Kitabı oku: «Kornblumenjahre», sayfa 7

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25. Kapitel

Überlingen, Bodensee, 28. Februar 1923

»Du bist wahnsinnig, Sophie. Du bist schlicht und einfach komplett wahnsinnig.« Johanna sah ihre Freundin und Tante wütend an.

Sophie erwiderte ihren Blick kühl. »Dann bist du dir da ja ziemlich einig mit den Menschen, die den Stein auf mich geworfen haben.«

»So habe ich das doch nicht gemeint!«, rief Johanna erschrocken.

»Wie denn dann?« Sophie war tief verletzt wegen des Anschlags, und in dieser Verletztheit schlug und trat sie um sich und tat mit Absicht so, als verstehe sie Johanna nicht. Als wolle sie eine Sperre zwischen sich und ihr errichten und sich damit noch mehr isolieren.

»Du kannst doch nicht in ein Gebiet gehen, in dem der Franzosenhass kocht wie nirgendwo anders! Du bringst euch in Gefahr. Außerdem hat Luise doch geschrieben, was sie mit Siegfried gemacht haben. Auf ihn eingetreten und ihn ins Gefängnis geworfen!«

»Und weil ein paar Menschen meinen Bruder treten, sind nun alle Franzosen schlecht. Auch Pierre.«

Sophie brach in Tränen aus.

»Ach, Sophie«, Johanna zog sie in ihre Arme. »Natürlich nicht. Du weißt, dass ich nicht so denke. Aber ich habe Angst um dich. Wenn man dir schon in Überlingen einen Stein an den Kopf wirft, wie soll es dann erst im besetzten Gebiet werden, wenn die Menschen dort erfahren, dass du einmal mit einem Franzosen zusammen warst. Und dass Raphaels Vater Franzose ist.«

»Dort lebt ja keiner, der mich verrät«, zischte Sophie und befreite sich aus Johannas Umarmung. »Ich bin sicher, dass es deine Mutter war. Sie kann mir seither nicht mehr in die Augen schauen. Und es ist schon komisch: Einen Tag, nachdem sie, bis obenhin angefüllt mit Franzosenhass, hier ankommt und lange mit der Tratschtante Elsa Kleinschmitt unterwegs ist, fliegt mir ein Stein an den Kopf!«

Johanna schwieg. Sie glaubte auch, dass es ihre Mutter gewesen war, die den Verrat an Sophie begangen hatte.

»Wie auch immer«, brach Sophie schließlich das Schweigen. »Du wirst mir doch sicher zustimmen, dass es hier im Moment fast gefährlicher ist als in Essen, wo mich keiner kennt. Und wenn Helene mich wirklich verraten hat, dann macht es keinen Sinn, zu ihr nach Konstanz zu ziehen. Denn dann wird sie mich auch dort verraten.«

»Da hast du nicht unrecht«, murmelte Johanna. »Aber ins Ruhrgebiet gehen, ich weiß nicht … Ich habe ein ungutes Gefühl. Es ist das gleiche Gefühl der Bedrohung, das ich hatte, kurz bevor Luise und ich nach Russland entführt wurden.«

»Ach was«, lachte Sophie. »Uns wird schon nichts passieren.«

Doch sie sollte sich irren.

