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Attila Bombitz

Variationen auf die Entgeisterung Zum literarischen Werk von Robert Menasse
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Robert Menasses literarisches Werk kann vor einem europäischen Hintergrund erörtert werden, in dem historisches und kulturelles Erbe resoniert: »Als Widerspiegelungen der ideellen Welt erweisen sich Menasses ›welthaltige‹ Romane nicht nur als Zusammenhang stiftende Erzählungen der verlorengegangenen Totalität auf höchstem Niveau, sondern darüber hinaus als selbstreferentielle literarästhetische Diskurse.«1 Menasse stellt Lebenswelten von literarischen Protagonisten dar, deren aktuell-eigene und ehemalig-kollektive Geschichten in den Romanen miteinander verstrickt sind. Im Vordergrund der großen realistisch-zeitgenössischen Panoramabilder stehend, haben diese Figuren fixe Ideen und kreative Vorstellungen, in deren Sackgassen sie zu geraten scheinen: Roman Gilanian, Leo Singer und Judith Katz pseudophilosophieren miteinander und reflektieren übereinander im brasilianischen Alltag; Samuel Manasseh ben Israel und Viktor Abravanel aus zwei verschiedenen historischen Epochen spiegeln einander in den europäischen Vertreibungsgeschichten; Nathan als Don Juan und Don Quijote in einer Person mischt seine ahistorischen Lebenslektionen über Lust und Lesen; eine ziemlich große Zahl von zeitgenössischen Protagonisten aus mehreren Generationen nimmt in »Die Hauptstadt« an einem Europa-Countdown teil, während sie alle an ihren eigenen familiären und politisch-historischen Traumata leiden.

Menasse erzählt in Zeitromanen negative Entwicklungsgeschichten.2 Die Romane »Sinnliche Gewissheit« (1988), »Selige Zeiten, brüchige Welt« (1991), »Schubumkehr« (1995) – als »Trilogie der Entgeisterung« bezeichnet – üben eine komödienhafte, aber gleichzeitig hartnäckige Kritik an den politisch-historischen Ideologien des ausgehenden 20. Jahrhunderts: Der Geist, der die Welt noch verbessern will, verwandelt seinen Glauben in bittere, mörderische Diskurse. »Die Vertreibung aus der Hölle« (2001) ist eine ironische Antwort auf den verlorenen Status der Geschichte und ein Musterbeispiel in Form einer weitläufigen Erzählung über die Äquivalenz zweier verschiedener »historischer« Epochen. »Don Juan de la Mancha« (2007) berichtet über das Sexualleben eines lese- und schreibsüchtigen Intellektuellen in Form autobiografischer Aufzeichnungen und psychoanalytischer Farcen und zeigt Leben, Liebe und Leiden in den »seligen« postmodernen Zeiten. »Die Hauptstadt« (2017) stellt die Alltagswelt einiger EU-Beamter in Brüssel dar und analysiert ironisch deren institutionelle Ebene und wie die supranationale Vorstellung eines friedlichen und gemeinsamen Europa-Projektes schiefzugehen droht. Die Rückentwicklung dieser Figuren fällt mit der Entwicklung der Menschheit zusammen: »Während nämlich der Held des Entwicklungsromans zur vollständigen Entfaltung seiner Persönlichkeit und sinnvollen Integration in die Gesellschaft voranschreitet, regredieren Menasses Figuren zu ihrem Anfangspunkt. Sie tun das jedoch in völliger Übereinstimmung mit der äußeren Welt.«3 Das Phänomen ›Entgeisterung‹ ist in allen Werken Menasses omnipräsent. Es ist aber nicht nur eine komische Simulation oder Paraphrase des pathetischen und idealistischen philosophischen Fachwortschatzes, sondern eine Art ständige Spiralbewegung zwischen dessen Polen: Menasse hält Hegels »Phänomenologie des Geistes« in Händen, liest thesenhaft das Inhaltsverzeichnis von hinten nach vorn, mit der sich Werk für Werk wiederholenden Konsequenz: Dass die geistige Arbeit der Menschheit nicht verhindern kann, tragischen – politisch-historischen wie privaten – Ereignissen entgehen zu können, ist ein purer Skandal. Zeitlich und örtlich ist es egal, wo sich die literarischen Protagonisten aktuell aufhalten: Das Unwiederholbare ist immer und überall wiederholbar. Das ist die Ironie der Tragik im Romanwerk Menasses.

