lassen Sie uns gehen.» Ohne seine Entgegnung abzuwarten, ging ich mit Norah zu meinem Auto. Meist war ich mit dem Fahrrad unterwegs, aber heute Morgen hatte ich intuitiv dem Auto den Vorzug gegeben, als ich mich auf den Weg ins Büro gemacht hatte. Als hätte ich geahnt, dass ich es brauchen würde. Ich seufzte leise. Der Morgen schien ewig lange her zu sein.
Béjart sah mir in die Augen.
Ich konnte seinen Blick nicht deuten. Es konnte Missbilligung sein. Oder Bewunderung. Auf jeden Fall machte er keine Anstalten, uns aufzuhalten. Ich setzte Norah auf den Beifahrersitz, schnallte sie an und schloss die Tür. Dann fuhr ich los. Ich würde sie zu mir nach Hause fahren, ihr die Treppe hinauf und in mein Bett helfen. Ich würde Norah ein Beruhigungsmittel verabreichen – ich hortete ein paar Temesta für Notfälle. Dann würde ich zusehen, wie sie einschlief. Schlaf war heilsam. Und dann würde ich ihren Schlaf bewachen.
5
Ich beobachtete Norah eine Weile, während sie schlief. Sie lag reglos auf der Seite, die Knie angezogen und die Hände nahe am Gesicht. Embryonalstellung. Ihr Gesicht war verquollen und verriet die Qualen der letzten Stunden. Ansonsten sah sie ruhig und friedlich aus, ihr Atem klang gleichmässig. Dieses Bild war trügerisch. Norah würde lange keinen Frieden finden. Sie würde nie mehr die alte sein. Sie war jetzt schon eine andere Frau.
Ich ging in die Küche, zündete mir eine Zigarette an und öffnete das Fenster. Die Mittagssonne strahlte heiss vom Himmel. Der Sommer ist nicht meine Jahreszeit. Da liegt zu viel Fröhlichkeit in der Luft. Zu viel Glückseligkeit. Ich wünschte mir, dunkle Wolken würden aufziehen, ein starker Regen einsetzen.
Ich kochte mir einen starken Kaffee und rauchte eine weitere Zigarette. Ich rekonstruierte für mich den Ablauf der Tat: In der Tatnacht war das Opfer alleine zu Hause gewesen. Offensichtlich war Jan lange aufgeblieben. Vielleicht hatte er gearbeitet. Ein Glas Wein getrunken. Irgendwann war der Einbrecher zur Hintertür hereinmarschiert, hatte Jan überrascht, ihn mit mehreren Schüssen niedergestreckt und anschliessend die Wertgegenstände mitgehen lassen. Die Schüsse waren unbemerkt geblieben. Kein Nachbar hatte die Polizei gerufen. Am Morgen kam Norah nach Hause und fand Jans Leiche. Die Polizei kam. Die Kriminaltechnik kam. Später stiess ich dazu.
Ich nahm einen langen Zug und hielt eine Weile den Atem an, bevor ich den Rauch wieder ausstiess. Ich sah in den strahlend blauen Himmel hinauf. Das Diebesgut. Die offene Tür. Die Waffe. Die Schüsse. Jan, tot. Norah, schlafend in meinem Bett. Etwas fehlte. Aber was? Ich rauchte zu Ende, drückte die Zigarette aus. Ich versuchte zu glauben, dass ich es mit einem ganz normalen Fall zu tun hatte. Es gelang mir nicht wirklich.
Mein Telefon läutete. Ich erkannte die Nummer, zögerte kurz und nahm dann ab.
«Moira», sagte mein Vater. «Ich hatte einen Traum. Ich habe geträumt, du brauchst meine Hilfe.»
