Kitabı oku: «Die Flucht in den Hass», sayfa 2

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Der Tag, an dem in solchen Aussagen die Gedanken der Mehrheit aller Deutschen zutreffend wiedergegeben werden, würde die Zuversicht begründen, daß sie von der Krankheit des Hasses genesen sind. Dieses Buch, das die Frage zu beantworten sucht, wie es zu der „Flucht in den Haß“ gekommen ist, stellt gleichzeitig die Frage, ob Haß und Haßbereitschaft in Deutschland tatsächlich überwunden sind, nachdem ihre nach allen Seiten wütenden, zerstörerischen Folgen offenbar wurden. Seelische Erkrankung kann nicht durch Stillschweigen überwunden werden. Sie ins Bewußtsein zu heben, und so ihre Ursachen bannen zu helfen, ist dieses Buch geschrieben worden.

Eva Gabriele Reichmann

*Sie sind in der dafür zuständigen Abteilung der Wiener Library, 19, Manchester Square, London, W. 1, aufbewahrt.

EINLEITUNG

Es ist das traurige Vorrecht des Zeitgenossen, den wirkenden Ursachen des Geschehenen noch so nahe zu sein, daß er sich dem quälenden „Warum?“ gewachsen glaubt; es ist sein Nachteil, daß er ihnen zu nahe ist. Noch können sich für den durchschnittlichen Betrachter Tatsachen und Gefühle nicht nach objektiv haltbaren Maßstäben so geordnet haben, daß gültige Einsichten von ihnen herzuleiten sind.

Es ist eine Folge dieser unvermeidlichen Verzerrung, daß die nationalsozialistische Judenverfolgung häufig zu einer Schlußfolgerung Anlaß gibt, die wir Emanzipations-Defaitismus nennen. Er besteht in folgendem Gedankengang: Die deutschen Juden waren die jüdische Gemeinschaft, die am tiefsten in ihre Umwelt eingedrungen war, ohne dadurch den Charakter als Gemeinschaft zu verlieren; sie waren jüdischer und vor allem zahlenmäßig bedeutender als etwa die Judenheiten Italiens und Frankreichs; sie waren stärker mit ihrer Umwelt verbunden als die jüdischen Gemeinschaften des Ostens und lebten länger mit ihr als die der Vereinigten Staaten und die Mehrzahl der Juden in Großbritannien; die deutschen Juden waren vor dem Heraufkommen des Nationalsozialismus geradezu das klassische Beispiel dafür, daß Juden als integraler Bestandteil der nichtjüdischen Welt leben können; sie lebten nicht nur in, sondern weitgehend mit ihrer nichtjüdischen Umwelt: Ihr Untergang beweist, so folgert man, den Fehlschlag der Emanzipation als einer jüdischen Lebensform.

Es ist das Ziel der folgenden Darstellung, dieser Art der Beweisführung zu begegnen. Sie ist eine allzu rohe Anwendung des Schlusses: „Post hoc, ergo propter hoc“. Ereignisse folgen aufeinander, Ereignisse verursachen einander, aber nicht immer sind die Ereignisse, die am sichtbarsten aufeinander folgen, zugleich die, die einander verursachen. In Wirklichkeit ist das „hoc“, das die Austreibung und Vernichtung der deutschen Juden verursachte, ein anderes als ihre Emanzipation und Einordnung in die Umwelt. Dieses andere „hoc“ gilt es festzustellen. Gelingt es, es als einen örtlich und zeitlich mehr oder minder auf das Deutschland der Zwischenkriegszeit beschränkten Komplex zu erweisen, so ist den primitiv verallgemeinernden Schlüssen der Boden entzogen, und der Emanzipations-Defaitismus ist widerlegt. Der Irrtum der falschen Kausalverknüpfung, der zum Emanzipations- Defaitismus führt, kann in der gegenwärtigen Situation der Judenheit besonders verhängnisvoll werden. Die Juden befanden sich nach dem zweiten Weltkrieg in der furchtbarsten Situation der mehr als zweitausendjährigen Geschichte ihrer Diaspora. Nicht allein hatte sie der Sturz, dem die europäische Judenheit zum Opfer gefallen war, von einer Stufe höchster Entfaltung in die tiefste Tiefe physischer Vernichtung geschleudert, sondern rein zahlenmäßig hatte in der katastrophenreichen jüdischen Geschichte der Verlust an Menschen noch niemals ein so grauenhaftes Ausmaß erreicht.