Menasse mischt bewährte Erzählgattungen: Subkategorial sind seine Romane Bildungs-, Familien-, Geschichts- und Zeitromane. Trotz der schweren und sich oft wiederholenden Themen wirken die Situationskomik und das Anekdotische farcehaft; dialogfreudig und handlungsorientiert ist die Erzählweise; metafiktional und reflektiert sind die einzelnen Erzählebenen; das Essayistische in der Erzähler- beziehungsweise Kommentarstimme macht die Romane ernst und gleichzeitig ambivalent. »Robert Menasse schreibt seine Texte mit dem sicheren Gefühl für das, was Effekt machen könnte; das ist kein negatives Kriterium vor allem dann, wenn man bedenkt, wie wenig überhaupt in der Literatur Effekt macht (…).«4 Zwar können seine Protagonisten noch einmal ein Leben führen wie einst die Figuren Marcel Prousts, Thomas Manns, Robert Musils oder Heimito von Doderers, nur tun sie das bereits vor den Kulissen einer »kopierten« Romanwelt. Diese Welt ist aber eine, die auf den Kopf gestellt ist, in der alles zitierbar ist und alles seine Kopie kennt: Das sind die Erfahrungen einer brüchigen Welt, und dazwischen zeigt sich der totale Zerfall des jeweiligen Subjekts. Mit Menasses Worten: »Das postmoderne Bewußtsein ist die Emphase von der Beliebigkeit der Beziehungen, die die Phänomene heute eingehen können, weil reale gesellschaftliche Vermitteltheiten keine Rolle mehr spielen, bzw. durch das Prinzip Beliebigkeit ersetzt sind: das allgemeine Bewußtsein ist eine Klitterung aus Versatzstücken der Geschichte, gereinigt von Geschichte, aus Zitaten, gereinigt vom Geist des Zitierten, Kopien, ohne Bewußtsein vom Original, also Original-Kopien, Farcen, die die Tragödien vergessen haben, die sie perpetuieren.«5

Diese Prämissen gelten auch für Menasses historische Romankonstruktionen: Menasse sprach in seiner Eröffnungsrede anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1995 mit Schwerpunktland Österreich darüber, der größte Irrtum der Menschheit sei die Geschichte: »Erst der Glaube, daß es eine Geschichte gebe, die ein sinnvoller Prozeß sei, der ein Ziel habe, das man erkennen und auf das man schließlich bewußt hinarbeiten könne, hat aus dem Kreislauf simplen biologischen und sozialen Lebens von Menschen auf diesem Planeten jene Abfolge von Greuel in immer neuer Qualität gemacht, die wir als ›Geschichte‹ studieren und gleichzeitig verdrängen.«6

Die Geschichte als Erinnerung an die Lehren und Erfahrungen der Menschheit bezweifelt, Menasse zufolge, ihren eigenen Zustand im Gegensatz zu der europäischen ziel- und entwicklungsorientierten Auffassung, die ihren allgemeinen Aufstieg, ihre Würdigkeit für gutes Schicksal, ihre geistige Vorrangigkeit utopisch voraussetzt. In der »Geschichte« kommen private oder kollektive Pogrome, Genozide und Verbrechen in wahnsinnigen Ideologien verschleiert immer wieder vor. Diese wiederholen sich ständig – trotz des angeblichen aufklärerischen Impetus der ethisch orientierten Menschheitsgeschichte. »So macht Robert Menasse dem euphorischen geschichtlichen Fortschrittdenken den Garaus – durch sein Konzept des ›progressiven Rückschritts‹ bis hin zur entfalteten Totalität der Dummheit«.7 Menasses diesbezügliche Richtungssuche zieht sich durch sein ganzes Werk hindurch.

