Kitabı oku: «TEXT + KRITIK 234 - Robert Menasse», sayfa 3

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Armin Schäfer

Konstruktion und Störung Zu Robert Menasses »Die Vertreibung aus der Hölle«
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Robert Menasse hat mit seinen literarischen und essayistischen Texten, aber auch als öffentlicher Intellektueller eine Stufe erklommen, auf der die allgemeine Regel, wie Kommunikation funktioniert, verkehrt werden kann. Es scheint, als ob der Grundsatz, dass nicht der Sender, sondern der Empfänger über den Sinn einer Botschaft entscheidet, im Fall von Menasse aufgehoben wäre und er darüber bestimmen könne, wie seine Äußerungen zu verstehen seien. Dass er seine Intentionen als Richtschnur der Rezeption durchzusetzen vermochte, demonstriert die herausragende Stellung im literarischen Feld Österreichs, die er in den letzten 30 Jahren erlangt hat.1 Menasse hat auch die Entstehung seines Romans »Die Vertreibung aus der Hölle« (2001) durch zahlreiche Hinweise, Interviews und Vorabveröffentlichungen begleitet.2 Seine Selbstinszenierung als literarischer Autor und seine Rolle des öffentlichen Intellektuellen gehen Hand in Hand. Der Kredit, den er auf die Freiheit der Literatur aufgenommen hat, finanziert seine Essays zur Politik, und umgekehrt bewirtschaften seine Romane und Erzählungen die Themen seiner Essays.

»Die Vertreibung aus der Hölle« kann als ein Roman über die Effekte der Traumatisierung durch die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden gelesen werden. Die erste Generation der Opfer des Nationalsozialismus hat auf die Verfolgung und Morde vielfach mit Schweigen und Verdrängen reagiert, sodass auf der Seite der Opfer das Gespräch zwischen den Generationen stockte und die Traumatisierung in die nachfolgenden Generationen fortwirkte. Der Dialog zwischen Opfern und Tätern kam ohnehin nicht in Gang. Menasse hat eine fabulierende Erzählweise und öffentliche Inszenierung seiner Person entwickelt, die den durch die Traumatisierung versperrten Zugang zur eigenen Geschichte freizuräumen und die Blockaden zu überwinden suchen.3 Er hat die Spannung zwischen der Forderung nach Faktentreue und Wahrhaftigkeit vielfach unaufgelöst gelassen und das Spiel mit der Verwirrung ihrer Unterscheidung über die Grenzen des Romans hinausgetrieben.4 Als er 2002 in seiner Dankesrede für den Hölderlin-Preis, der ihm für den Roman »Die Vertreibung aus der Hölle« verliehen wurde, ein Adorno-Zitat über Auschwitz erfand, um der Erfindung eines Rabbis, der im 17. Jahrhundert vor der Inquisition in Spanien in die Niederlande flieht, zu größerer Importanz zu verhelfen, wurde durch die Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe die wohlmeinende Absicht des Autors gerechtfertigt.5

Vielleicht ist in den letzten 30 Jahren, in denen Menasse auf dem literarischen Feld reüssierte, die Schwelle, auf der die Akzeptanz schwindet für Erzählweisen und öffentliche Auftritte, die geeignet sind, klar geschnittene Unterscheidungen zwischen Wahrheit und Lüge zu verwirren, auch in Österreich abgesenkt worden? Das Dilemma, vor das Menasse seine Leserinnen und Leser bereits in »Die Vertreibung aus der Hölle« stellt, hat für die Nachfahren der Täter jedenfalls keine Auflösung gefunden. Vielmehr verlangt er ihnen folgende, ebenso grundlegende wie simple Unterscheidungen ab: Die Äußerungen, die der Autor Menasse, seine Erzähler und seine literarischen Figuren treffen, sind in ihrem Wahrheitsgehalt nicht durch ihre Wörtlichkeit, sondern durch ihren Status als Aussagen zu begreifen, der seinerseits von wechselnden Spielregeln der Diskurse abhängt. Die Romane muten Leserinnen und Lesern also zu, dass sie solche Unterscheidungen zu treffen wissen – und dass sie diese Unterscheidungen zugunsten von Menasse auslegen.