26. Kapitel

Essen, Ruhrgebiet, 9. März 1923

Sophie kämpfte sich mit Raphael durch die dichte Menschenmenge im Bahnhof. Sie hielt ihren Sohn fest an der Hand, um ihn nicht zu verlieren. Mit der Rechten trug sie den schweren Koffer, in dem sich die notwendigsten Dinge befanden. Auch Raphael hatte einen Koffer bei sich. Vor einer halben Stunde waren sie am Bahnhof angekommen, und seitdem hatte Sophie das Gefühl, die Stadt würde sie verschlingen. Zum ersten Mal fragte sie sich bang, ob Johanna vielleicht doch recht gehabt hatte mit ihrer Warnung. Ob sie auf die Freundin hätte hören sollen. Andererseits war bisher ja alles gut gegangen. Johanna hatte ihr auch von der Zugfahrt abgeraten, gerade im Zugverkehr, hatte sie zu bedenken gegeben, kontrollierten die Franzosen viel. Sie beschlagnahmten Lokomotiven und durchforsteten die Waggons nach Kohle, denn sie hatten den Deutschen verboten, Kohlen ins unbesetzte Deutschland zu liefern, und wollten nun dafür sorgen, dass ihr Verbot auch eingehalten wurde. Und genau deshalb, hatte Sophie argumentiert, durchsuchten sie doch wohl Züge, die das Ruhrgebiet verließen, aber sicherlich kaum welche, die hineinfuhren. Außerdem fahndeten sie nach Eisenbahnern, die ihnen den Gehorsam verweigerten – erwischten sie einen, wurde er eingesperrt und vielleicht sogar erschossen. »Und ich sehe ja nun wirklich nicht aus wie ein Eisenbahner.« Mit diesem Satz hatte Sophie der besorgten Johanna sogar ein Lächeln abgerungen.

Sophie umklammerte Raphaels Hand fester, als der Menschenauflauf sich verdichtete. Sie wurde unruhig.

Was ist denn hier los?, fragte sie sich. Ich muss sehen, dass wir schnell hier wegkommen, womöglich ist das eine Demonstration; um das zu erleben, ist Raphael wirklich noch zu klein.

Plötzlich fingen die Menschen an, wild durcheinanderzurufen. Sie hoben die Fäuste und sangen: »Deutschland, Deutschland über alles …«

Sophies Herz raste. Sie sah sich gehetzt um und versuchte, den Grund für die plötzliche Aggression festzustellen. Auf den ersten Blick konnte sie nichts entdecken, dann aber sah sie einen Zug in den Bahnhof einfahren, aus dem wenig später zufrieden aussehende, aber rußgeschwärzte französische Offiziere quollen. Es war ihnen also wieder einmal gelungen, einen Kohletransport aufzuhalten. Die Menschen im Bahnhof protestierten dagegen und vor allem gegen die Verhaftung des Eisenbahnführers und der Mannschaft.

Plötzlich ertönten Schüsse, Menschen brüllten und kreischten, Panik brach aus. Sophie schrie, als sie von hinten angerempelt wurde und zu Boden stürzte. Dabei verlor sie Raphaels Hand und wurde von ihm getrennt, im Nu war er in der tosenden Menschenmenge verschwunden.

»Nein!«, brüllte sie und versuchte, sich aufzurichten. Doch ihre Hektik war zu groß und der Sturm der wild durcheinanderrennenden Menschen zu stark. Wieder und wieder stürzte sie zu Boden, Schuhe traten auf ihre Hände. Tränen liefen über ihre Wangen, sie brüllte ein ums andere Mal verzweifelt: »Raphael! Wo bist du?«

Neue Gewehrsalven krachten, die Menschen versuchten sich zu retten. Sophie begann zu schreien und hörte nicht mehr auf.

27. Kapitel

Essen, Ruhrgebiet, 9. März 1923

Die Besprechungen fanden im Hotel statt – oder besser: im Keller desselben. Es gab eine Hintertür, zu der die Akteure hinein- und hinaushuschten. Es war fast dunkel im Raum, Siegfried erkannte die Männer zunächst kaum, aber bei näherem Hinsehen und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte er viele Gesichter, die ihm bekannt vorkamen. Gesichter von Kollegen. Ein Oberingenieur war darunter, Siegfried war sich fast sicher, dass er Haller hieß. Die Aufgabe war klar: das Militär beobachten und Landsleute ausfindig machen, die gemeinsame Sache mit den Franzosen machten. Landesverräter eben, dachte Siegfried verächtlich.