Ich hatte vierundzwanzig Jahre lang keinen Kontakt zu meinem Vater gehabt. Er war nach Nigeria, in seine Heimat abgehauen, als ich fünfzehn war und meine kleine Schwester Maria dreizehn. Seither hatte ich jeglichen Versuch einer Kontaktaufnahme von seiner Seite abgewehrt. Ignoriert. Bis vor ein paar Monaten. Ich hatte den Tod eines jungen Mädchens untersuchen müssen. Dabei war meine eigene, relativ erfolgreich verdrängte Vergangenheit wieder aufgekocht. Meine verschwundene Schwester. Meine dysfunktionale Mutter. Der abwesende Vater. Schliesslich hatte ich zum Telefon gegriffen und ihn angerufen. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten hatte ich wieder die Stimme meines Vaters gehört. Seither standen wir sporadisch in Kontakt. Nicht, dass wir jetzt die besten Freunde wären. Dass die Vergangenheit überwunden und die Verletzungen geheilt wären. Aber wir befanden uns in einem Prozess der Annäherung.
«Vielleicht», antwortete ich meinem Vater, «vielleicht brauche ich tatsächlich Hilfe.» Ich erzählte ihm von meinem neusten Fall. Nicht der Fall der verschwundenen Eizellen. Der andere. Der Fall der vielen Zufälle. Ich erzählte ihm vom ermordeten Jan.
«Was soll ich tun?», fragte ich seufzend.
«Tu, was du immer tust», antwortete mein Vater. «Geh den guten Weg.»
Tja, was sollte ich sagen? Das half mir nicht wirklich weiter.
«Das ist dein Name, weisst du? Mmesoma. Der gute Weg.»
Ich verstand nur Bahnhof.
«Der Name findet einen. Nicht umgekehrt», fuhr mein Vater fort.
«Ich verstehe nicht», sagte ich. «Mein Name ist Moira.»
«Moira ist der Name, den deine Mutter dir gegeben hat. Er bedeutet Schicksal. Mmesoma ist der Name, den deine Ahnen für dich ausgesucht haben. Der gute Weg.»
Ich schwieg eine Weile. Ich musste das Gehörte erst einordnen. «Ich wusste nicht, dass ich einen zweiten Vornamen habe», sagte ich schliesslich.
«Nein. Deine Mutter wollte es so. Eine Erwähnung dieses Namens, und sie ist explodiert. Du kennst sie ja.» Ein glucksendes Lachen war zu hören.
Ich konnte das nicht lustig finden. Meine Mutter ist Alkoholikerin. Ein Glas zu viel oder zu wenig, ein Wort zu viel oder zu wenig hat einen Wutanfall zur Folge. Das war schon immer so. Deswegen war mein Vater wohl auch abgehauen und hatte mich und meine Schwester Maria mit Mutter allein gelassen. Aber das war eine andere Geschichte.
Moira und Mmesoma. Schicksal und der gute Weg. Vielleicht konnte ich irgendwann etwas damit anfangen. «Und Maria?», fragte ich.
«Was ist mit ihr?», erwiderte mein Vater die Frage.
«Welchen Namen haben ihr die Ahnen gegeben?»
«Ngozi. Gesegnet.»
Nun musste ich ein Lachen unterdrücken. Ein zynisches Lachen. «Da haben sie aber schön danebengegriffen», sagte ich.
Mein Vater schwieg eine Weile. «Deine Schwester ist an einem gesegneten Ort», sagte er. «Wo immer sie auch ist, es geht ihr gut.»
«Woher willst du das wissen?», fragte ich einigermassen aggressiv.
«Ich weiss es. Ich fühle es.»
Ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass ich keinen Deut auf solche Gefühle gab. Das waren Hirngespinste. Wunschdenken.
«Du glaubst mir nicht.» Mein Vater war nicht dumm. «Noch nicht. Aber es wird die Zeit kommen, wo du selbst die Dinge spürst.»
Bald nach dieser rätselhaften Aussage beendeten wir unser Telefonat. Ich war nicht klüger als zuvor. Aber ich war um einen Namen reicher. Mmesoma. Ich sagte ihn leise vor mich hin. Er klang gar nicht mal so übel.