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In der Erstausgabe des Romans »Die Vertreibung aus der Hölle« heißt es im Klappentext: »Was ist aus uns bloß geworden? Bei einem Klassentreffen, 25 Jahre nach dem Abitur, herrscht fröhliche Selbstzufriedenheit, bis Viktor seine ehemaligen Schulkollegen mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Lehrer konfrontiert. Es kommt zu einem Eklat, der aus dieser Nacht eine Abenteuerreise in die Geschichte macht.«6 Der Historiker Viktor Abravanel ist ein Nachfahre des Rabbis Manasseh ben Israel, der vor der Verfolgung der Juden im Spanien des 17. Jahrhunderts nach Amsterdam floh, wo er unter anderem den späteren Philosophen Baruch de Spinoza unterrichtete. Abravanel erzählt in einer langen Nacht im Anschluss an das Klassentreffen seiner Jugendliebe Hildegund sowohl seine eigene Lebensgeschichte als auch die des Rabbis, die er als Historiker erforscht hat.

Die Literaturkritik kam zu keinem einhelligen Urteil: Kritiken, denen die Konstruktion des Romans missglückt schien, standen Rezensionen gegenüber, die ihn als Problematisierung der jüdischen Identität in Österreich lobten. Die Einwände entzündeten sich weniger an dem historisierenden Erzählstrang, der die Geschichte des Manasseh ben Israel ausbreitet, als vielmehr an der Vermittlung zwischen dem historisierenden Erzählstrang und der Entwicklungsgeschichte.7 Der Kritik, die dem Roman die Mängel seiner Konstruktion vorhielt und sich insbesondere gegen die Zumutung einer Fülle von Kalauern und Zoten verwahrte, standen Lobreden gegenüber, die in dem Roman eine »autobiographische Intention«8 ausmachten und »den Bildungsprozess Viktors vom unwissenden zum bewussten Juden«9 als die »Wunschautobiographie«10 eines Autors lasen, »dessen jüdischen Großvater während des Nationalsozialismus nur die Ehe mit einer Nicht-Jüdin schützte, und dessen Vater 1938 in einem Kindertransport das Land Richtung England verlassen konnte«:11 »Die Vertreibung aus der Hölle« sei ein »Roman, dessen kaum verhüllter Zweck es ist, die jüdische Identität seines Autors zu beglaubigen«.12 Iris Radisch hielt den Roman gar für einen »Glücksfall literarischer Ahnenforschung«.13

Der historisierende Erzählstrang hat nicht zuletzt Teil an der allgemeinen »Wiederentdeckung der sephardischen Geschichte«, die »ein willkommenes nicht-zionistisches Identifikationsangebot für die Generation nach der Shoah darstellt«.14 Jedoch wurden Irrtümer, Ungenauigkeiten und Fehler des Romans beanstandet: »Die Encyclopaedia Judaica bezeichnet den faktualen Anteil des Romans als unzuverlässig.«15 Literaturwissenschaftliche Beiträge konnten hingegen zeigen, dass der Roman eine Hypothek auf die Freiheiten aufnimmt, die Fiktionen zumeist zugebilligt werden. Einerseits hat sie die Geschichte des Manasseh ben Israel »als bloße Projektionsfläche«16 aufgefasst, auf die sich Wünsche nach einer jüdischen Identität richten. Andererseits hat sie nach dem Zusammenhang »zwischen den historischen Geschehnissen und der Erfahrung des Subjekts«17 gefragt und die Eigenart des Romans als Vergegenwärtigung von Vergangenheit gegenüber dem historisierenden Verfahren des Geschichtsromans abgegrenzt. Carsten Rohde kam zu dem Schluss, dass der Roman »implizit ein Plädoyer für das konkrete, politische Engagement in der Tradition der linksliberalen Emanzipationsbewegung« sei.18 Vivian Liska hat nicht zuletzt die Frage aufgeworfen, wie sich eine »poetologische Selbstreflexion mit der Frage nach dem Jüdischen verbindet«.19 Und Marc Chraplak zeigte, wie der Roman eine geschichtsphilosophische Anregung von Walter Benjamin aufgreift und an einem Genre des historischen Romans, der eigentlich die Gegenwart verhandelt, teilhat.20 Die Antworten, die der Roman gibt, liegen in den konkreten Spannungen zwischen mündlichem Erzählen und Textualität, zwischen dem Beschweigen der nationalsozialistischen Verfolgung in der Familie der Erzählerfigur und deren Geschwätzigkeit oder auch in der unerwiderten Liebe des Juden Abravanel zu dem »Nazifamilienkind« (191) Hildegund.