Seither hat die Gründung des Staates Israel den Juden in aller Welt neue Hoffnungen gegeben. Sie hat jene Lösung der Judenfrage zu einer politischen Tatsache gemacht, die viele Jahrzehnte hindurch nur ein zionistischer Traum zu sein schien. Schon in den ersten Jahren seines Bestehens hat der junge Staat einem großen Teil der Überlebenden der europäischen Katastrophe eine neue Heimat gegeben.

Doch wie erfolgreich auch immer der Staat Israel sein möge, er wird die Tatsache nicht verändern können, daß weiterhin Juden unter den Völkern der Welt leben werden. Weit über zehn Millionen Juden leben in der Diaspora und von ihnen etwa sechseinhalb Millionen als gesetzlich gleichberechtigte Bürger ihrer Wohnländer.1 Selbst wenn man die jüdischen Gemeinschaften in der Sowjetunion und ihrer Einflußsphäre nicht einbezieht, weil sie unter Bedingungen emanzipiert sind, die mit denen des Westens nicht ohne weiteres vergleichbar sind, hängt erheblich mehr als die Hälfte aller lebenden Juden auch heute noch einer Lebensform an, deren gedankliche Grundlage nach der defaitistischen Auffassung durch Hitlers Zerstörungswahn angeblich für immer vernichtet worden ist. Wenn das Leben der Juden in der Diaspora sich noch einmal befreien soll von dem Gefühl dumpfer Resignation vor einem unerbittlichen Schicksal, wenn es sich noch einmal erfüllen soll mit jenem Glauben an Gerechtigkeit und Menschlichkeit, ohne den der Gedanke der Emanzipation seinen Sinn verliert, dann darf der Emanzipations-Defaitismus nicht ohne Antwort bleiben. Das jüdische Leben in der westlichen Welt bedarf erneut der Rechtfertigung.

Als nach dem Auftreten von Faschismus und Nationalsozialismus die westlichen Demokratien die Größe der Herausforderung erkannten, die von dem neuen Regierungssystem und seiner partiellen technischen Überlegenheit ausging, fanden sich zahlreiche Autoren, die sich der drohenden Gefahr stellten. Sie untersuchten die Vor- und Nachteile der beiderseitigen Systeme und scheuten sich nicht, die Schwächen der Demokratie festzustellen und zu prüfen. Aber sie ließen es nicht bei der Kritik bewenden, sondern stießen von ihr zu einer Neubegründung der Demokratie vor, um trotz ihrem offenbaren Mangel an Vollkommenheit ihre Überlegenheit über jedes andere bisher erreichte politische System aufs neue zu beweisen.2 Sie zeigten in ihrer Kritik neue Wege zur Überwindung der zutage getretenen Fehler. Die zeitgenössische Literatur über die Judenfrage hat bisher den umgekehrten Weg beschritten. Sie hat die Herausforderung der emanzipatorischen Lebensform durch den Nationalsozialismus mit Entmutigung und – zumindest theoretischer – Abkehr von ihr beantwortet.3 So verständlich diese Haltung ist als die seelische Reaktion auf das unerhörte Ausmaß der Desillusionierung, so wenig ist sie wissenschaftlich oder politisch zu rechtfertigen.

Es ist zu begrüßen, wenn angesichts der Gefährdung der jüdischen Existenz das Suchen und Fragen nach ihrer Sicherung kein Ende nimmt; es wäre jedoch ein Unglück, wenn Unklarheiten und Mißverständnisse die Blicke der Wegbereiter in die Irre lenkten.

ERSTER TEIL ANTISEMITISMUS – EIN SONDERFALL DER GRUPPENSPANNUNG
1. Emanzipation als soziales Problem