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Der Roman »Sinnliche Gewissheit« stellt eine tief europäische Lebenswelt mit deutschsprachigen Nationen dar – in Brasilien. Roman Gilanian, als muttersprachlicher, promovierter Lektor an der Universität São Paulo, berichtet hier über sein alltägliches, langweiliges Leben in erster Person Singular. Wegen der stark begrenzten geistigen Arbeitsmöglichkeiten in seiner Heimat will er seine intellektuelle Tätigkeit andernorts fortsetzen und nimmt die ihm angebotene Lektoratsstelle am germanistischen Lehrstuhl in Brasilien an. Roman monologisiert über die fremden Phänomene in grammatisch-kausalen Übungssätzen und erlebt dabei seine »sinnliche Gewissheit«, was Hegel als das primitivste Stadium des menschlichen Bewusstseins bezeichnet hatte. Er leidet unter dem uninteressierten Nichtstun und dem subjektlosen Dasein, das aber in kultischer Irritation auf ständige Erfüllung wartet. Der Handlungsbogen spannt sich im ständigen Wechsel von Frauennamen und Lokalen, Sex und Onanieren, ›G’schichtl-Erzählen‹ und Philosophieren. Die inneren Monologe enthalten Leidenstiraden über die Hindernisse des absoluten Geistes, systemkritische Aussagen über die Kriterien des Romanschreibens, autopoetische Reflexionen über den Mystifizierungszwang der Zufälle. Brasilien als Welt erscheint im Roman ohne Karneval- und Fußballbezüge, in der Symbiose ehemaliger österreichischer Flüchtlinge jüdischer Abstammung und Ex-Nazis wird ein neues Österreich in Brasilien kreiert: »hier ist den Deutschsprachigen, vor allem den Österreichern möglich, sich wie daheim zu fühlen; man ist unter sich, in einer Enklave (…) man spricht Hochdeutsch mit Austriazismen versetzt, trägt Dirndl, trinkt Heurigen und pflegt ungebrochen die vertrauten Mentalitäten (…). Sie alle sind in dieser Fremde zu Hause«.8 Roman, der Protagonist, findet in der Beschäftigung mit seinem Romanentwurf die Möglichkeit eines Auswegs aus dieser existenziellen Sackgasse. Seine Lieblingsfigur in dieser Lebenssituation ist Leo Singer, der in der Bar Esperança (»Bar jeder Hoffnung«) seine Lehre über die sinnliche Gewissheit propagiert. Dieser dient der Figur Roman als Muster für dessen Roman, in dem die Schicksalsgeschichte eines Geistesmenschen mit tragischem Ausgang erzählt werden soll. Dieser Roman wird zum zweiten Roman Menasses: »Selige Zeiten, brüchige Welt«.