Umso wichtiger war, dass es Männer wie ihn gab. Männer, die sich ihrer Verantwortung stellten. Die sie ernst nahmen. Schließlich spitzte sich die Lage immer mehr zu: Am 27. Februar hatte dieser unsägliche General Pierre Marie Degoutte, Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen im Ruhrgebiet und ein furchtbar arroganter Kerl, wie Siegfried fand, die Auflösung der hauptsächlich in Essen konzentrierten preußischen Schutzpolizei und die Ausweisung der Schutzpolizisten in das unbesetzte Deutsche Reich verfügt. Nur weil sie sich logischerweise geweigert hatten, die Besatzungsmächte so zu grüßen, wie die Franzosen es wollten, und sich ihnen damit unterzuordnen. Vor ihnen auf die Knie zu gehen! Allein beim Gedanken daran kochte die Wut in Siegfried hoch. Wer ihnen nicht passte, wurde einfach ins Gefängnis gesteckt. So wie er damals. Wobei er, auch wenn er das freilich niemals eingestanden hätte, ziemlich stolz darauf war, dass er zu den Tapferen gehörte, die man inhaftiert hatte. So wie auch der Oberbürgermeister von Oberhausen, Rudolf Havenstein, weil die Stadtwerke dem Bahnhof den Strom absperrten, um den Kohleabtransport nach Frankreich und Belgien zu verhindern.

Wenigstens stand die Reichsregierung wie eine Eins hinter den Männern, die Mut zeigten. Die Regierung, dachte Siegfried, forderte nicht nur Mut von ihren Bürgern, sondern sie belohnte ihn auch. Zum Beispiel zahlte sie Beamten, die von den Besatzern ausgewiesen wurden, ihr Gehalt weiter. Das war ungemein beruhigend.

»Sie übernehmen abends nach Ihrer Schicht für zwei Stunden die Beobachtung der Niederlassung«, verfügte Hoteldirektor Meinchen, der Wortführer und anscheinend der Kopf des Ganzen war, an Siegfried gewandt. Noch durchschaute Siegfried weder die Strukturen noch wie viele Männer an der Sache beteiligt waren oder was im Einzelnen ihre Aufgaben und ihre Pläne waren. Er traute sich auch nicht zu fragen. Ihm war klar, dass das unangemessen gewesen wäre. Er musste schlicht und einfach genau aufpassen und sich die Vorgänge damit selbst zusammenreimen. Jetzt sprachen sie darüber, dass die Kohlen, die die Männer beschlagnahmt hatten, auf keinen Fall nach Frankreich gelangen durften.

»Wir sprengen die Bahnlinien hier«, sagte Meinchen und deutete mit dem Stift auf einen Plan, auf dem ein großes Schienennetz zu sehen war, »und hier.« Siegfried begriff anhand der Kommentare, dass unter den Männern sowohl Eisenbahner waren als auch ein Sprengexperte. Fachleute also. Er entspannte sich etwas, denn seit ihm die Funktion des Spitzels zugedacht worden war, war sein altes Problem wieder aufgeflammt und er hatte sich wie ein Nichtsnutz gefühlt. Klar, dass sie ihn mit der Beobachtung der Zentrale der französischen Besatzungsmacht betrauten. Zumindest am Wochenende und nach Dienstschluss in den Krupp-Werken. Da musste man ja nur im Café gegenüber sitzen und den Eingang nicht aus den Augen lassen. Das konnte selbst ein Krüppel wie er.

Nun, da er erfuhr, dass Meinchen selbst auch nicht an der Sprengung der Schienen beteiligt sein würde, beruhigte er sich. Es waren wirklich nur Spezialisten am Werk. Immer wieder wurde der Name von einem geflüstert, der Schlageter hieß. Albert Leo Schlageter. Wenn Siegfried es richtig verstand, war er der Kopf des organisierten Widerstands.

»Und vergesst nicht, Männer«, sagte Meinchen noch, »wir haben Rückendeckung von ganz oben. Die Sache ist groß angelegt, im ganzen Ruhrgebiet gibt es Widerstandsgruppen. Männer, wir sind nicht alleine.«

28. Kapitel

Essen, Ruhrgebiet, 9. März 1923

Raphael sah sich panisch um. Wo war seine Mutter? Was wollten all diese Menschen? Sie schienen ihm wie eine einzige Fratze, die ihn bedrohte, erdrückte, zertrampelte und überrollte. Er hatte nur noch einen Gedanken: raus aus dem Gewühl. Hastig blickte er sich nach einem möglichen Fluchtweg um.

Dort hinten war die Bahnhofsuhr und dort waren auch die Gleise. Das wusste er, weil er auf diese Uhr gesehen und versucht hatte, sie zu lesen, als sie vor Kurzem mit dem Zug angekommen waren. Auf den Gleisen würden bestimmt keine Menschen stehen, also musste er da hin. Er musste sich retten. Vielleicht würde dort ja auch seine Mutter auf ihn warten.