6
Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, Norah beim Schlafen zuzusehen, eine Kleinigkeit zu essen, unzählige Zigaretten zu rauchen und vor allem unruhig durch die Wohnung zu tigern – alles möglichst geräuschlos, um Norah nicht zu wecken. Sie sollte ruhig noch etwas schlafen, bevor sie sich der Wirklichkeit wieder stellen musste. Dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich musste raus. Raus aus meinen vier Wänden, raus aus meinem gedanklichen Hamsterrad. Ausserdem hatte ich um halb vier einen Termin in der Kanzlei. Ich vergewisserte mich, dass Norah tief und fest schlief und begab mich ein Stockwerk tiefer zu Willy Morgenroth, meinem Nachbarn und Vermieter. Auf mein Klopfen hin öffnete niemand, also ging ich in den Garten. Bei schönem Wetter ist Willy oft dort anzutreffen. Charlie, sein junger Golden Retriever, lag unter einem Baum im Schatten und liess die Zunge baumeln. Willy hingegen, mit Strohhut und Leinenhemd, machte sich mit einer grossen Heckenschere an ein paar Büschen zu schaffen.
«Willy, sind Sie des Wahnsinns?», fragte ich. «Es ist zu heiss, um draussen zu arbeiten. Und erst noch an der prallen Sonne.»
Willy liess die Schere sinken und wandte sich mir zu. «Moira. Ich habe Sie nicht kommen hören.» Schweisstropfen standen ihm auf der Stirn, und sein Gesicht war gerötet. Diese Hitze war sicher nicht gut für den 75-jährigen Willy. Ich wollte mir um ihn nicht auch noch Sorgen machen müssen.
«Willy, das kann nicht gesund sein. Kommen Sie, machen Sie eine Pause.»
Willy zog ein grosses kariertes Taschentuch hervor und tupfte sich die Stirn ab. «Es ist tatsächlich warm heute», gab er zu. «Aber irgendwann muss ich das erledigen.»
«Irgendwann, aber nicht jetzt. Kommen Sie», sagte ich energisch, «ich habe eine andere Aufgabe für Sie.»
Willy schien froh zu sein, die Gartenarbeit für heute niederlegen zu können. Ohne gross nachzufragen folgte er mir ins kühle Innere des Hauses, Charlie ihm dicht auf den Fersen.
Ich bat Willy zu mir in die Wohnung und informierte ihn bei einem Glas kalten Wassers kurz über die Situation, den ermordeten Jan und die schlafende Norah.
«Wenn Sie ein Augen auf sie haben könnten?», bat ich Willy. «Nur für ein, zwei Stunden, bis ich wieder da bin. Es käme wohl nicht gut, wenn sie aufwacht und niemand ist da.»
«Wo denken Sie hin?» Willy war entsetzt. «Ich gehe mich kurz frisch machen, und dann werden Charlie und ich uns zu der jungen Dame setzen und auf sie aufpassen.»
«Willy, Sie sind ein Schatz», sagte ich.
Er winkte verlegen ab.
Die Anfänge unserer Bekanntschaft gehen zurück auf meinen Einzug in die Dachwohnung an der Rychenbergstrasse. Willy ist Besitzer des Hauses, und eine Klausel im Mietvertrag besagt, dass wir einmal im Monat zusammen zu Abend essen. Willy wollte von Anfang an vermeiden, dass zwischen uns lediglich ein anonymes Vermieter-Mieter-Verhältnis besteht. Nun, darum musste er sich keine Sorgen mehr machen. Aus den monatlichen Abendessen war nach und nach eine Freundschaft entstanden. Diese hatte sich seit dem Fall Maria Okeke intensiviert. Sie war intimer geworden. Ich wusste nun, dass ich Willy vertrauen konnte. Er würde mir zur Seite stehen, was auch geschah.