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»Selige Zeiten, brüchige Welt« nimmt den Topos Leben versus Werk als eine Kopie auf, in der sich der männliche Geist und der weibliche Körper gegenseitig bekämpfen. Der Ort ist wieder São Paulo, Brasilien. Im Hintergrund tut sich aber eine ganz »europäische« Lebensgeschichte auf: Der bereits bekannte Leo Singer will Körper und Geist von der Höhe des absoluten Wissens aus vereinigen, die klassische Opposition auflösen, das Werk in der Sicherheit des Lebens verwirklichen. Seine Aussagen entsprechen der geistigen Kondition, die körperliche Begierde und ihre Befriedigungen aber stehen im Stadium der sinnlichen Gewissheit. Leo Singers ewiger Kampf mit Judith Katz führt ihn zu billigen Huren und zum Alkohol. Das große Werk existiert einfach nur in seinem ›G’schichtl-Erzählen‹. Er kann weder seine Theorie in die Praxis umsetzen, noch seinen Gedanken eine schriftlich fixierte Form geben. Singers Zerfall ist aber auch im Körper determiniert. Er kann nicht einmal sein eigenes Leben gestalten. Er ist überzeugt davon, dass ein Philosoph sich im Stadium des absoluten Geistes von den körperlichen Begierden befreien kann. Begierde und Lust bedeuten bei ihm erneut eine unklare geistige Vereinigung, und eben diese sture Idee wird zu seiner Lebenslüge. Er pendelt zwischen der seligen Zeit und der brüchigen Welt dialektisch hin und her: Als das totalitätszentrierte (nicht) selbst gemachte Werk in einer Sackgasse landet, verzichtet Leo Singer darauf und wendet sich den wesentlichen Dingen des Lebens zu. Als er jedoch am Leben scheitert, zieht er sich an seinen Schreibtisch zurück. Er ist in seine eigene Geschichte eingeschlossen und verwirklicht die Scheinwirklichkeit der Anfangssituation: Er erkennt sein Ich-Bild weder im selbst gemachten Spiegelbild noch im wirklichen Spiegel, den Judith Katz vor ihn stellt. Tatsächlich ist Menasses Roman »ein Abgesang auf Größenwahn und Allmachtsideen«. Leo Singer maßt sich »ein Werk von messianischer Bedeutung an. Judith dagegen, die musische Gottheit, ist in der brüchigen Welt zugrunde gegangen, ohne ihre Funktion erfüllt zu haben, denn das von ihr bewahrte Werk ist lediglich eine Kopie der selbstgefälligen Monologe Leos.«9 Leo Singer opfert Judith, das Symbol des Lebens, das Medium des großen Werkes. Seine große Tat wird durch den Mord legitimiert. Das Werk verliert aber an Bedeutung: Nach dem Erscheinen werden nicht mehr als fünf Exemplare verkauft, so der allwissende Erzähler, der Roman Gilanian nachahmen sollte.

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Roman Gilanian kehrt in »Schubumkehr« mit großen und beeindruckenden Erfahrungen aus Brasilien nach Österreich zurück – im Jahr der mitteleuropäischen politischen Wenden. Über »Schubumkehr« schrieb Wendelin Schmidt-Dengler einführend: »›Schubumkehr‹ war als Begriff einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden, als im Mai 1991 ein Flugzeug der Lauda-Air über Thailand abstürzte, wobei die Ursache in der Schubumkehr lag, die sich automatisch eingeschaltet hatte; wenn dies geschähe, so müßte es, wie Lauda erklärte, alles zerreißen: Statt nach vorne, würde nun das Flugzeug in die Gegenrichtung geschleudert. Menasse meinte damals, daß dies der Begriff sei, der wie kaum ein anderer die europäische Situation nach 1989 träfe: Es würde eben alles zerrissen. ›Schubumkehr‹ zielt, so will es der Wille des Autors mit dem Sinn fürs Epochale, auf eine Zäsur, deren Konsequenzen kaum überdacht oder bedacht worden wären.«10