Im Folgenden soll die Art und Weise, wie der Roman die Spannung zwischen dem Effekt der Traumatisierung und den Schwächen der Erzählerfigur exponiert und zuspitzt, beleuchtet werden. Diese Spannung, so soll abschließend gezeigt werden, ist insbesondere nicht schon durch die Forderung aufzulösen, dass die Person Robert Menasse, der Autor des Romans, oder die Erzählerfigur Abravanel auf Faktentreue und Glaubwürdigkeit zu verpflichten sei.

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Der Roman fingiert mit Viktor Abravanel eine Erzählerfigur, die im Laufe einer Nacht nicht nur ihre eigene Lebensgeschichte vor seiner Jugendliebe Hildegund ausbreitet, sondern auch die Manasseh ben Israels. Der Schluss enthüllt, »dass Viktor nicht nur Erzähler und Protagonist seiner eigenen Kindheit, sondern auch als Erzähler des iberischen Handlungsstrangs auftritt. Diese [historisierende, der Verf.] Erzählung basiert nicht auf Viktors Erinnerungen, sondern auf seinen Forschungen zur Geschichte des Judentums in der Frühen Neuzeit.«21 Die Erzählerfigur fühlt sich in vielfacher Weise benachteiligt, ungeliebt und verfolgt, und sucht nach den Korrespondenzen zwischen persönlicher und politischer Geschichte: »Seit der Ohrfeige fiel Viktor im Grunde immer nur dann ein, daß sein Vater Jude war, wenn er ihn gerade aus irgendeinem Grund haßte oder verachtete. (…) Zugleich genierte er sich und haßte sich geradezu dafür, daß er seine letztlich pubertäre Abgrenzung von seinem Vater mit jenem dumpfen, atmosphärischen Antisemitismus verband, den er von Schule und Internat mitbekommen hatte, durch ein Schülerwitzchen da und eine Lehrerbemerkung dort.« (372)

Die Vermittlung der zwei Stränge oder Ebenen wird angereizt durch »eine am mündlichen Erzählen orientierte, sich der eigenen Fiktionalität und Subjektivität bewusste Rede, eine Rede zudem, die an ein konkretes Gegenüber gerichtet ist«.22 Dass diese Konstruktion erst am Schluss ersichtlich wird, ist Teil eines Kalküls: Man kann zwischen den zwei Erzählsträngen, die gegeneinander montiert sind, zahlreiche Analogien, Spiegelungen, Gegensätze und Verschiebungen ausmachen. Die Komplexität der Konstruktion ist ohne Rücksicht auf jüdische Traditionsbildung und Gedächtniskultur nicht zu verstehen.23 Mit dem Eintritt des historisierenden Erzählstranges in das Leben des Protagonisten, der, so geht die Fiktion, die Biografie des Manasseh ben Israel erforscht hat, und mit der Anbindung der über die nahezu gesamte Erzählzeit unbestimmt bleibenden Stimme, die die Biografie Manasseh ben Israels erzählt, an die Figur Abravanels wird ein rückwirkender Effekt ausgelöst: Die Leserinnen und Leser sind, sofern sie die Eigenart der Konstruktion nicht schon sogleich durchschaut haben, zur Überprüfung ihrer bisherigen Lektüre und gegebenenfalls zur Neubewertung des Romans eingeladen.