Vor der europäischen Judenkatastrophe wurde die Situation der Juden viel zu unproblematisch gesehen: daraus ist teilweise die Schockwirkung zu erklären, die alle vernünftigen Reaktionen über den Haufen warf. Man war vorher um genau den gleichen Grad zu optimistisch, um den man jetzt zu pessimistische Schlußfolgerungen ziehen möchte. Man überschätzte die rechtliche Tatsache der Emanzipation, die man heute zu unterschätzen neigt. Man übersah, daß der gesetzliche Akt der Emanzipation nur ein Beginn ist, ein Programm, das wesentlich mehr Aufgaben stellt als löst. Die Emanzipation löste die Judenfrage nicht, sondern verlegte ihr Spannungszentrum von der rechtlichen auf die gesellschaftliche Ebene. Während vor der Emanzipationsgesetzgebung die rechtliche Ungleichheit einer Gruppe von Landesbewohnern in zunehmendem Maße als ein Mißstand empfunden wurde, obwohl sie die bestehende gesellschaftliche Ungleichheit im wesentlichen adäquat ausdrückte, veränderte sich dieses Verhältnis mit der gesetzlichen Gleichberechtigung. Sie entsprach zunächst nur dem kulturellen Standard einer schmalen Oberschicht der jüdischen Gruppe; ihre breite Masse dagegen unterschied sich in fast jeder Beziehung von der nichtjüdischen Umgebung. In dem Maße nun, in dem Juden in Berufe eindrangen, die ihnen bis dahin verschlossen gewesen waren, und die noch weitgehend verschiedenartigen Bevölkerungsgruppen in engere Berührung kamen, entstand eine gesellschaftliche Spannung, die nun nicht länger in dem rechtlichen Status ihre vermeintliche Entsprechung fand. „Der Jude ist ein Mensch wie wir und hat nicht die gleichen Rechte“, so fühlte eine rechtsbewußte Elite vor der Emanzipation. „Der Jude hat gleiche Rechte und ist doch ungleich“, so begannen breitere Bevölkerungskreise in der Frühzeit der Emanzipation zu empfinden.

Dieses Empfinden ist nicht auf die Frühzeit beschränkt geblieben. Die Ungleichheit der Juden verminderte sich zwar ständig infolge ihrer fortschreitenden Assimilation an die Umwelt; aber sie hat sich in keiner der emanzipierten Judenheiten bisher so sehr verloren, daß man von einem Verlust der jüdischen Identität sprechen dürfte. Obgleich von der Peripherie fortwährend Individuen durch Taufe oder Mischheirat oder andere Umstände in die Mehrheitsvölker übergingen, haben sich die Juden überall als mehr oder minder deutlich von der Umwelt unterscheidbare Gruppen erhalten.

Bevor wir daran gehen, die Ursachen dieser Tatsachen festzustellen, möchten wir zum Verständnis unserer Gesamtdarstellung eine grundsätzliche Bemerkung machen. Wir werden uns im allgemeinen einer Wertung der von uns dargestellten Tatsachen enthalten. Die jüdische Gruppenidentität zum Beispiel interessiert uns nur in ihrer soziologischen Bedeutung. In dieser Hinsicht wird sie als eine Erschwerung der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen in Erscheinung treten. Wir sind uns wohl bewußt, daß vom jüdischen Standpunkt aus diese Erschwerung in hohem Maße dadurch kompensiert wird, daß die Erhaltung jüdischer Gruppenmerkmale die Voraussetzung jüdischen Eigenlebens überhaupt ist. Unsere grundsätzliche Frage betrifft aber nicht in erster Linie den Wert oder Unwert jüdischen Eigenlebens, sondern sie lautet: Ist aus der Tatsache, daß rund 43 % der deutschen Wähler im Jahre 1933 dem scharf antisemitischen Nationalsozialismus ihre Stimmen gegeben haben, zu schließen, daß sich das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden als unmöglich erwiesen hat? Oder welche anderen Schlüsse sind gegebenenfalls aus dieser Tatsache zu ziehen? Wo wir in Abweichung von der voraussetzungslosen Analyse subjektive Werturteile abgeben, werden wir das von Fall zu Fall bemerken.

Es besteht zweifellos ein Widerspruch zwischen der Prognose, die sowohl Emanzipatoren wie Emanzipierte – obwohl manchmal uneingestandenermaßen – der Zukunft der jüdischen Gruppe am Beginn der Emanzipation stellten, und dem Ablauf, den die Entwicklung tatsächlich genommen hat. Wenn wir das Wesen der jüdischen Gemeinschaft vor der Emanzipation als national-religiös bezeichnen, womit sie zwar nicht erschöpfend, aber in ihren sichtbarsten Unterscheidungsmerkmalen gekennzeichnet ist, so besagte der Emanzipationsakt, daß die nationale Absonderung fortan aufhören und die religiöse rechtlich unerheblich werden sollte. Die erste Forderung wurde nahezu uneingeschränkt, die zweite weitgehend erfüllt. Trotz dieser Niederlegung bisher trennender Schranken jedoch und trotz der inneren Schwäche der verbleibenden religiösen Unterschiede sind die Juden als eine deutlich unterscheidbare Bevölkerungsgruppe bestehengeblieben.