Fest umklammerte er seinen Koffer, das Einzige, was ihm noch Halt geben konnte. Mit all seiner Kraft kämpfte sich der kleine Junge an den Rand der Menschenmenge. Nach Minuten, die ihm endlos erschienen, hatte er endlich die Bahnhofsuhr erreicht. Zu seiner Erleichterung bemerkte er, dass sich hier tatsächlich weniger Menschen befanden. Sie rannten sogar alle in die andere Richtung, die Richtung, aus der er kam!

Jetzt waren kaum noch Leute vor ihm, nur noch fremd aussehende Männer in Uniformen. Sie hatten Maschinengewehre in der Hand und – Raphaels Augen weiteten sich entsetzt – sie schossen auf die davonrennenden Menschen! Ein Mann neben ihm, ein Deutscher, blieb stehen und sah den Bewaffneten trotzig in die Augen. »Ich renne nicht vor euch davon!«, rief er laut. »Ich nicht!«

Ein Offizier hob sein Gewehr und zielte genau auf den Mann.

»Nein!«, schrie Raphael, aber sein Schrei ging im Krachen des Schusses unter.

Der Offizier stand mit bleichem Gesicht inmitten seiner feuernden Kollegen. Er war unfähig, sein Gewehr zu heben, unfähig zu schießen.

Ich muss wenigstens so tun als ob, dachte er, sonst melden mich die Kameraden noch wegen Landesverrats. Er hob sein Gewehr und zielte auf die panisch Flüchtenden. Den Finger hatte er am Abzug. Aber er schoss nicht und hoffte, dass niemand es bemerken würde.

Mit einem Mal fiel ihm ein kleiner Junge auf, der verloren inmitten der Menge stand und ängstlich auf die Uniformierten starrte. Es durchfuhr ihn wie ein Blitz. Er kannte dieses Kind. Er kannte es gut, … aber woher? »Nein!«, schrie der Junge gerade, und der Offizier warf sein Gewehr von sich und stürzte nach vorne, mitten in den Rauch hinein.

Raphael spürte, wie sich zwei kräftige Arme um ihn schlangen und ihn emporhoben. Ängstlich schloss er die Augen. Er war gefangen. Sie würden ihn töten. Er würde Mutter nie wiedersehen!

Als nichts geschah, öffnete er die Augen ganz vorsichtig wieder. Vielleicht hatte ihn ja ein Freund hochgehoben. Einer, der ihn retten wollte!

»Hab keine Angst«, flüsterte der Mann. Er sprach deutsch und hatte einen starken französischen Akzent. »Ich tue dir nichts, ich will dir nur helfen.«

Raphael musterte ihn zaghaft. Er war so angezogen wie einer dieser Männer, die geschossen hatten, aber er war nicht wie sie, das spürte er. Seine Stimme klang weich und irgendwie vertraut. Raphael blickte in zwei Augen, die ihn freundlich anzulächeln schienen, und er entspannte sich etwas.

Der Offizier dachte flüchtig: Der Junge erinnert mich an mich selbst, als ich klein war. Vielleicht dachte ich deshalb, dass ich ihn kenne.

Aber dann hatte er nur noch eines im Sinn: Ihn in Sicherheit zu bringen. Wenn seine Kameraden ihn dabei erwischen würden, würde es ihm schlecht ergehen. Er war ohnehin schon einige Male unangenehm aufgefallen.

Rasch verbarg er sich mit dem Kind hinter einem der Eisenbahnwaggons. »Du musst ganz still sein, hörst du«, flüsterte er, »bis alle weg sind.«

Raphael nickte und schmiegte sich vertrauensvoll enger an den Mann.

Nach einer Weile hörten sie Stimmen. »Jetzt kommen Männer auf unsere Seite«, raunte der Offizier. »Wir müssen uns verstecken.« Er zog Raphael mit sich in den Zwischenraum zweier Waggons. Der Junge wagte kaum zu atmen.