Vor dem Hintergrund der dem Erzähler Abravanel eigenen Bescheidenheit erfährt die Eigenart der Lebensgeschichte Manasseh ben Israels ihre Rechtfertigung und rücken die Eigentümlichkeiten, Fehler und Irrtümer, die diesem Erzählstrang sowohl auf der faktualen Ebene als auch auf der Ebene der Darstellung umspielen, in ein neues Licht. Auch wenn sie als eine Schwäche ausgelegt werden kann, steht infrage, wem diese Eigenart zuzurechnen ist. Was aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft als eine insgesamt fragwürdige Darstellung einer Lebensgeschichte erscheinen mag, wird durch die Erzählkonstruktion letztlich in einen Vorzug der Erzählerfigur konvertiert. Es gibt nicht länger eine unbestimmte Erzählstimme, die sich auf unzulängliche Weise die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft aneignete und mehr oder minder deutlich von einem Autor unterschieden ist, der seinerseits eben nicht umstandslos mit Menasse gleichzusetzen ist, sondern die fingierte Erzählerfigur präsentiert im Laufe einer alkoholisierten Nacht eine Version ihrer Forschungen zur Geschichte des Judentums. Zum einen ist also die Lebensgeschichte Manasseh ben Israels nicht mehr vom Standpunkt der Erzählerfigur abzulösen, zum anderen nimmt dessen Lebensgeschichte den Charakter eines privaten und mündlichen Berichts an. Der Autor ist nicht seine Erzählerfigur, aber das Namensspiel, das der Roman initiiert, schlägt über den Abgrund, der zwischen Autor und Figuren, Leben und Text liegt, eine Brücke, auf der Robert Menasse seinen großen Auftritt hat: Je nachdem, wie die Leserinnen und Leser die Unterscheidungen handhaben und welchen Kräften im Namensspiel sie nachgeben möchten, ist Robert Menasse oder aber ist Robert Menasse nicht der Nachfahre des Lehrers von Spinoza.24 Die Logik des post hoc, ergo propter hoc kann eine Vertauschung anreizen, für die es keine sachliche Grundlage gibt, die aber in einer Fiktion leichthin statthaben kann. Ungleich höher als das symbolische Kapital, das so zu erwirtschaften ist, ist jenes, das aus einer Verkehrung der Beziehung Vorfahre und Nachfahre, Lehrer und Schüler gewonnen werden kann. Der Nachfahre des Lehrers Spinoza wird selbst zum Lehrer des Philosophen.

Die Konstruktion des Romans spannt insgesamt einen Schutzschirm gegen Korrekturen, Einwände und Kritik auf und verleitet nicht zuletzt zur Nachsicht gegenüber den offenkundigen Schwächen der Erzählerfigur bei der Beherrschung der Kunst des Erzählens und Schreibens. So besitzt Viktor eine nahezu kindliche Freude an Adjektiven: »Zwei Rappen, geschmückt mit lila Stoffrosetten, zogen den Leichenwagen, auf dem ein so kleiner Sarg lag, daß er für ein neugeborenes Kind bemessen schien. Dahinter schritt, mit beiden Händen ein Kruzifix in die Höhe haltend, Kardinal João d’Almeida aus Evora, in blutrotem Talar und mit rotem Birett, über den Schultern die hermelinbesetzte Cappa Magna, deren Schleppe von vier Domherren in lila Talaren getragen wurde. Es folgten die Pfarrer von Começos und den umliegenden Gemeinden in schwarzen Soutanen, mit weißen Chorhemden und violetten Stolen.« (11) Solche Detaillierung wird sodann in Variationen und Wiederholungen entfaltet: Er hatte »gerade noch den Sarg auf dem Wagen erspäht, diesen winzigen Sarg« (12 f.). Oder aber in der Spezifikation weiter detailliert: »Gezogen von den nachtschwarzen Pferden«. (13) So wie die Erzählerfigur die Adjektive, lieben die Figuren den Kalauer. Die Beschreibung einer Niederkunft gewinnt den Kalauer aus der Homonymie: »Im Kreis, um die Kreißende herum«. (31) Oder der Kalauer bahnt der Erzählerfigur die Assoziationen: »Er starrte auf die peinlich saubere, aber grobe Hose des Vaters, sagte nichts. Wie fadenscheinig sein Vater wirkte.« (27) Im Dialog zwischen Victor und seinem Schulschwarm Hildegund diktiert der Kalauer die Redeübernahme, die ihren Anlass eben nicht allein im Ausgesagten findet, sondern am Signifikanten. Der Dialog überschreitet den psychologischen Realismus; eine heteronome Ordnung oder Kategorie bricht in die Rede herein: »›(…) Hildegund klingt so – germanisch. Arisch.‹ / ›Du bist wirklich ein Arschloch.‹« (24) Das Erzählen überlässt die Dialogführung den Assoziationen, die von männlicher Eitelkeit, Dummheit und der sexualisierten Gewalt von Sprechakten angetrieben werden und mittels einer reflexiven Indienstnahme von Freuds Theorie des Witzes auf die zweite Stufe treten. Die wohlmeinenden Leserinnen und Leser können davon ausgehen, dass dem Autor die Kalauer und Zoten, Katachresen und Ungereimtheiten nicht als Fehler oder Ungeschicklichkeiten unterlaufen, sondern sie insgesamt eine Störung der Romankonstruktion betreiben und Teil einer literarischen Strategie sind.