Die höchst bemerkenswerte und historisch unvergleichbare Tatsache, daß das Judentum nach dem Verlust eines eigenen Territoriums zweitausend Jahre fortexistiert hat, hat ihren Deutern zu allen Zeiten ein außerordentlich schwieriges Problem gestellt. Die scheinbare Regelmäßigkeit, in der Anziehung und Abstoßung zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten Räumen wiederkehrten, der häufige freiwillige oder gewaltsame Substanzverlust, der trotzdem niemals zur Auflösung der gesamten Judenheit führte, haben verständlicherweise dazu herausgefordert, an das Walten einer inneren Gesetzmäßigkeit zu glauben, die den Juden ein ewiges Leiden als den Preis eines ewigen Lebens auferlegte. Wir sind im Rahmen dieser Untersuchung weder mit der Unterstützung noch mit der Widerlegung einer derartigen Geschichtsphilosophie befaßt. Es genügt uns daher, darauf hinzuweisen, daß die Fortexistenz der jüdischen Gruppe während der Emanzipationsepoche auch ohne eine solche Philosophie hinlänglich zu erklären ist. Wir werden uns bei unserer Beweisführung im folgenden auf den Emanzipationsprozeß in Deutschland beschränken, weil er von den Juden anderer Länder im Gelingen und im Versagen vielfach als eine Art von Idealtypus für den Ablauf einer Judenemanzipation überhaupt aufgefaßt wird.

Wie überall hatten die Juden in Deutschland – abgesehen von einer zahlenmäßig unbeträchtlichen Minderheit – bis zum Beginn der Emanzipation ihre mittelalterliche Verfassung fast ungeschmälert bewahrt. Sie lebten auf deutschem Boden, aber in religiöser, kultureller, rechtlicher, sozialer und örtlicher Abgeschlossenheit. Dem Zwang zum Ghetto hatte bis zuletzt als Kompensation eine vollgültige innere jüdische Kultur entsprochen. Die jüdische Kultur und ihre Werte wurden im Ghetto ausnahmslos festgehalten. Das Maß ihrer Strenge, die in der Außenwelt bald als Starrheit, bald als Arroganz empfunden wurde, mag dem Maße des von außen ausgeübten Druckes, der Verfolgung und Verachtung direkt entsprochen haben. Jedenfalls aber war die Verachtung gegenseitig. Als die Tore des Ghettos geöffnet wurden, war die Masse der festgefügten jüdischen Gemeinschaft nicht darauf vorbereitet. Man begriff zwar, daß ein gewaltiger Fortschritt in allen Lebensverhältnissen in Aussicht stand, und widersetzte sich ihm nur in Ausnahmefällen, aber die seelische und geistige Vorbereitung der großen Mehrzahl der Ghettoinsassen unterschied sich weitgehend von der der jüdischen Elite, welche die gesellschaftliche Emanzipation schon vor der rechtlichen vollzogen hatte. Das heißt: die deutschen Juden traten mit dem vollen Inhalt ihrer jüdischen Tradition, aber auch mit ihrem ganzen Schwergewicht den Weg in ihre Umwelt an. Mit jeder Etappe dieses Weges wurden Teile der Tradition aufgegeben, wurde die Bürde des Gesetzes erleichtert; zunächst verloren sich die nationalen Eigentümlichkeiten der Sprache, der Tracht, der Wohnviertel, des eigenen Rechtes; dann wurden die religiösen Vorschriften gemildert und angeglichen. Schließlich verblieb in gewissen jüdischen Kreisen – zumal in den Großstädten – kaum noch ein anderes subjektives Unterscheidungsmerkmal als die nominelle Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft, und selbst dieser wurde häufig genug durch Taufe oder Austritt ein Ende gemacht. Aber selbst als die vierte emanzipierte Generation heranwuchs, bildete diese äußere Form des Abfalls noch immer eine Randerscheinung innerhalb der deutschen Judenheit, und sie wurde durch den Einfluß eines weit positiveren Provinzjudentums mehr als ausgeglichen. Die jüdische Substanz, mit der die deutschen Juden in den Emanzipationsprozeß eingetreten waren, hatte ausgereicht, um ihre überwältigende Mehrheit durch 120 Jahre fortgesetzter Abschleifung hindurch als Juden zu erhalten.*

