Kitabı oku: «Tod in Winterthur», sayfa 4
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Mitten in der Nacht schreckte ich hoch. Ich hatte von Jan geträumt. Ich hatte von unserer ersten gemeinsamen Nacht geträumt, von seinem makellosen, glatten Körper. Im Traum strich ich mit der Hand über seinen Brustkorb. Auf einmal waren meine Finger voller Blut.
«Jan», rief ich. «Jan, was ist los!»
Jan lachte wie ein Irrer: «Nichts ist los, Moira, nichts. Ich bin nur gerade gestorben.»
Ich begann zu schreien. Ich wachte von meinen eigenen Schreien auf. Es war heiss und stickig im Schlafzimmer; die Sonne hatte den ganzen Tag auf das Dach gebrannt, und die Wärme hatte sich gestaut. Ich stand auf und liess mir in der Küche kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, benetzte mein Gesicht. Wieder setzte ich mich ans offene Fenster. Draussen war es dunkel, selbst die Strassenlaternen waren aus. Ich sog die nächtliche Luft ein, den schweren Duft der blühenden Pflanzen, den Duft nach Gras, den Geruch des Spätsommers. Ich schloss die Augen und hatte sofort wieder Jans Bild vor mir. Schnell öffnete ich sie und sah zum Himmel hoch. Die Sterne schienen greifbar nahe, und hinter der Tanne der Nachbarn stand der Mond als schmale Sichel am Himmel. Ich sah lange zum Himmel hoch. Ich war bedeutungslos, weniger als ein Staubkorn. Jan war bedeutungslos. Wir alle sind bedeutungslos angesichts der Unendlichkeit. Trotzdem oder vielleicht deshalb begann ich zu weinen.
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Am nächsten Tag weckte mich das Läuten des Weckers um sieben Uhr. Ich war müde und hätte sonst etwas darum gegeben, den Kopf wieder aufs Kissen legen und weiterschlafen zu können.
Nach meinem Traum war an schlafen nicht mehr zu denken gewesen. Ich hatte lange Zeit auf der Fensterbank gesessen, geweint und um Jan getrauert. Später hatte ich mich zwar wieder ins Bett gelegt, aber mich während gefühlten Stunden hin- und hergewälzt. Entsprechend ging es mir heute. Aber ich musste aufstehen, ich musste in die Kanzlei. Die Fälle stapelten sich auf meinem Schreibtisch, ich hatte ein Plädoyer in einer Strafsache vorzubereiten, ich sollte diverse Schreiben verfassen, Anrufe tätigen. Und ich musste mich an den Fall der verschwundenen Eizellen machen. Immerhin hatte ich einen Vorschuss von 10 000 Franken akzeptiert. Eigentlich sollte dieser Fall sogar absolute Priorität haben.
Doch die Sache mit Jan und Norah war dazwischen gekommen. Ich fuhr hoch. Jan und Norah. Heute Nachmittag stand auch noch die Einvernahme an. Ich stiess einen Fluch aus, verliess mein Bett und setzte in der Küche Kaffee auf. Eine halbe Stunde später war ich auf dem Weg ins Büro.
Der Himmel war blau und wolkenlos; es war ein klarer, noch kühler Sommermorgen. Ein Morgen voller Versprechungen, ein Morgen, an dem alles im Bereich des Möglichen schien. Aber bald würde es wieder heiss werden und drückend.
Vorausschauend nahm ich mein Fahrrad für die kurze Strecke. Ich würde der Mittagshitze später so zwar nicht entgehen können, aber ich konnte sie schneller hinter mir lassen als zu Fuss.
Im Büro wimmelte ich Melvin ab, der schon vor mir da gewesen war. Er schien seit dem Einbruch das Büro nicht mehr zu verlassen, obwohl er als freier Journalist an keine Zeiten gebunden war. Egal. Solange er mich nicht behelligte, konnte er von mir aus in seinem Büro übernachten.
Ich erledigte erst die üblichen Routinearbeiten: Post und Mails durchgehen, To-Do-Liste aktualisieren, Tagesplan erstellen. Dann legte ich eine neue Akte an. Eine Akte mit dem Titel «Der Fall der verschwundenen Eizellen».