Meist wusste ich diese neue Vertrautheit in unserer Freundschaft zu schätzen, doch manchmal schreckte ich davor zurück. Ich war es nicht gewohnt, jemanden nahe an mich heranzulassen. Willy war da anders. Er war lange Jahre verheiratet gewesen und pflegte auch nach dem Tod seiner Frau alte Freundschaften, half hier und dort. Er liebte es, eine Aufgabe zu haben. Gebraucht zu werden. Er war auch immer Feuer und Flamme, wenn er mir bei einem meiner Fälle helfen konnte, und sei es nur mit einem guten Rat.
Ich liess ihn also guten Gewissens bei der schlafenden Norah zurück und machte mich zu Fuss auf in mein Büro, ich brauchte die Bewegung. Bereits nach dreihundert Metern bereute ich diese Entscheidung. Es war mittlerweile drei Uhr nachmittags, die Sonne brannte heiss vom Himmel, und meine Leinenbluse war nach wenigen Minuten durchgeschwitzt. Aber da musste ich nun durch. Es war zu spät zum Umkehren. Ich quälte mich den heissen Asphalt entlang und war froh um jedes Bäumchen, das ein wenig Schatten spendete. Sogar zum Rauchen war es mir zu heiss. Erleichtert betrat ich gut zehn Minuten später das Backsteingebäude an der Ecke Wülflingerstrasse/Schaffhauserstrasse, in dem sich mein Büro befindet. In der Eingangshalle passte mich Melvin, mein Büronachbar, ab.
«Du hast Besuch», flüsterte er und wies mit dem Kinn Richtung Küche, die auch unser Aufenthaltsraum ist. Seit einem Einbruch in mein Büro vor ein paar Monaten war Melvin etwas paranoid. In jedem Besucher sah er eine potentielle Gefahr und behielt ihn aufmerksam im Auge.
Erstaunt und wenig erfreut zog ich meine Augenbrauen hoch. Mandanten, die zu spät kommen, sind ein Ärgernis. Mandanten, die viel zu früh kommen, sind eine Unverschämtheit.
Ich schloss die Tür zu meinen Büroräumlichkeiten auf, setzte mich an meinen Schreibtisch und leerte eine Halbliterflasche Mineralwasser. Danach fühlte ich mich etwas besser. Etwas weniger erhitzt. Ich sass einen Moment lang da und überlegte, ob ich tatsächlich tun sollte, was ich zu tun gedachte. Ja, beschloss ich, ich sollte.
Ich zog ein Handy aus meiner Tasche. Norahs Handy. Während sie ihren Dornröschenschlaf schlief, hatte ich einen Blick in ihre Handtasche geworfen und es mitgehen lassen. Was natürlich grenzwertig war. Vom moralischen Standpunkt her. Was den rechtlichen Standpunkt betraf, da befand ich mich bereits voll und ganz in der Illegalität. Aber besondere Umstände verlangen nach besonderen Mitteln. Ich durchsuchte Norahs Handy, das glücklicherweise nicht durch einen Code gesichert war. Das hatte ich gehofft. Ich kenne viele, die ihre Handys nicht sichern. Denen es zu mühsam ist, erst einen Code eingeben zu müssen. Bei mir ist das nicht der Fall. Aber ich bin von Natur aus misstrauisch. Ich gehe bei allen grundsätzlich einmal vom Schlechtesten aus.
Ich sah mir die Liste mit den ein- und ausgehenden Anrufen der letzten Tage an. Es waren merkwürdig wenige. Norah schien ihre sozialen Kontakte auf jeden Fall nicht per Handy zu pflegen. Zwei Nummern waren am häufigsten aufgeführt. Eine Nummer gehörte zu Jan, die andere zu einer Rebecca. Ich wählte letztere. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass es sich um Norahs engste Freundin handelte. Tägliche Telefonate führt man nicht mit der Putzfrau. Und wie ich in Erinnerung hatte, hatte Norah keine Geschwister.