Diese Strategie zielt auf eine reflexive Federung des Erzählens und versieht die Äußerungen von Erzählstimmen und Figuren mit mehreren Vorbehalten. Der erste Vorbehalt betrifft die Unterscheidung zwischen Gesagtem und Gemeintem. Die Aussageweise blockiert, dass eine Äußerung gänzlich die Spielregeln eines Diskurses erfüllt, einer – und nur einer – Instanz der Äußerung zugerechnet werden kann und so zu einer Aussage wird. Der zweite betrifft eine Verunsicherung über die Äußerungsinstanz beziehungsweise den Sender. Die Frage, wer überhaupt spricht, berichtet, erzählt oder schreibt, erfährt keine klare Antwort. Vielmehr tritt der Sprecher maskiert oder als Bauchredner seiner selbst auf oder aber ist die Äußerung das Produkt zweier Sprecher und kann insofern ihnen nur gemeinsam zugerechnet werden: Sowohl die Redeanführung als auch die Zirkulation der Rede verwirren die Zurechenbarkeit der Äußerung. Der dritte Vorbehalt betrifft die Möglichkeit der höherstufigen Revision. Die Rede einer Figur wird durch die einer weiteren Figur relativiert. Die Rede des jungen Viktor durch die des älteren. Der Erzähler revidiert die Rede seiner Figuren (die ihrerseits in wechselseitiger Spiegelung auftreten). Der Autor revidiert die Rede seines Erzählers. Der politische Essayist den Autor Menasse. Die wohlmeinende moralische Absicht das Gesagte. Der vierte Vorbehalt ist der Verdacht gegen die Leserin, den Leser. Das Missverständnis ist nämlich einem Leser oder einer Leserin zuzurechnen, die die Signale der Ironie, der Brechung und die Subtilität und Komplexität der Konstruktion nicht zu würdigen vermögen. Der fünfte Vorbehalt betrifft die Spannung zwischen der Schrift und der Mündlichkeit und Performanz des Erzählaktes. Viktor und Hildegund brechen von der Feier mit dem Taxi auf. Die Erzählerfigur findet im Wagen eine Bühne für ihren Auftritt vor der ehemaligen Mitschülerin, die Dialogpartnerin und Zuschauerin in einer Person ist. Auf einer zweiten Ebene erfolgt der Auftritt der Erzählerfigur vor dem Taxifahrer, der die Funktion des Publikums verkörpert. Auf einer dritten Ebene wird die Erzählung insgesamt zu einer Szene. Während das Erzählen über die Dialoge einen Charakter des Szenischen annimmt, nimmt die Bühne, auf der Abravanels Auftritt stattfindet, den Charakter des Filmischen an: Der Ort, an dem die Erzählung Abravanels statthat, ist nicht nur selbst in permanenter Bewegung, sondern die Bühne seines Auftritts verwandelt die Wahrnehmungen seiner Zuschauerin: Der Blick aus dem fahrenden Auto nimmt den Charakter des Filmischen an. Die Erzählerfigur bietet, mit anderen Worten, seiner Zuhörerin großes Kino, dessen Soundtrack aus dem Autoradio des Taxis kommt.