Nachdem das erledigt war, sass ich eine Weile ratlos da und fragte mich, wo ich anfangen sollte. Was ich von Corazollas an Unterlagen erhalten hatte, war spärlich und schnell gelesen. Ich beschloss, nicht direkt auf Angriff zu gehen. Ich würde die Wunschkinder-Klinik nicht anschreiben und Aufklärung verlangen. Das würde nichts bringen; es war nicht zu erwarten, dass die Klinik von ihrer bisherigen Aussage abweichen würde, nämlich dass Corazollas sich irrten. Ich musste anders vorgehen, subtiler. Erst einmal würde ich einige Erkundigungen über die Firma einholen und mir selbst ein Bild machen.
Einige Zeit später lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, schaute zur Decke. Im Internet hatte ich erfahren, dass der Kopf der Wunschkinder-Klinik, dieser Doktor Brock, sich einen Namen innerhalb der Gilde der Reproduktionsmediziner gemacht hatte. Er war anscheinend eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Wer in seiner Klinik einen Termin vereinbarte, der wusste bereits, dass der Star der Babymacher dort das Zepter schwang. Seine Erfolgsrate war hoch, höher als die der anderen. Die Kosten waren wahrscheinlich entsprechend. Die Wunschkinder-Klinik war als Aktiengesellschaft im Handelsregister eingetragen, und Doktor Brock sass auch im Verwaltungsrat. Etwas schlauer als zuvor war ich nun. Die Frage war, wie weiter. Kurzerhand setzte ich mich wieder gerade hin, rief die Seite der Wunschkinder-Klinik auf und füllte das standardisierte Onlineformular mit den Angaben zu meiner Person aus, um einen Beratungstermin zu vereinbaren. Ich schickte das Formular ab und wandte mich anderen Dingen zu.
Kurze Zeit später, ich kam soeben von draussen, wo ich im spärlichen Schatten des Zwergapfelbaums eine Zigarette geraucht hatte, läutete mein Telefon. Die Sekretärin der Wunschkinder-Klinik war am Apparat. Wenn das kein zuvorkommender Service war? Ich war innert weniger als einer Stunde seit Kontaktaufnahme zurückgerufen worden.
«Sind Sie alleinstehend?», fragte die Empfangssekretärin. «Ihre Angaben waren da etwas missverständlich. Wenn ja, dann dürfen wir Ihnen leider keinen Termin anbieten. Künstliche Befruchtung ist in der Schweiz von Gesetzes wegen Paaren vorbehalten.» Sie machte eine kurze Pause. «Heterosexuellen Paaren», fügte sie hinzu, als sei sie unsicher, was meine sexuelle Ausrichtung anbelangte.
«Oh, das ist kein Problem», log ich aalglatt. «Ich habe einen Partner. Einen heterosexuellen Partner.» Nachdem das geklärt war, erhielt ich – erhielten wir – einen Termin. Bis dahin würde ich mir etwas einfallen lassen, was meinen fiktiven Partner anbelangte. Hindernisse waren schliesslich dazu da, um überwunden zu werden.
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Norah wurde von Rebecca zur Staatsanwaltschaft gefahren, wo ich sie draussen auf dem Kiesplatz in Empfang nahm. Ich hatte sie absichtlich früh einbestellt; vor der Einvernahme wollte ich mich noch einmal alleine mit Norah unterhalten. Es gab einige Fragen, auf die ich gerne eine Antwort gehabt hätte. Paul betraf eine davon. Ausserdem mussten wir die ganze Sache mit meiner Mandatierung klären; die Kummer würde eine Vollmacht verlangen. Eigentlich brauchte Norah in diesem Verfahrensstadium nicht zwingend eine Vertretung, sie wurde nicht als Verdächtige befragt. Ich bezweifelte aber, dass Norah in ihrem Zustand alleine mit der ganzen Angelegenheit klarkommen würde, deswegen war es wohl ganz gut, wenn sie mich an ihrer Seite wusste.