Wenig später gingen zwei finster aussehende Uniformierte mit Gewehren an ihnen vorbei. Raphael verbarg sein Gesicht ängstlich in der Uniform seines Retters. Der raue Stoff kratzte an seiner Wange und vermittelte ihm ein angenehmes Gefühl der Sicherheit.

»Sie sind weg«, flüsterte der Mann nach einer Weile. »Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten.«

Raphael richtete sich vorsichtig auf.

»Wie heißt du?«, fragte der Franzose, und sein Gesicht war ganz nah an Raphaels, als er ihm in die Augen sah.

»Raphael.«

»Ein schöner Name.«

»Und wie heißen Sie?«

»Ich bin Pierre. Pierre Didier.«

29. Kapitel

Russland, Petrograd, 9. März 1923

Zur selben Stunde, da Sophie am Essener Bahnhof verzweifelt den Namen ihres Sohnes brüllte, erlitt der sowjetische Regierungschef Wladimir I. Lenin seinen dritten Schlaganfall und war fortan nicht mehr in der Lage zu sprechen oder sich zu bewegen.

Die Nachricht stürzte Irina in eine noch tiefere Krise. Es war merkwürdig, aber trotz aller Wut und allem Hass, den sie zuletzt auf ihren einst so bewunderten Lenin gespürt hatte, hatte sie nun Mitleid mit ihm. Sie trauerte um ihr einst so starkes Idol, und mit der Trauer um ihn ging die Trauer um all das einher, woran sie geglaubt und was sie verloren hatte. Hart, fand Irina, war ihr Leben schon immer gewesen. Erst der Weltkrieg, dann der Bürgerkrieg, die Jahre des Hungerns und der Entbehrung, dann der Tod ihrer Eltern. Aber früher hatte sie die Härte des Lebens als Herausforderung gesehen. Als Aufforderung, es zu besiegen. Sie hatte sich stark gefühlt, stärker als das Leben, und die Härte hatte sie nur umso mehr an die Genossen geschmiedet. Und nun? Sie hatte das Gefühl, dass sie ihre Jugend an eine Lüge hingegeben hatte, die nun langsam, Bläschen für Bläschen, zerplatzte.

Dass es mit Lenin bergab ging, hatte sie schon lange gewusst. Schon nach dem zweiten Schlaganfall hatte er nur noch telefonieren und diktieren können – und selbst das nicht mehr viel. Das hatte Irina mehr oder weniger emotionslos beobachtet. Ebenso ungerührt hatte sie dabei zugesehen, wie Stalin an die Macht drängte. Sie hatte gehört, dass Lenin von Stalin nichts hielt. Und in der Tat hatte Lenin im Januar einen Brief verfasst, in dem er versuchte, den Lauf der Politik aufzuhalten: »Stalin ist zu grob, und dieser Fehler, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen kann.« Nach Lenins drittem Schlaganfall schickte Stalin eine ganze Schar von Ärzten nach Gorki, wo Lenin sein Dasein fristete. Im Kampf gegen den todkranken Mann hatte Stalin leichtes Spiel – und er kämpfte noch an anderer Front: Zwar hatte er nach Lenins ›politischem Testament‹ seinen Rücktritt angeboten, das jedoch wurde von den Genossen abgelehnt. Nun versuchte Stalin, Trotzki auszuschalten und an die Macht zu kommen. Trotzki hatte die Rote Armee aufgebaut und war im Krieg gnadenlos und entschieden vorgegangen. Er hatte die Bolschewiki zum militärischen Sieg geführt. Als Ende 1922 die Sowjetunion gegründet wurde, übte Trotzki Kritik am russischen Nationalismus und der totalitären Politik der Bolschewiki.

Nein, Russland, dieses Russland, war schon lange nicht mehr ihr Land, dachte Irina. Es hatte ihr die Eltern geraubt, ihr Glück, ihren Verlobten und ihre Jugend. Glück, echtes Glück hatte sie erst zwei Mal in ihrem Erwachsenenleben empfunden. Mit Vladimir, dem Mann, den sie heiraten wollte und der an der Front gefallen war. Und danach mit Karl, ihrem deutschen Karl mit seinem geraden Wesen, seiner Ruhe und seiner Kraft. Karl, der ihrem Chaos stets etwas entgegenzusetzen vermochte. Karl. Als sie ihn verlassen hatte, war seine Welt zerbrochen, das wusste sie. Aber sie hatte nicht bleiben können in diesem fremden Land, in dem sie ein Feind war. Und sie dachte, dass man sie in Russland, wo der Bürgerkrieg tobte, noch brauchen würde. Also war sie gegangen und hatte ihn verlassen.