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Viktor Abravanel will im Laufe der Nacht als Erzähler seinen angestammten Platz an der Seite des Guten einnehmen. Wer aus der Hölle vertrieben wird, muss aber den Platz räumen, wo die Eindeutigkeit moralischer Unterscheidungen herrscht.25 Vielleicht weist die Scham, die eine Leserin, einen Leser angesichts der Peinlichkeit dieser Erzählerfigur – ihres Verhaltens und ihrer Reden – befallen mag, einen Ausweg, der die philosophischen Großfragen umgeht, mit denen der Roman auftrumpft?26 Péter Nádas hat in seiner Erzählung »Aufleuchtende Details« einen alten japanischen Fotografen über die Peinlichkeit ausführen lassen: »Im Leben eines jeden, lehrte er, gibt es peinliche Bilder und Szenen, die man am liebsten aus seinem Gedächtnis löschen würde. Man kann sie wohl vergessen, verschieben, beschönigen, verfälschen, um das eigene Bewußtsein irgendwie zu ertragen, doch umsonst. Vergeblich. Die Mühe ist überflüssig. Wenn man sie zu vergessen sucht, wird man sich nur umso stärker an sie erinnern. Darüber hinaus wird die Erinnerung nicht nur das Bild, sondern auch die Absicht des Löschens oder Vergessens, den Prozeß des Verschiebens bewahren.«27 Viktor Abravanel erzählt seiner nächtlichen Begleiterin, wie er als junger Mann mit einer Frau ins Stundenhotel ging. Er war »vor dem Hotel in einen Haufen Hundescheiße gestiegen, und nun gab es Hundescheißeabdrücke und -flecken an allen Ecken und Enden des Spannteppichs in diesem Zimmer, es stank bestialisch. Viktor saß auf der Bettkante, dachte ›Verdammte Scheiße‹ und weinte. In der Literatur, dachte der Germanistikstudent, würde es heißen: ›Und weinte bitterlich.‹ Lebenstechnisch war es ein peinliches Mißverständnis, aber zugleich war es sein Eintritt in die Welt des Romans. / ›Wirklich wahr?‹ / ›Ja!‹ / ›Hundescheiße?‹ Sie kicherte / ›Ja!‹ / ›Scheiße!‹ / ›Willst du mit mir in ein Hotel gehen?‹« (266)

Die erzählerische Rückwendung auf das Missgeschick exponiert nicht nur die Peinlichkeit der Situation, sondern stellt auch die Differenz zwischen literarischem Diskurs und Wirklichkeit aus, und zwar als Eintritt der Erzählerfigur »in die Welt des Romans«. Wenn nämlich in der Wirklichkeit gilt – wie mit Samuel Beckett beim »Warten auf Godot« zu lernen ist –, dass man nicht zweimal in denselben Dreck tritt, tritt in der Literatur an der beschriebenen Scheiße ihr kategorialer Unterschied hervor: Sie stinkt nicht. Die erzählerische Rückwendung auf das Missgeschick des Tritts in Hundekot hat jedoch noch eine weitere Funktion: Sie evoziert die Peinlichkeit des Missgeschicks, die einst die »Entjungferung« (267) des Erzählers Abravanal in einem Stundenhotel vereitelte, um nunmehr in der aktuellen Situation mittels seiner Erzählung über die einstige Schmach zu triumphieren. Der unachtsam zufällige Tritt in den Hundekot, der die Peinlichkeit macht, vereitelt zwar den Vollzug des ersten Beischlafs, aber liefert eben auch den Stoff für eine Erzählung, mit der die aktuelle Zuhörerin zum Beischlaf überredet werden soll. Vielleicht nimmt die Passage im Licht einer Bemerkung Sigmund Freuds auch den Sinn an, die Schutzlosigkeit und Verletzungen des Erzählers vor Augen zu stellen. Freud gibt den Hinweis: »Daß zufällige Aktionen eigentlich absichtliche sind, wird auf keinem anderen Gebiete eher Glauben finden als auf dem der sexuellen Betätigung, wo die Grenze zwischen beiderlei Arten sich wirklich zu verwischen scheint.«28 Die Szene führt in die Ununterscheidbarkeit zwischen der Peinlichkeit und dem Triumph über eben diese Peinlichkeit in der erzählerischen Rückwendung.

Die Rückwendung des literarischen Erzählers, der in seiner Rede seine Traumatisierungen, Ängste und Störungen bearbeitet, ist nämlich von anderer Art als die Rückwendung des Historikers, der entlang der Fakten wahrheitsgetreu erzählt und seine Affekte, Wünsche, Bedürfnisse in seiner Erzählung, die er womöglich auch gar nicht als solche, sondern als Dokumentation, Bericht oder Schilderung versteht, einzuklammern sucht. Man muss der Erzählerfigur des Romans tatsächlich glauben: »Viktor lebte in steter Angst. Es war nicht mehr die Angst vor physischer Gewalt, es war die Angst vor dem Terror der Unzugehörigkeit. Des Ausgesetzt-Seins. Theaterdolche schlugen echtes Blut. Es war die Blindheit der Blicke, die töten wollte.« (458) Eine tiefsitzende Störung bannt den Erzähler in eine Art unvergängliche Gegenwärtigkeit. Dem Historiker Viktor Abravanel ist noch keine Wunde verheilt und jede Schmach, jede Kränkung, jede Verletzung noch gegenwärtig. Denn das Unbewusste kennt bekanntlich keine Vergangenheit.