Ich nahm Norah am Arm und lotste sie über die Strasse zum Café Lind. Norah trottete neben mir her, ihr Arm fühlte sich an wie derjenige einer Gummipuppe. Ich betrachtete sie von der Seite. Sie war sorgfältig zurechtgemacht, die Wimpern getuscht, die Lippen nachgezogen. Sie trug die gleichen Kleider wie am Vortag, mittlerweile sahen sie ziemlich ramponiert aus. Rebecca war wohl zu klein und rundlich, als dass sie sich etwas von ihr hätte leihen können. Aus dem Haus hatte sie sich nichts holen können, es war noch immer ein Tatort, die Ermittlungen waren im Gange. Und extra etwas kaufen, danach stand ihr wohl der Sinn nicht. Norah tat mir leid. Der Mann tot, ermordet – und es bleibt nicht einmal das traute Heim. Und selbst wenn es dann freigegeben würde, war es kontaminiert, vom Tod beschmutzt. Ich wusste nicht, ob ich in einem Haus mit solchen Erinnerungen jemals wieder würde leben wollen.
Im Café bestellte ich für Norah einen Vitaminsaft – sie sah aus, als könne sie ihn gebrauchen –, für mich ein Sandwich mit Käse. Ich hatte keine Zeit gehabt, etwas zu Mittag zu essen.
Während wir warteten, erläuterte ich Norah, was sie im Falle meiner Mandatierung für Rechte und Pflichten hatte. Sie unterschrieb die Vollmacht, aber ich hatte das Gefühl, sie habe kein Wort verstanden von dem, was ich gesagt hatte, und wenn sie selbst etwas sagte, so klang es schleppend, unzusammenhängend. Ich musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Norahs Gesicht war unter dem Make-up von geisterhafter Blässe, die Augen starr, die Pupillen geweitet.
«Hast du etwas genommen?», fragte ich sie.
Sie starrte mich verständnislos an.
«Ob du was genommen hast?», wiederholte ich. «Cannabis, LSD, was auch immer. Deine Pupillen sind riesig, Norah.»
Sie starrte mich an, dann fing sie an zu kichern und konnte nicht mehr aufhören. «Nur einen kleinen Joint», prustete sie. «Nur einen kleinen Joint. Oder zwei oder drei.»
Ich fand das gar nicht lustig: Total zugedröhnt und das vor der Einvernahme.
Norah entging meine missmutige Miene nicht. Sie versuchte, ihr Kichern zu unterdrücken. Es gelang ihr nur kurz, dann ging es wieder los. Irgendwann war es endlich vorüber. «Ohne hätte ich es nicht geschafft», flüsterte Norah entschuldigend. «Und Rebecca hat immer was zu Hause.»
Ein feines Früchtchen, diese Rebecca. Aber ich war wohl die letzte, die mit Steinen werfen durfte, von wegen Glashaus und so, obschon ich mit Drogen nicht wirklich viel am Hut hatte, dafür umso mehr mit anderen Stimulantien.
Die Kellnerin brachte unsere Bestellungen.
«Trink», sagte ich streng und deutete mit dem Kinn auf den Saft.
Norah gehorchte und nahm einen winzigen Schluck.
Ich biss in mein Käsesandwich. Während ich kaute, machte ich mir Gedanken zur bevorstehenden Einvernahme. Sollte ich versuchen, sie zu verschieben? Immerhin hatte Norah eine ziemliche Menge geraucht, und ich wusste nicht, wie es im Moment um ihre Urteilsfähigkeit stand. Andererseits würden wir so die Staatsanwältin verärgern. Ich entschied mich, die Einvernahme wie geplant stattfinden zu lassen. Norah stand nicht unter Verdacht. Ich musste nicht wie eine Strafverteidigerin denken, die ihrem Mandanten Zeit verschaffen wollte. Im Moment war für mich nichts zu tun, ich musste keine Abklärungen oder Nachforschungen anstellen. Der Ball lag bei der Ballistik und den Tatortspezialisten, den Kriminaltechnikern. Ich hoffte einfach, Norah könne sich in den nächsten Stunden zusammenreissen.