Aus dieser – gewaltsam vereinfachenden und schematisierenden – Schilderung geht zunächst zweierlei hervor: einmal, daß die Juden den natürlichen Vorgang der allmählichen Assimilation einer Minderheit an eine Mehrheit an sich geschehen ließen. Als Akteure spielten sie bald eine vorwärtstreibende, bald eine retardierende Rolle. Entscheidend jedoch war nicht ihr aktiver Einfluß, sondern ihre passive Einfügung in den Prozeß.** Ferner können wir schließen, daß der Grad der Assimilation wesentlich von der Länge der Zeit abhängt, während der eine jüdische Gemeinschaft dem Assimilationsprozeß ausgesetzt ist. So sehr man diese Tatsache von dem Standpunkt eines positiven Judentums aus bedauern mag, weil sie die Auflösung der jüdischen Gemeinschaft bei ungestörtem Fortgang des Assimilationsprozesses als unausbleiblich erscheinen läßt, so kann sie doch auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Entwicklung nicht geleugnet werden. Die Anziehung der nichtjüdischen Mehrheit auf die jüdische Minderheit bildete während der Epoche der jüdischen Emanzipation in Deutschland die herrschende Tendenz, die sich – gegen zahlreiche Hemmungen – durchsetzte. Wäre die Zeit nicht auf nur drei bis vier Generationen beschränkt gewesen, und wären nicht andere Faktoren hinzugetreten, die den beschriebenen Ablauf hemmten oder umkehrten, so hätte der jüdische Lebenswille nicht ausgereicht, ein Aufgehen der jüdischen Minderheit in der deutschen Mehrheit zu verhindern.

Es traten jedoch andere Faktoren hinzu, deren wichtigster die Haltung der Umwelt war. Es zeigte sich sehr bald, daß die breiteren Schichten des deutschen Volkes – aber auch Teile der führenden Elite – nicht bereit waren, es widerspruchslos hinzunehmen, daß die Juden als gleichberechtigte Glieder in den sozialen Körper eindrangen. Dieser Widerstand, seine Folgen und Nebenwirkungen bilden den wesentlichen Teil der Geschichte der Emanzipation. Diese hängt wesentlich von dem Charakter der Gesellschaft ab, die eine emanzipierte Minderheit aufzunehmen bestimmt ist. Handelt es sich um eine auf Konkurrenzwirtschaft beruhende Gesellschaft, so wird das Eindringen einer Minderheit in den meisten Fällen als Erschwerung des Konkurrenzkampfes empfunden, es sei denn, daß die von der Minderheit ausgeübten Gewerbe in der Mehrheit noch nicht vertreten sind. Selbst dann besteht die Gefahr, daß die Mehrheit sie von der Minderheit schneller übernimmt, als der Gruppencharakter der Minderheit sich verliert, und daß auf diese Weise später doch noch das Konkurrenzmotiv in die Gruppenspannung eintritt. Gerade das traf auf die jüdische Gruppe in Deutschland zu. Ihr anfängliches Monopol im Geld- und Kleinhandel wurde allmählich sowohl von ihr selbst als auch von der Mehrheit durchbrochen. Die beiderseitige wirtschaftliche Annäherung vermehrte die Konkurrenzfurcht auf seiten der Mehrheit. Doch war das Konkurrenzmotiv nicht das einzige, das dazu führte, daß dem Willen zur Einordnung der Juden nicht in gleichem Maße eine Bereitschaft zur Aufnahme auf der Seite der Deutschen entsprach. Es war eine Abwehrhaltung wirksam, auf deren Natur später ausführlicher eingegangen wird. Diese abwehrende Haltung verlor allerdings sowohl ihre tatsächlichen wie ihre vorgegebenen Gründe in dem gleichen Grade, in dem der Verschmelzungsprozeß ungeachtet aller Hemmungen fortschritt. Immerhin verzögerte sie diesen Prozeß nicht nur direkt dadurch, daß sie den integrationswilligen Mitgliedern der Minderheit die Aufnahme verweigerte; sondern sie verringerte auch indirekt die Integrationswilligkeit der Juden, da die zurückgewiesene Minderheit damit antwortete, daß sie ihre Andersartigkeit erst recht betonte. Das wiederum führte häufig zu einem verstärkten Abwehrwillen der Mehrheit. Trotz ihrer Wechselseitigkeit nimmt jedoch normalerweise die Stärke solcher Reaktionen ab wie die Bewegungsstärke eines ausschwingenden Pendels. Unter sonst gleichbleibenden Umständen verlangsamen sie den Integrationsvorgang, ohne ihn zu verhindern.*