Schauplatz des Romans ist das Waldviertel, die tiefste österreichische Provinz, deren kleine Gemeinde Komprechts touristisch entwickelt werden soll. Die Figur Roman fällt familiär, sozialpolitisch und mental in eine Welt zurück, die er einmal schon überwunden hatte. Er muss also wieder vor der totalen Zusammenhanglosigkeit der Welt fliehen. Mit einer Videokamera versucht er, sein Leben zu registrieren und ihm so einen Sinn zu geben. Er nimmt alles auf, aber in den Aufnahmen ist dennoch nichts Wesentliches zu sehen. Er ist trotz seiner Zielsetzung nie am richtigen Ort und nie zur richtigen Zeit. Die Geschichte kann nicht einmal technisch objektiviert werden. Informationen über die bereits thematisierten Videoaufnahmen in »Schubumkehr«bekommen wir von gestaltlosen Figuren in Form unbenannter Dialoge. Roman selbst erscheint nie in den Szenen des Films, er bildet sich nicht ab, er kann nicht evoziert werden. Deshalb gibt es nur leere Lichteffekte im selbst gemachten Film: Es gibt niemanden mehr, der zu sehen ist, aber auch niemanden, der sehen könnte. Es wird noch immer das Ganze beansprucht, die Welt erlebt aber die letzten wahnsinnigen Stadien einer negativen Entwicklungsgeschichte, die globale Züge trägt. Roman verschwindet am Ende des Romans, er ist wieder dort angelangt, von wo er sich aufgemacht hatte: Die Heimatlosigkeit am Anfang in Brasilien und am Ende in Österreich werden übereinander kopiert.

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»Die Vertreibung aus der Hölle« kann gleichzeitig als Zeitroman und historischer Roman bezeichnet werden: »Noch stärker als in der Trilogie (…) ist in ›Die Vertreibung aus der Hölle‹ die tragisch-groteske menschliche Determiniertheit durch die Geschichte präsent.«11

Der erste Erzählstrang thematisiert die spanische Inquisition des 17. Jahrhunderts und die Vertreibung der portugiesischen Juden aus ihrer von ihnen als paradiesisch empfundenen Heimat, während der zweite Erzählstrang Österreich aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt. Die Geschichte wiederholt sich nur scheinbar: Sowohl der Völkermord im Namen der katholischen Kirche als auch der Holocaust nach der arischen Rassenlehre beruhen auf böser menschlicher Berechnung. Menasse lässt eine historisch fundierte christlich-katholische Wahnsinnsideologie in einer biografisch untermauerten Schicksalsgeschichte und eine zeitgenössische linksliberale Karriere eines Historikers parallel laufen. Der ehemalige Samuel Manasseh ben Israel wird Schriftgelehrter, Politiker und Lehrer, hingegen ist der gegenwärtige Viktor Abravanel im Werk von Menasse eine bekannte, wiederholt vorkommende Figur, die die großen Ereignisse des Lebens aus Feigheit, Unverständnis oder aus Dummheit verpasst. Sie teilen ein epochenübergreifendes Schicksal: Unvorbereitet begegnen beide Hauptfiguren der Zugehörigkeitspflicht zum Judentum, die von anderen geregelt und dementsprechend vorgeschrieben wird.

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Im darauf folgenden Roman widmete sich Menasse einem Amalgam von Archetypen der europäischen Neuzeit die weltliterarisch als wandernde und epochenübergreifende Figuren gelten. Don Juans und Don Quijotes ideologische Erbschaften werden von Menasse simuliert. Endergebnis und Kopie bilden eine Mischung namens »Don Juan de la Mancha«, dessen sexuell-intellektuelle Entwicklungsgeschichte vom letzten Stadium der Unlust her erzählt wird. Menasses Protagonist Nathan ist ein späterer Neffe des Don Quijote und besteht nicht mehr auf ritterlichen, sondern auf von den Medien beeinflussten Idealen. Er ist auch kein Don Juan im wahren Sinne des Wortes: Nathan ist ein sexsüchtiger Typ, der die Lust im Laufe seiner erotomanischen Heldentaten einfach verliert. Menasse stellt die Erziehung beziehungsweise Rückentwicklungsgeschichte der Lust eines intellektuellen Tollpatsches unserer Zeit in sexual- und psychoanalytisch simulierter Stilübung dar.