Ich redete Norah gut zu und nötigte sie, ihren Saft zu trinken. Dann erläuterte ich ihr, wie die Einvernahme ablaufe. Sie hörte mir nicht wirklich zu. Ich seufzte und legte dann mein Sandwich beiseite. Ich beugte mich vor, nahm ihre eiskalten Hände in meine und schaute tief in ihre Augen. «Norah», sagte ich, «Norah, hör mir zu. Es ist wichtig.» Die nächste Viertelstunde verbrachte ich damit, Norah mit einem weiteren Saft auf den Boden zurückzuholen. Sie hatte gerade ihren Mann verloren, da konnte die Staatsanwältin nicht allzu viel erwarten. Für alle Fälle deckte ich mich mit zwei Flaschen Cola ein, bevor wir uns auf den Weg machten.
«Die Staatsanwältin heisst Kummer», informierte ich Norah, als wir die Staatsanwaltschaft betraten.
«Kummer?», sagte Norah. «Wie passend.» Wieder begann sie, hysterisch zu kichern. Das konnte heiter werden.
Zwei Stunden später stand ich vor dem Gebäude der Staatsanwaltschaft. Halbzeit. Norah hatte um eine Pause gebeten. Sie war noch drinnen auf dem Klo. Ich war vorausgegangen; ich brauchte dringend eine Zigarette, ich lechzte richtiggehend danach. Norah hatte ihre Sache ganz gut gemacht. Sie hatte zwar öfters den Faden verloren, oder es musste ihr mehrere Male die gleiche Frage gestellt werden, aber alles in allem hatte sie den Ablauf der Ereignisse wiedergeben können, wie sie es mir erzählt hatte, nur detaillierter. Auch Fragen nach Jans beruflicher Tätigkeit waren gestellt worden, nach dem Geschäft, den Finanzen. In diesem Zusammenhang hatte ich Paul Petersen erwähnt. Die Kummer hatte mir einen gelangweilten Blick zugeworfen.
«Den befragen wir auch noch», hatte sie gesagt.
Norahs Reaktion war da schon um einiges interessanter gewesen. Sie war zusammengezuckt bei der Erwähnung seines Namens. Ich fragte mich, was dahintersteckte.
Im zweiten Teil würden die persönlichen Verhältnisse zur Sprache kommen: Familie, Beziehungen, Freunde, Feinde. Das würde erfahrungsgemäss der belastendere Teil werden.
Nachdem ich mir gerade einen Glimmstängel angezündet hatte, gesellte sich zu meiner Überraschung Staatsanwältin Kummer zu mir, ebenfalls heftig an einer Zigarette ziehend.
Sie bemerkte meinen Blick und zuckte leicht verschämt mit den Schultern. «Ich komme einfach nicht dagegen an.»
«Ich auch nicht.» Wir grinsten uns in einem kurzen Moment komplizenhaft an. Dann wurden wir wieder ernst.
«Was halten Sie von ihr?»
Ich war irritiert. Es war eine unübliche Frage für eine Staatsanwältin. Immerhin war ich Norahs Anwältin. «Von Norah Krüger, meinen Sie?»
Kummer nickte.
«Sie ist meine Mandantin.» Ich stiess Rauch aus.
Kummer verstand, liess aber noch nicht locker. «Sie ist sehr schön.»
Darauf hatte ich keine Entgegnung parat. Es schien auch keine erforderlich zu sein.
«Sie scheint verwirrt zu sein», fuhr Kummer fort.
«Ihr Mann wurde gerade ermordet. Es wäre eigentümlich, wenn sie nicht verwirrt wäre.»
«Trotzdem …» Kummer wollte offenbar noch etwas loswerden, doch da trat Norah durch die Tür und kam auf uns zu. Ich hielt ihr eine Flasche Cola hin.
Die Kummer drückte ihre Zigarette im überquellenden Aschenbescher aus, der an der Wand befestigt war. «Bis gleich», meinte sie und ging wieder hinein.
Ich widmete mich Norah. «So weit alles gut?», fragte ich.
Sie gab keine Antwort. Immerhin trank sie ein paar Schlucke Cola.