1 Vgl. Matthias Beilein: »86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici im literarischen Feld Österreichs«, Berlin 2008 (= Philologische Studien und Quellen 213), S. 12. — 2 Vgl. ebd., S. 165–189. — 3 Vgl. Volker Weidermann: »›Das stimmt nicht, Robert. Frag den Papa.‹ Interview mit Eva und Robert Menasse«, in: »Der Spiegel«, 9.1.2018. Vgl. auch Johannes Franzen: »Eine Lüge in der Wirklichkeit wird keine Wahrheit im Roman – Zur Kontroverse um Robert Menasse« (5.1.2019), https://www.54books.de/author/johannes (5.10.2021). — 4 Vgl. Robert Menasse: »Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen«, Frankfurt/M. 2006, S. 89–114. Siehe ferner das Gespräch zwischen Menasse und Franz Schuh, in: »Die Presse«, 8.7.2012, https://www.diepresse.com/1263211/menasse-und-schuh-mit-aller-schwerkraft-ein-wiener (5.10.2021). — 5 Vgl. Beilein: »86 und die Folgen«, a. a. O., S. 175, 192 f. Siehe auch Konrad Paul Liessmann: »Über Robert Menasse: ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: Klaus Kastberger / Kurt Neumann (Hg.): »Grundbücher der österreichischen Literatur. Dritte Lieferung«, Wien 2019, S. 257–262, hier S. 258. — 6 Robert Menasse: »Die Vertreibung aus der Hölle. Roman«, Frankfurt/M. 2001, o. P. Der Roman wird im Folgenden nach der 8. Auflage 2017, Suhrkamp Taschenbuch, zitiert mit Seitenzahlen in Klammern. — 7 Franz Haas: »Welt und Zeitgeschichte im Doppelpack. Robert Menasses Roman ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: Kurt Bartsch / Verena Holler (Hg.): »Robert Menasse«, Graz 2004 (= Dossier 22), S. 204–208, hier S. 205. — 8 Andrea Reiter: »Die Geschichte der Marranen, ein Paradigma jüdischer Identität in Österreich nach der Shoah? Robert Menasses ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: »ASCHKENAS. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden« 20.1 (2010), S. 167–186, hier S. 167. — 9 Ebd. — 10 Ebd. Reiter übernimmt den Begriff von Florian Krobb: »Kollektivautobiographien – Wunschautobiographien: Marranenschicksal im deutsch-jüdischen historischen Roman«, Würzburg 2002. — 11 Ebd., S. 180. Zur Geschichte der Marranen als Modell für Menasses Wunschautobiografie siehe auch Alexander Rasumny: »Den Hass auf die Geschichte wegerzählen. Funktionen der Marranenthematik in Robert Menasses ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: Juliane Sucker / Lea Wohl von Haselberg (Hg.): »Bilder des Jüdischen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert«, Berlin 2013 (= Europäisch-jüdische Studien – Beiträge 6), S. 351–368. — 12 Reiter: »Die Geschichte der Marranen«, a. a. O., S. 169. — 13 Iris Radisch, in: »Die Zeit«, 4.10.2002, S. 10, zitiert nach Reiter: »Die Geschichte der Marranen«, a. a. O., S. 173. — 14 Reiter: »Die Geschichte der Marranen«, a. a. O., S. 172 f. Reiter führt Caryn Aviv, David Shneer: »New Jews. The End of Jewish Diaspora«, New York, London 2005 an. — 15 Rasumny: »Den Hass auf die Geschichte wegerzählen«, a. a. O., S. 356. Die Belegstelle bei Cecil Roth / A. K. Offenberg: »Manasseh (Menasseh) Ben Israel«, in: »Enyclopaedia Judaica. Bd. 13«, hg. von Fred Skolnik und Michael Berembaum, 2. Aufl., Detroit u. a. 2007, S. 454 f. — 16 Rasumny: »Den Hass auf die Geschichte wegerzählen«, a. a. O., S. 357. — 17 Ines Schubert: »Historie und Gedächtnis im romanhaften Geschichtserzählen. Robert Menasses ›Die Vertreibung aus der Hölle (2001)‹«, in: Daniel Fulda / Stephan Jaeger / Elena Agazzi (Hg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert, Berlin 2019, S. 371–389, hier S. 385. — 18 Carsten Rohde: »Totalität. Zu