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Wenn die »Vertreibung aus der Hölle« zwei politisch-historische Epochen Europas miteinander verbindet, fokussiert »Die Hauptstadt« auf die Gegenwart der Europäischen Union, deren institutionelle Wurzeln in dem Schrecken der kriegssüchtigen nahen Vergangenheit zu finden sind. Eine Vielzahl von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturgeschichtlichen Konflikten und Problemen der Europäischen Union werden im Roman erörtert, in dem es um das überbürokratisierte System der Europäischen Union, die untereinander ohne richtige Balance kommunizierenden Sub- und Hauptinstitutionen, die europäische Marktwirtschaft mit nationalen Interessen und die politische und kulturelle Einheit Europas geht. Kulminationspunkt des Romans ist eine Art Europa-Countdown: Der Weg führt vier Protagonisten zur selben Zeit an ein und dieselbe Metrostation, wo ein vorbereiteter Terrorangriff auf sie, auf das Ende des Romans: auf Europa wartet. »Die Hauptstadt« ist Robert Menasses aktuelle Variation auf die Entgeisterung.12

1 Verena Holler: »Zwischen Avantgarde und Realismus. Anmerkungen zur Trilogie der Entgeisterung«, in: Kurt Bartsch / Verena Holler (Hg.): »Robert Menasse«, Graz 2004 (= Dossier 22), S. 27–58, hier S. 53. — 2 Der Beitrag folgt in vielen Teilen Attila Bombitz: »Poetik der ›Entgeisterung‹: zum literarischen Werk von Robert Menasse«, in: Ders. / Joachim Jacob (Hg.), »Literarischer Text und Kontext. Ein Buch für Károly Csúri«, Wien (Praesens) 2018, S. 145–152. — 3 Holler, a. a. O., S. 35. — 4 Wendelin Schmidt-Dengler: »Bruchlinien II. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1990 bis 2008«, hg. von Johann Sonnleitner, Salzburg, Wien 2012, S. 272. — 5 Robert Menasse: »Überbau und Underground. Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist«, Frankfurt/M. 1997, S. 164 f. — 6 Robert Menasse: »›Geschichte‹ war der größte historische Irrtum. Rede zur Eröffnung der 47. Frankfurter Buchmesse 1995«, in: Dieter Stolz (Hg.): »Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses ›Trilogie der Entgeisterung‹«, Frankfurt/M. 1997, S. 27–34, hier S. 28. — 7 Sigrid Löffler: »Literarische Flügelschläge. Laudatio anläßlich der Verleihung des Johann-Jacob-Christoph-von-Grimmelshausen-Preises 1999«, in: Eva Schörkhuber (Hg.): »Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse«, Wien 2007, S. 302–308, hier S. 308. — 8 Thomas Beckermann: »Versuch, die Auslöschung eines Bildes zu beschreiben. Robert Menasses erste Romane«, in: Dieter Stolz (Hg.): »Die Welt scheint unverbesserlich. Zu Robert Menasses ›Trilogie der Entgeisterung‹«, Frankfurt/M. 1997, S. 79–102, hier S. 80. — 9 Jessica Reischert: »Parodie der Muse«, in: Eva Schörkhuber (Hg.): »Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse«, Wien 2007, S. 173–187, hier S. 187. Singers / Menasses Philosophie erschien mit: »Phänomenologie der Entgeisterung. Geschichte des verschwindenden Wissens«, Frankfurt/M. 1995. — 10 Schmidt-Dengler, a. a. O., S. 93. — 11 Katarina Rohringer Vešović: »Geschichte ist eine irre Komödie«, in: Eva Schörkhuber (Hg.): »Was einmal wirklich war. Zum Werk von Robert Menasse«, Wien 2007, S. 53–82, hier S. 56 f. — 12 Vgl. Michael Multhammer: »Die EU als Weltgeist zu Pferde. Anmerkungen zur Poetik von Robert Menasses Roman ›Die Hauptstadt‹«, in: Birthe Hoffmann / Thorsten Carstensen (Hg.): »Text & Kontext. Jahrbuch für germanistische Literaturforschung in Skandinavien«, Bd. 41, Kopenhagen, München, 2019, S. 59–71, S. 66.

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