Es sind die beiden vorstehend geschilderten Tatbestände – die Tradition, die sich nur langsam verminderte und also nur langsam ihre trennende Wirkung einbüßt auf der einen Seite, und der Widerstand gegen die Aufnahme einer fremdartigen Gruppe auf der anderen Seite –, die der sozialen Einfügung einer Minderheitsgruppe in eine Mehrheitsgesellschaft hemmend im Wege stehen. Dieselben Tatsachen sind es auf der anderen Seite, die den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedern der Minderheit noch für eine beträchtliche Zeitdauer nach Eintritt der formalen Gleichberechtigung verbürgen. Solange sie wirksam sind, und sei es selbst in einer Verdünnung, die sie dem Individuum kaum noch fühlbar machen, bleibt der Gruppencharakter der Minderheit erhalten.

Nach dem Gesagten wird der Satz, daß die Juden überall auch nach ihrer formellen Gleichberechtigung eine Gruppe bilden, zur Selbstverständlichkeit. Denn das gleiche Element, das die Juden zu Juden macht, unterscheidet sie auch als Gruppe von ihrer Umgebung. Sie verlieren ihren Gruppencharakter erst dann, wenn sie die Restbestände ihres Judentums abgestreift haben, also aufgehört haben, Juden zu sein.* Daß diese Feststellung trotz ihrem analytischen Charakter viele naive Betrachter überraschen dürfte, zumal wenn weiter unten ihre weitreichenden Folgen sichtbar werden, ist nur ein Anzeichen dafür, wie wenig die Juden gewohnt waren, sich selbst als ein gesellschaftliches Phänomen zu sehen. Die meisten unter ihnen waren sich ihrer religiösen Sonderart bewußt und kannten im übrigen nur jüdische Individuen. Mit den Außenseitern oder Schädlingen in ihrer Gruppe leugneten sie jede wie auch immer geartete Gemeinschaft; nur wenn sich einige durch besondere Leistungen hervortaten, erwachte in den vereinzelten Juden ein sonderbar inkonsequenter Gruppenstolz. Welche verschiedene Dichte jüdische Gruppen während des Integrationsprozesses aufweisen können, wird uns klar, wenn wir die Charakteristika einiger jüdischer Landesgruppen miteinander vergleichen. Da steht etwa neben der kleinen und in schneller Auflösung befindlichen jüdischen Gruppe in Italien die noch bedeutend dichtere Gruppe der aschkenasischen Juden Englands. Von Italien sagte Ruppin anfangs der dreißiger Jahre4, daß dort die jüdische Religion kaum noch irgendeine Bedeutung habe und die Mischehen das Judentum dezimierten. In Triest besuchten am höchsten jüdischen Feiertag nicht mehr als 10 % der Juden die Synagoge; Mischehen waren häufiger als rein jüdische Ehen. Den Rest des jüdischen Gruppenbewußtseins deutete Ruppin in dem folgenden Nachsatz an: „Auf meine Frage, weshalb die Juden in Triest denn überhaupt nominell noch Juden bleiben, erwiderte mir einer der Vorsteher: es schadet ihnen nicht, und sie wollen auf dem jüdischen Friedhof begraben werden.*“ Die aschkenasische Judenheit Englands dagegen, deren größerer Teil erst seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zugewandert ist, weist nicht nur in ihrer Berufsund Wohnortsgliederung, sondern auch in der durchschnittlichen Traditionstreue einen viel festeren Zusammenhalt auf.