einem Schlüsselbegriff der modernen Romantheorie und seiner Dekonstruktion im Werk Robert Menasses«, in: »Études Germaniques«, Jg. 66, H. 4, 2011, S. 903–935, hier S. 926. — 19 Vivian Liska: »Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne«, Göttingen 2011 (= Manhattan Manuscripts 6), S. 268. — 20 Marc Chraplak: »Versuch einer Rettung. Inversiver Messianismus – umgekehrter historischer Roman. Robert Menasses ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: »Weimarer Beiträge«, Jg. 64, H. 4, 2018, S. 566–584. — 21 Schubert: »Historie und Gedächtnis im romanhaften Geschichtserzählen«, a. a. O., S. 379. — 22 Bettina Bannasch: »Zum Problem der Vergleichbarkeit in der Shoahliteratur. Robert Menasses ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, in: Gerd Beyer / Rudolf Freiburg (Hg.): »Literatur und Holocaust«, Würzburg 2009, S. 213–236, hier S. 228. — 23 Siehe Gabriele Stumpp: »Zu einigen Aspekten jüdischer Tradition in Robert Menasses ›Vertreibung aus der Hölle‹«, in: Bartsch / Holler (Hg.): »Robert Menasse«, a. a. O., S. 59–78, hier S. 69. Vgl. ferner Reiter: »Die Geschichte der Marranen«, a. a. O., S. 181. Reiter bemerkt eine Verflechtung der beiden Erzählstränge und zieht die Schlussfolgerung: »Die Ähnlichkeit zwischen dem der Verfolgung entkommenen Marranen und dem assimilierten Juden, der an der Wende zum 2. Jahrtausend in Österreich lebt und halachisch nicht als Jude gilt, wird angezeigt durch die thematische (und häufig syntaktische) Verschränkung der Lebensgeschichten Viktor Abravanels und derjenigen Manasseh ben Israels und bekräftigt durch die Identität der Namen von Autor und historischem Subjekt. Während aber Viktor die Beziehung zu seinen Vorfahren zur Stärkung seines jüdischen Selbstbewusstseins dient, braucht Menasse seine eigene Biographie, um diejenige seines Namensvetters zu entwerfen.« — 24 Menasse selbst hat dieses Spiel nicht zuletzt in den Paratexten mittels einer Anekdote angereizt, die außerdem als eine Art Urszene in der Entstehungsgeschichte des Romans stilisiert worden ist: »Ich bin vor einem Rembrandt-Portrait gestanden und habe neben dem Bild gelesen, dass es ›Robbi Menasse‹ darstellt. Da ich als Kind so gerufen wurde und heute noch von Freunden so genannt werde, hat mich das ganz eigenartig berührt. Diese Sekunde der Fehllektüre hat mich natürlich amüsiert und neugierig gemacht, und ich habe mich gefragt: Wer war dieser Mann, der meinen Namen trägt?« Klaus Nüchtern: »Signatur des Wahnsinns«, Interview mit Robert Menasse, in: »Der Falter«, 27.7.2001, hier zitiert nach Beilein: »86 und die Folgen«, a. a. O., S. 170. Im Jahr 2002 variiert Menasse diese Anekdote in einem Interview mit dem »Freitag«; siehe Beilein: »86 und die Folgen«, a. a. O., S. 171. Weitere Varianten der Anekdote sind im Umlauf; vgl. Liessmann: »Über Robert Menasse: ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, S. 257. — 25 Siehe hierzu nochmals Menasse: »Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung«, a. a. O., S. 89–114. — 26 Vgl. Liessmann: »Über Robert Menasse: ›Die Vertreibung aus der Hölle‹«, a. a. O., S. 258: »Wie es sich mit den Kontinuitäten oder Parallelen in der Geschichte verhält? Was kann sich wiederholen? Was wird sich wiederholen?«. — 27 Péter Nádas: »Aufleuchtende Details«, in: Ders., »Lichtgeschichte. Fotografien«,Wädenswill 2012, S. 11–52, hier S. 18. — 28 Sigmund Freud: »Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum«, Einleitung von Ricardo Steiner, 3. Aufl., Frankfurt/M. 2017, S. 237.

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