«Was wollte sie?» Sie machte eine Kopfbewegung zur Eingangstür.
«Die Kummer? Eine rauchen.»
«Sonst nichts?» Norah musterte mich misstrauisch.
Ich zögerte. «Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was sie wollte», sagte ich dann.
Norah fragte nicht weiter nach. Sie trank noch ein paar Schlucke, schraubte den Deckel zu. «Können wir ein paar Schritte gehen?»
Ich nickte. Norah ging neben mir her. Auf der Höhe des Gefängnisses zog sie ein silbernes Etui aus der Hosentasche.
«Tut mir leid, Moira. Aber ohne steh ich das nicht durch.» Sie nahm einen vorgerollten Joint aus dem Etui und steckte ihn in den Mund.
«Bist du wahnsinnig?» Ich zerrte sie am Arm um die Ecke auf die Hermann-Götz-Strasse. Hier konnte man uns von den Fenstern der Staatsanwaltschaft aus nicht sehen. «Kannst du damit nicht warten, bis wir fertig sind?»
Norah hatte sich den Joint bereits angezündet, und sein süsslicher Geruch hüllte mich ein. Schnell trat ich einen Schritt zur Seite.
«Nein», antwortete Norah. «Kann ich nicht. Entweder ich bin bekifft, oder ich habe Heulkrämpfe. Such dir was aus.»
14
Die Kummer rümpfte kurz die Nase und musterte Norah kritisch, als wir zurück in ihr Büro kamen, enthielt sich aber eines Kommentars und stellte ihr wortlos ein Glas Wasser hin. Dann ging es weiter mit Fragen zu Jan, zu Norah, Freunden, Feinden, Familie. Norah schlug sich wacker, obwohl die Kummer sie mehrmals auffordern musste, sich zu konzentrieren.
«Wie war ihre Ehe?»
Auf diese Frage war Norah nicht vorbereitet gewesen. Ihr Gesicht verzog sich, aber einen Augenblick später war es wieder glatt und ausdruckslos. «Gut», antwortete sie.
«Gut?», hakte die Kummer nach. «Kein Streit, keine Unstimmigkeiten?»
Norah zuckte mit den Achseln. Sie hatte die Augen nun weit geöffnet, schaute die Staatsanwältin direkt an. «Wir hatten unsere Höhen und Tiefen. Wer hat das nicht? Aber unsere Ehe war stabil.»
Norah war gut, sehr gut sogar. Aber nicht gut genug. Erfahrene Staatsanwälte riechen Halbwahrheiten hundert Meter gegen den Wind.
«Ein Tief, von dem ich wissen sollte?»
Norah zögerte. Sie wandte sich mir zu, sah mich fragend an.
Ich nickte leicht.
Norah senkte den Kopf, spielte mit dem Saum ihres Oberteils, ein Tick, der mir an ihr schon mehrfach aufgefallen war. Sie seufzte. «Mein Mann hatte eine Geliebte», sagte sie leise.
Dem protokollführenden Polizisten entwich ein mitleidiger Zischlaut. Die Kombination von Trauer und Schönheit liess ihn nicht gleichgültig. Die Staatsanwältin warf ihm einen strafenden Blick zu.
«Kennen Sie sie?»
Norah schüttelte den Kopf.
«Hat Ihr Mann Ihnen von der Frau erzählt? War es ernst, ich meine, stand eine Trennung im Raum?» Die Kummer beugte sich vor. Jetzt wurde es interessant.
Wieder schüttelte Norah den Kopf. «Ich habe sie zusammen gesehen. Er hat sie angesehen … Er sah verliebt aus.»
«Das war alles?» Kummer sah skeptisch aus.
«Das war genug.» Norah traten die Tränen in die Augen, und sie blinzelte mehrmals.
Kummer stellte noch einige Fragen nach der Geliebten. Als klar war, dass Norah tatsächlich nicht mehr wusste, liess sie das Thema fallen. Es gab offensichtlich zu wenig her. Stattdessen konzentrierte sich die Staatsanwältin auf die Gegenstände, die aus dem Haus von Jan und Norah gestohlen worden waren.