Eine weibliche Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. Ich hatte richtig gelegen. Rebecca war Norahs Freundin. Sie war erschüttert, als ich ihr die Neuigkeiten berichtete. Sie versprach, Norah am späteren Abend abzuholen und mit zu sich zu nehmen. Norah konnte vorerst bei Rebecca wohnen. Ich war erleichtert. Norah einen Tag lang bei mir aufzunehmen, war eine Sache. Sie über einen längeren Zeitraum in meiner Wohnung zu haben eine vollkommen andere. Dafür wäre die grösste Wohnung zu klein. Ich brauche das Alleinsein. Die Einsamkeit.
Ausserdem war Norah für mich eine Fremde. Klar, sie war mit meiner Schwester befreundet gewesen. Aber das war lange her, und ich hatte sie nie gut gekannt. Ich nahm an, sie wollte mich als Anwältin mandatieren. Weswegen sonst hatte sie mich am Morgen anrufen lassen? Vielleicht würde ich als ihre Anwältin Ansprüche gegen Jans Mörder geltend machen müssen. Vielleicht würde ich als ihre Anwältin aber das bestmögliche Strafmass für sie als Mörderin von Jan herausschlagen müssen. Das war ein unwahrscheinliches Szenario, aber ich musste alles in Betracht ziehen. Ich wusste nicht, was die nächsten Tage brachten. Welche Beweise, Indizien oder Ergebnisse schliesslich vorliegen würden. Deswegen war es besser, ich liess mich nicht zu stark auf Norah ein. Deswegen war es besser, ich hielt eine gewisse Distanz.
Ich schaltete Norahs Handy aus und verstaute es wieder in meiner Tasche. Zuvor hatte ich einen kurzen Blick auf ihre neusten Mails, SMS und WhatsApp Nachrichten geworfen. Ich kam mir schäbig vor, aber wo ich das Handy schon mal hatte, wollte ich die Gelegenheit nutzen. Es gab weder im Posteingang noch bei den Textmitteilungen etwas Auffälliges; kein Mordkomplott war per Mail geschmiedet, kein reumütiges Geständnis per SMS an eine Freundin versandt worden. Auffällig war höchstens, dass Norah sehr wenige Mails und Nachrichten versandte beziehungsweise erhielt. Mit Rebecca hatte sie ab und zu gesimst und auch mit einigen anderen, aber immer ziemlich unverbindlich. Abmachungen zum Pilates und solches Zeugs. Die Mails bestanden zur Hauptsache aus Werbekram. Norah nutzte die sozialen Medien noch weniger ich. Aber es passte zu den spärlichen Telefonaten. Norah schien ein ziemlich einsamer Mensch zu sein, das war die Erkenntnis, die der schnelle Blick in ihr Handy mir lieferte.
Ich stand auf, um mich um meinen Mandanten zu kümmern, der noch immer in der Küche auf mich wartete.
7
Der Mann erhob sich, als ich die Küche betrat. Mein Halb-vier-Uhr-Termin war er definitiv nicht. Ich hatte ihn noch nie gesehen.
«Frau van der Meer?», fragte er. «Moira van der Meer?»
Ich antwortete nicht. Spontane Besuche von potentiellen Klienten kann ich nicht ausstehen. Ich führe schliesslich kein Reisebüro, sondern eine Anwaltskanzlei. Ich musterte den Mann. Er war gross und früher wohl schlank gewesen, doch nun hatte er einen unübersehbaren Bauch und wirkte auch sonst irgendwie massig. Aufgeschwemmt. Auf seinem rosigen Schädel wuchs flaumiges blondes Haar, und seine Augen waren hellblau, das Weisse rot geädert. Instinktiv verspürte ich Abneigung dem Unbekannten gegenüber. Ich mochte ihn nicht.
«Ich bin Paul Petersen», sagte er. Er sah mich an, als müsste mir das etwas sagen. Als müsste ich Bescheid wissen. «Jan Krügers Partner. Geschäftspartner», fuhr er auf mein Schweigen hin fort.