Ebenso verschiedenartig wie die Dichte der Gruppen ist auch der Bestand dessen, was sie von der jeweiligen Umwelt unterscheidet. Doch besteht zwischen beidem ein Zusammenhang. Auch die jeweilige Verschiedenheit oder die Mischung von Verschiedenheiten einer einzelnen jüdischen Gruppe ist ziemlich genau durch die Entfernung bestimmt, die sie auf ihrem Weg vom Ghetto bis zum Endstadium völliger Einfügung in die Umwelt zurückgelegt hat. Bei ihrer Entlassung aus dem Ghetto umfaßt ihr eigentümlicher Gruppencharakter gewöhnlich nahezu alle Lebensgebiete vom Religiösen bis zum Zivilisatorischen; ihre Sprache und Bildung entspricht fast ausschließlich dem jüdischen Kulturkreis. In einer zweiten Entwicklungsstufe, die etwa mit der zweiten Generation nach der formellen Emanzipation übereinstimmen dürfte, sind schon einige Bildungselemente der Umwelt in die im übrigen noch strikt von ihr abgetrennte Gruppe eingedrungen; eine Angleichung der äußeren Lebensgewohnheiten geht langsam vonstatten, und es herrscht Doppelsprachigkeit: man spricht jiddisch und die Sprache der Umwelt. Dagegen ist das religiöse Leben mit seinem traditionellen Inhalt noch nahezu intakt. Langsam wird die berufliche Basis durch Eindringen in solche Berufe erweitert, die bisher den Juden rechtlich verschlossen waren. In einer dritten Stufe ist die Sprachenfrage eindeutig zugunsten der Landessprache entschieden. Weltliche Bildung herrscht so gut wie ausschließlich. Die kulturellen Inhalte des Judentums sind fast völlig den Kultureinflüssen der Umwelt gewichen. Nur das religiöse Bekenntnis bindet die Juden dieser Stufe subjektiv noch an das Judentum; aber selbst der religiöse Kult hat viele Umweltselemente in sich aufgenommen, er ist zunehmend „europäisiert“ worden. Die Juden dieser Stufe verteilen sich auf viele berufliche Bereiche, doch folgt diese Verteilung gemäß der früheren monopolartigen Stellung im Kleinhandel und Geldgeschäft, von der sie ihren Ausgang nimmt, einer bestimmten Richtung, die die Juden wiederum vorzugsweise in einigen wenigen Berufsarten zusammenführt. Unter diesen steht der Handel, und zwar sowohl der Waren- wie der Geldhandel weiter an erster Stelle, aber auch bestimmte Zweige der Fertigwarenindustrie, einige neue erschlossene Industrien und die freien Berufe nehmen einen wichtigen Platz ein. Was uns in diesem Zusammenhang am meisten interessiert, ist die Tatsache, daß die jüdische Berufsgliederung gemäß „dem Gesetz, nach dem sie angetreten“, auch in der Stufe einer sonst weitgehenden Eingliederung in die Umwelt sich zwar erweitert und vervielfältigt, daß sie aber weiter starke Anomalien aufweist. Aus ihnen und auch aus dem Zusammenströmen der Juden in den Großstädten erklärt sich die Bewahrung und zugleich die Neuerwerbung von kulturellen Eigentümlichkeiten, welche die Juden dieser Stufe auch abgesehen von ihrer Religion noch weiter von ihrer Umgebung unterscheiden.

Zu einer noch stärkeren Auflösung der jüdischen Gruppensubstanz ist es nur in kleineren jüdischen Landesgruppen gekommen, so wie schon erwähnt in Italien, in Frankreich und in den skandinavischen Ländern. In Deutschland hat es Ansätze zu einer noch über das Stadium der dritten Stufe hinausführenden Assimilation vor allem in Berlin vor, in und unmittelbar nach dem ersten Weltkriege gegeben. Sie äußerten sich in völliger Indifferenz gegenüber der jüdischen Tradition und der jüdischen Gruppenproblematik selbst. Sie sind jedoch für das Wesen der deutsch-jüdischen Mehrheit nicht charakteristisch geworden. Die überwältigende Mehrzahl der deutschen Juden befand sich vor der Katastrophe in dem dritten Stadium.

Einige der bisher geschilderten Züge – vor allem die allmähliche Desintegration einer mit einer Mehrheit in Kontakt tretenden Minderheit, sowie der Widerstand der Mehrheit gegen die Minderheit in einer Konkurrenzwirtschaft – haben für den Kontakt zwischen einer Minderheits- und einer Mehrheitsgruppe ziemlich allgemeine Geltung; doch kommt bei dem durch die Emanzipation der Juden geschaffenen Kontakt ein besonderer Faktor hinzu, der höchst charakteristisch ist. Es ist der Faktor der jüdischen Wanderungen.