«Ich habe doch den Polizisten gestern schon gesagt, was meiner Meinung nach weggekommen ist», sagte Norah. «Die haben mich gezwungen, Raum für Raum im Haus zu inspizieren, obwohl ich Jan doch gerade erst …» Nun rollten ihr Tränen über die Wangen, aber sie machte keine Anstalten, sie wegzuwischen. Der mitfühlende Protokollführer schob ihr eine Box mit Kleenex zu. Die Kummer liess sich davon nicht erweichen. Verständlich, denn das Diebesgut war essentiell, es konnte der Schlüssel zum Täter sein. Kummer ging mit Norah also noch einmal alle abhandengekommenen Gegenstände durch. Danach war die Luft raus; Norah konnte offensichtlich nicht mehr.
Ich versuchte, der Staatsanwältin ein bisschen auf den Zahn zu fühlen, in welche Richtung sich die ganzen Ermittlungen bislang entwickelt hatten. Sie blieb vage, aber ich hörte, dass der Raubmord nach wie vor als wahrscheinliches Szenario gehandelt wurde. Natürlich würden Kummer und ihre Leute alle Angaben von Norah trotzdem einer Überprüfung unterziehen. Zeugen, Kameras, Abbuchungen auf dem Bankkonto, auffällige Geldflüsse, alles würde durchleuchtet werden. Offensichtlich hegte man aber keinen Verdacht gegen Norah, unter anderem natürlich auch wegen der fehlenden Schmauchspuren und dem leicht überprüfbaren Alibi.
Vor der Staatsanwaltschaft zündete ich mir eine Zigarette an und begleitete Norah ins Café Lind, wo sie auf Rebecca warten würde. Ich verabschiedete mich, versprach, mich zu melden, sobald es Neuigkeiten gäbe, und ging zurück in die Kanzlei. Ich hatte mein Fahrrad dort stehen lassen und musste sowieso noch ein, zwei Dinge zu Ende bringen, bevor ich Feierabend machen konnte. Ich zog mein Jackett aus und schlenderte die Lindstrasse entlang, suchte Schatten unter den in regelmässigen Abständen gepflanzten Linden. Tagsüber ist die Strasse stark befahren, und es stinkt nach Abgasen, aber in lauen Sommernächten entfaltet sich der Duft der Lindenblüten und hüllt alles ein.
Ich bog in die Brunngasse ein, querte die Schienen im letzten Moment, als die Barriere schon beinahe unten war. Eine ältere Dame schüttelte missbilligend den Kopf. Ich lächelte ihr zu und steckte mir für die letzten zweihundert Meter eine Zigarette an. Heute hatte ich mir das Nikotin verdient.
Mittlerweile war ich in meinem Büro angelangt. Ich wischte mir den Schweiss von der Stirn und setzte mich einen Moment lang in die kühle, stille Küche, schloss die Augen. In meinem Büro läutete das Telefon. Nach einem Moment des Zögerns raffte ich mich auf, ging nach nebenan, warf einen Blick auf das Display. Es war James. James Wagner, mein Psychotherapeut. Ich hätte vor mehr als einer Stunde bei ihm sein müssen. Wahrscheinlich hatte er es schon unzählige Male auf meinem Handy versucht, das aber noch immer im Lautlosmodus war.
Ich nahm den Anruf entgegen. «Es tut mir leid, James», sagte ich anstelle einer Begrüssung. «Ich habe den Termin verschwitzt.» Ich betrachtete die nass geschwitzten Stellen, die sich unter meinen Armen gebildet hatten und musste grinsen. Verschwitzt traf es in der Tat.
«Vergessen? Oder unbewusst mit Absicht nicht dran gedacht?»
Unbewusst mit Absicht? Gibt es diese Terminologie? Wie auch immer. Ich wollte mich nicht auf eine Fachsimpelei mit James einlassen, die ich bestimmt verlieren würde. «Einfach vergessen. Unabsichtlich. Wirklich, James.»
«Hm.»
Seine Skepsis konnte ich durch den Hörer wahrnehmen. Ich wollte ihn besänftigen. «Es ist jemand gestorben, James», sagte ich.
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