Ich atmete ein. Ich konnte Alkohol riechen. Paul Petersen hatte in den letzten Stunden offensichtlich getrunken. Es schien ihm nicht gut zu gehen.
«Es tut mir leid wegen Jan», sagte ich.
Er antwortete nicht. Statt dessen zog er ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase. Auch eine Möglichkeit, seine Gefühle zu zeigen. «Kann ich mit Ihnen reden?», fragte Paul.
Eine etwas merkwürdige Frage. Weswegen war er sonst hierhergekommen? «Deswegen sind Sie hier, nehme ich an», entgegnete ich. Ich führte ihn in mein Besprechungszimmer. Wir sassen uns gegenüber.
Paul schwieg.
«Also», hakte ich schliesslich ungeduldig nach. Ich wollte meinen nächsten Mandanten nicht unnötig lange warten lassen.
«Jan wurde ermordet», sagte Paul.
Ach was. Das waren ja Neuigkeiten. «Ich weiss», sagte ich lapidar. Wieder herrschte Schweigen. «Sind Sie deswegen hier?», fragte ich. Diese Unterhaltung strengte mich an, obwohl sie gar noch nicht richtig begonnen hatte.
Paul starrte vor sich hin. «Ich habe Jan gesehen. Heute Morgen. Wir hatten ein Meeting mit einem wichtigen Klienten. Vorher wollten wir bei ihm zu Hause noch zwei, drei Details besprechen.»
Ich hatte gewusst, dass Jan einen Geschäftspartner hatte. Ich hatte ihn mir nur anders vorgestellt. Etwas weniger vierschrötig vielleicht. Aber der erste Eindruck kann natürlich täuschen. Wahrscheinlich hatte Paul ebenfalls Kunstgeschichte studiert und mit summa cum laude abgeschlossen.
«Weshalb?»
«Weshalb was?» Paul sah mich erstaunt an.
«Weshalb wollten Sie bei Jan zu Hause geschäftliche Dinge besprechen? Weshalb nicht im Büro?»
Als ich mich mit Jan beruflich unterhalten hatten, war das in einem Zweihundert-Quadratmeter-Loft im Sulzerareal passiert, das eher Ähnlichkeiten mit einer Galerie hatte denn mit einem simplen Büro.
«Mal so, mal so. Jan hat in letzter Zeit lieber von zu Hause aus gearbeitet. Er ist vielleicht zweimal die Woche im Geschäft aufgetaucht.» Er sah mich an. «Ist das wichtig?»
Ich zuckte die Achseln. «Vielleicht. Vielleicht auch nicht.»
Paul sah etwas irritiert aus.
Mir kam ein Gedanke: «In letzter Zeit, sagten Sie, arbeitete Jan lieber von zu Hause aus. Seit wann?»
Paul zuckte die Schultern. «Ich weiss nicht genau. Seit ein paar Monaten. Ein halbes Jahr vielleicht.» Er sah an mir vorbei.
«Und Sie haben keine Ahnung, weshalb das so war?»
Paul schüttelte den Kopf. Er sah irgendwie verlegen aus. Definitiv nicht wie jemand, der die Wahrheit sagt.
Ich liess es auf sich beruhen. «Fahren Sie fort», sagte ich. «Sie wollten also heute Morgen zu Jan.»
«Genau. Ich wollte zu Jan. Schon von Weitem habe ich die ganzen Leute gesehen, die Polizisten, die Gaffer. Als ich aus dem Auto ausgestiegen bin, haben sie ihn gerade abtransportiert.» Er tastete seine Hemdtasche ab und zog ein Päckchen Zigaretten hervor. «Darf ich?»
Ich nickte, schob ihm einen Aschenbecher hin und öffnete das Fenster.
«Sie auch?» Er hielt mir das Päckchen hin.
Warum nicht? Mir ist so gut wie jede Gelegenheit zum Rauchen willkommen.