Die jüdische Geschichte ist eine Geschichte fortgesetzter Wanderungen. Diese Tatsache ist eine der vielen Eigentümlichkeiten der jüdischen Existenz; sie ist aufs engste verwoben mit dem großen Rätsel der jüdischen Erhaltung. Nicht umsonst trägt die legendäre Figur des Ahasver zugleich die Züge des Wanderns und des ewigen Lebens. Nachdem bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine west-östliche Richtung in der jüdischen Wanderung vorgeherrscht hatte, kehrte sich diese Richtung mit dem Jahr 1648 und entschiedener mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts5 um. Am Ende des 18. Jahrhunderts lebten in Osteuropa, im ehemaligen Königreich Polen und seinen Nachbarländern, 1½ Millionen von den damals lebenden insgesamt etwa 2½ Millionen Juden, also 60 %.6 Als im Jahre 1850 die Zahl der Juden auf 4¾ Millionen gestiegen war, betrug der Anteil der osteuropäischen Juden mit 3,4 Millionen sogar 72,1 %, und noch im Jahre 1925 lebten 7,6 Millionen Juden bei einer Gesamtzahl von 14,8 Millionen, also 51,2 % in den entsprechenden Gebieten.7 So stark also hatte sich selbst in dieser letzterwähnten Periode der osteuropäische Anteil an der jüdischen Gesamtbevölkerung behauptet, obgleich zwischen 1880 und 1925 fast 4 Millionen Juden von der ost-westlichen Wanderung ergriffen worden waren.

Die osteuropäischen Juden unterschieden sich während der ganzen Periode ihrer Westwanderung von den jüdischen Gemeinschaften, zu denen sie hinströmten, durch einen niedrigeren Lebensstandard. Dieser Unterschied war in der Tat das hauptsächliche Motiv, das – zeitweise neben Verfolgungen – den Wanderungsprozeß in Gang setzte. Die osteuropäischen Juden waren noch nicht emanzipiert und lebten im wesentlichen in rein jüdischen Siedlungen in völliger Isolierung. Ihr kultureller Status entsprach demnach noch der „ersten Entwicklungsstufe“. Die Berührung der osteuropäischen Juden mit den in den Einwanderungsländern bestehenden Gemeinden wirkte überall verzögernd auf den Assimilationsprozeß. Obgleich die alteingesessenen Gruppen sich den Neueinwanderern gegenüber mehr oder minder ablehnend verhielten, weil sie fürchteten, von ihren nichtjüdischen Mitbürgern mit diesen identifiziert zu werden, konnten und wollten sie doch einen Kontakt nicht völlig vermeiden. Mochte dieser Kontakt zunächst auch nur auf karitativem Gebiete liegen und nur vereinzelt darüber hinausgehen, so war doch schon die Tatsache eines neu entstehenden jüdischen Gemeinde- und Vereinslebens, neuer jüdischer Siedlungen in bestimmten Städten oder Stadtvierteln, ja schon die Vergrößerung der jüdischen Gruppe selbst für die eingesessenen Juden nicht bedeutungslos. Derartige sichtbare Anzeichen einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft brachten in der Tat die nichtjüdische Umwelt in vielen Fällen erst wieder zum Bewußtsein einer „Judenfrage“, die in einer gefürchteten aber unvermeidlichen Identifizierung auch die einheimischen Juden wieder als Juden erscheinen ließ. Aber das war nicht die einzige Folge, durch die die Zuwanderung von unassimilierten Juden den Normalisierungsprozeß verzögerte. Eine weitere Folge war, daß die im Einwanderungsland bereits stark verdünnte jüdische Substanz durch sie eine erhebliche Anreicherung erfuhr.8 Blieb diese im Frühstadium der Zuwanderung auf die einwandernde Gruppe beschränkt, so fand doch in der nächsten Generation bereits ein gewisser gesellschaftlicher Kontakt mit wirtschaftlich aufsteigenden Familien statt. Er bewirkte trotz der auch unter den Einwanderern bereits einsetzenden Abschleifung eine ständige Erinnerung an frühere Stadien der Assimilation und bereitete gegen eine durch die Zuwanderung ausgelöste verstärkte Abstoßung der Umwelt sozusagen eine zweite Verteidigungslinie vor, eine Linie, in der das aufgefrischte jüdische Bewußtsein den enttäuschten jüdischen Assimilanten für seine partiellen Mißerfolge entschädigte.9

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