Wie recht hatte Karl gehabt, als er sie anflehte, bei ihm zu bleiben, und ihr sagte, es sei nicht wichtig für Russland, ob sie nun mitkämpfe oder nicht. Für ihn aber sei es wichtig, dass sie bei ihm bliebe, ungemein wichtig. Wie recht er gehabt hatte und wie hart sie ihn deswegen angegangen war. Ohne sich noch einmal umzudrehen, war sie gegangen und hatte ihn einsam und allein zurückgelassen.

»Verzeih mir, Karl«, flüsterte sie. »Ich will versuchen, dich wiederzufinden, und ich werde zu dir zurückkehren, wenn du mich noch willst.«

Wenn Irina sich für etwas begeisterte, sich etwas hingab, dann tat sie das aus vollster Seele und mit ganzem Herzen. Es gab für sie dann nur das Eine und alles andere verblasste daneben.

Damals war es Russland gewesen und die Revolution.

Jetzt war es Karl.

Sie würde wieder Kontakt mit Deutschland aufnehmen, an Johanna schreiben und an Luise. Und dann würde sie Karl besuchen.

Karl! So lange hatte sie nichts von ihm gehört.

Mit einem Mal bekam sie ein schlechtes Gewissen, dass sie sich all die Jahre nicht gemeldet und niemandem ihre Anschrift mitgeteilt hatte, auch nicht Johanna oder Luise.

Vielleicht hatten sie versucht, sie zu finden! Vielleicht …

Aber sie hatte sich ja mit Absicht nicht gemeldet, sie hatte keinen Kontakt gewollt, denn sie wusste, dass die Sehnsucht nach Karl sie dann übermannt hätte.

Jetzt aber war die Zeit gekommen. Sie würde zu Karl zurückkehren!

30. Kapitel

Essen, Ruhrgebiet, 9. März 1923

Einsam und verloren stand Sophie noch immer im Bahnhof, als alle anderen Menschen schon längst wieder gegangen waren. Nur die, die verwundet waren, lagen hilflos auf dem Boden und stöhnten. Sophies Kopf fühlte sich ganz leer an. In ihren Ohren dröhnte es, ihr Blick flackerte. Unendlich lang war sie panisch durch den Bahnhof gerannt, ihren Sohn beim Namen rufend. Dann war ihr Blick über die Verwundeten gezuckt, in unendlicher Angst, ihn unter ihnen zu entdecken. Doch sie fand ihn nicht. Ihre Erleichterung darüber wich rasch der Angst und der Panik. Wo war er nur, ihr kleiner Junge? Sie wurde fast wahnsinnig bei der Vorstellung, dass er jetzt da draußen ganz alleine war, in einer fremden Stadt, die kopfstand. Wie sollte sie ihn je wiederfinden? Er würde sich doch niemals orientieren können! Und was, wenn er einem der Bewaffneten in die Hände fiele? Sie waren ganz anders als Pierre! Gar nicht vertrauenerweckend, sondern furchtbar beängstigend.

»Raphael!«, schrie sie zum tausendsten Mal verzweifelt in die gespenstische Stille, die nur vom Stöhnen der Verwundeten unterbrochen wurde. Es rührte sich nichts.

Wieder begann sie, den ganzen Bahnhof abzusuchen. Er musste einfach hier sein, überlegte sie. Er würde den Bahnhof niemals ohne sie verlassen.

Plötzlich durchfuhr es sie wie ein Blitz. Der Koffer!

Raphael hatte seinen Koffer bei sich und auf dem stand die Adresse von Luise. Vielleicht hatte sich jemand seiner angenommen und er war bereits wohlbehalten bei ihr!