Paul zündete erst mir und dann sich selbst die Zigarette an. Nach einigen Zügen fuhr er mit seiner Schilderung fort. «Ich habe erst gar nicht begriffen, worum es geht. Als die Bahre rausgetragen wurde, dachte ich, es sei ein Unfall passiert. Ich dachte, es sei sie, die da liegt, Norah! Ich wollte rein zu Jan. Die Polizisten haben mich zurückgehalten. Und dann habe ich erfahren, was geschehen ist. Dass Jan tot sei. Ermordet. Erschossen.» Paul nahm sichtlich bewegt einen letzten Zug und drückte seine Zigarette aus. Die Erinnerung machte ihm zu schaffen.
Ich liess ihm Zeit, um sich zu sammeln. «Was wollen Sie von mir?», fragte ich dann.
«Jan hat Sie oft erwähnt», sagte Paul. «Er hat oft von Ihnen gesprochen. ‹Wenn du Probleme hast, dann such Moira van der Meer auf›, hat er gesagt. ‹Sie kann dir helfen.›»
«Und?», fragte ich und drückte meine Zigarette aus. «Haben Sie Probleme?» Ich hatte noch immer keinen blassen Schimmer, weswegen Paul Petersen hier war.
Paul starrte mich an. «Ich weiss, wer es getan hat», stiess er schliesslich hervor. «Ich glaube, sie war es. Norah.» Er fing an zu weinen. Dieser massige Mann sass in meinem Besprechungszimmer und weinte.
«Glauben Sie oder wissen Sie?»
Er zuckte mit den Schultern. Also glaubte er.
«Weswegen verdächtigen Sie Norah?», fragte ich.
Er hörte schlagartig auf zu weinen und sah mich an. «Das liegt auf der Hand», sagte er. «Sie bekommt jetzt alles.»
Ich schwieg. Meiner Meinung nach wird Geld als Mordmotiv überschätzt, von Raubmord einmal abgesehen. Es gibt andere, stärkere Beweggründe: Liebe, Eifersucht. Neid. Macht. Angst. Pauls Theorie überzeugte mich nicht. Ausserdem sah Norah nicht aus, als würde es ihr an Geld mangeln. Jan war schon immer grosszügig gewesen.
«Ich weiss noch immer nicht, was Sie von mir wollen», sagte ich. «Mit Ihrem Verdacht sind Sie bei der Polizei besser aufgehoben als bei mir.» Ich stiess meinen Stuhl zurück und erhob mich halb. Es war Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Paul hatte mir mitgeteilt, was er mir hatte mitteilen wollen. Er führte irgendetwas im Schilde. Ich wusste nur nicht was.
Paul machte keine Anstalten aufzustehen. «Sie verstehen nicht», sagte er. «Jan war reich. Er hat ein Vermögen verdient.»
Ich reagierte nicht.
«Jan und Norah hatten so ihre Schwierigkeiten», fuhr Paul fort.
«Wer hat die nicht?»
«Es ging anscheinend über das übliche Mass hinaus.»
«Ich habe verstanden, worauf Sie hinauswollen. Aber was wollen Sie von mir?»
«Ich wollte nur, dass Sie das wissen. Das ist alles. Sie sollten es wissen.» Nun erhob Paul sich endlich.
Ich führte ihn zur Tür und verabschiedete ihn, ohne ihm die Hand zu geben. Er war mir zuwider. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Seine Trauer schien mir plötzlich nur gespielt.
Auf halbem Weg hinaus drehte Paul sich um. «Das mit Jan tut mir auch echt leid für Sie. Waren Sie nicht einmal zusammen?»
Ich spürte seinen lauernden Blick auf mir. «Wir waren befreundet», sagte ich, schloss die Tür und lehnte mich dagegen. Ich dachte über Paul nach. Über Norah. Und über Jan. Meine Gedanken gefielen mir gar nicht. Ich setzte mich an den Tisch, zündete eine weitere Zigarette an und sah auf die Uhr. Kurz vor vier. Zeit, mich meinem Mandanten zu widmen. Er sass vermutlich in der Küche und wartete.