Neue Hoffnung flackerte in ihr auf. Natürlich, so würde es sein. Sie rannte nach draußen. Vor dem Bahnhof blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren, dann fragte sie eine Frau nach dem Weg. Das Haus sei ganz leicht zu finden, sagte diese. Einfach nur die Straße hinunter. Sophie rannte, so schnell sie konnte, durch die Stadt, in der es von französischen Besatzern nur so wimmelte. Keiner hielt sie auf.

*

Pierre wusste jetzt, warum er den Jungen gerettet hatte. Warum es ausgerechnet dieses Kind gewesen war, das er aus den Gewehrsalven gerissen hatte. Es war nicht nur, weil es ihn an ihn selbst erinnerte. Das Kind sah aus wie Sophie! Aber ihm war klar, dass das Hirngespinste waren, und er bemühte sich, die Gedanken zu vertreiben.

Meine Sehnsucht nach ihr wird langsam so übergroß, dass ich sie ständig zu sehen glaube, dachte er ärgerlich. Erst gestern war er einer deutschen Frau nachgeeilt, die er für Sophie gehalten hatte. Als er sie angesprochen hatte, hatte sie ihn kalt gemustert und vor ihm auf den Boden gespuckt. Ich muss aufpassen, ermahnte er sich, sonst werde ich noch verrückt.

»Wo wohnst du?«, fragte er den Jungen.

»Ich wohne jetzt bei meiner Tante«, antwortete Raphael tapfer und umklammerte seinen Koffer.

»Wo wohnt denn deine Tante?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Raphael verzweifelt.

»Warst du denn ganz alleine?«

»Nein, Mutter war bei mir.«

»Hast du deine Mutter in der Menschenmenge verloren?«, fragte er, um Sachlichkeit bemüht.

»Ja.«

Pierre dachte fieberhaft nach. Irgendwie musste er den Jungen heil bei der Tante abliefern. Dort würde sicher auch seine Mutter auf ihn warten. Es sei denn, sie war noch in der Bahnhofshalle und suchte nach ihrem Jungen. Er würde nachsehen müssen. »Komm.« Im Schutz der Waggons ging er in Richtung der Halle und zog Raphael hinter sich her. Am Ende des Zuges spähte er vorsichtig um die Ecke und zuckte zurück. In der Halle lagen Verwundete, das durfte der Junge auf keinen Fall sehen. Er hatte schon zu viel Schreckliches miterleben müssen in den letzten Stunden. Hastig blickte er sich um. Eine Frau, die suchend umherging, sah er nicht. Vermutlich würde Raphaels Mutter tatsächlich zu ihren Verwandten gegangen sein, in der Hoffnung, dass jemand ihren Sohn dort heil ablieferte. Dieser Jemand würde er sein. Aber wie? Erstens wusste er nicht, wo sie wohnten, und zweitens wimmelte es in der Stadt nur so von Leuten, denen es gar nicht gefallen würde, einen französischen Offizier und ein deutsches Kind zusammen zu sehen. Die französischen Offiziere hätten ihn womöglich beschuldigt, mit dem Feind gemeinsame Sache zu machen. Und die Deutschen würden ihn zusammenschlagen, weil sie dächten, er wolle dem Jungen etwas tun.

Plötzlich fiel sein Blick auf Raphaels Koffer. »Darf ich mal reinschauen?«, fragte er.

Raphael nickte.

»Ich will nur nachsehen, ob etwas in deinem Koffer mir verrät, wo deine Verwandten wohnen«, erklärte Pierre. Behutsam öffnete er das Gepäckstück. Die Kleider des Kleinen waren ordentlich zusammengelegt, die Mutter hatte offensichtlich liebevoll gepackt. Außer den Kleidungsstücken befanden sich noch ein etwas zerdrückter Stoffbär und ein zerfleddertes Buch in dem Koffer. Nichts, was Aufschluss über die Adresse der Tante geben könnte. Entmutigt schloss er das Gepäckstück wieder.

Erst da entdeckte er den an der Außenseite angebrachten Zettel mit der säuberlich geschriebenen Adresse. Es stand kein Name darauf, nur Straße und Etage. Und es war gar nicht weit von hier. Pierre seufzte erleichtert. Der erste Schritt war getan.

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
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ISBN:
9783839246641
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