Kitabı oku: «Avatar - Der Herr der Elemente: Der Schatten von Kyoshi»

Yazı tipi:



Die deutsche Ausgabe von AVATAR – DER SCHATTEN VON KYOSHI

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler; Übersetzung: Bernd Sambale;

verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Jana Karsch;

Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster/Cross Cult; Cover Artwork: Jung Shan Chang;

Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.

Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe: AVATAR – THE SHADOW OF KYOSHI

German translation copyright © 2020 by Cross Cult.

Original English language edition copyright

© 2020 Viacom International Inc. All rights reserved.

Nickelodeon, Nickelodeon Avatar: The Last Airbender and all related titles, logos and characters are trademarks of Viacom International Inc.

Originalausgabe veröffentlicht von Amulet Books, ein Imprint von ABRAMS.

Print ISBN 978-3-96658-317-6 (Dezember 2020)

E-Book ISBN 978-3-96658-318-3 (Dezember 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE | WWW.NICK.DE


Ich erzähle diese Geschichte oft bei Panels oder Interviews, aber ich möchte sie hier für die Nachwelt festhalten. Es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Ich hatte noch keinen Roman verfasst. Damals dachte ich darüber nach, fürs Fernsehen zu schreiben. Um das eigene Können zu zeigen, muss man unverlangt ein Drehbuch einreichen, etwa eine Episode zu einer aktuellen TV-Serie – also im Prinzip Fan-Fiction. Gerade hatte ich Buch II: Erde der Originalserie Avatar – Der Herr der Elemente gesehen, also schrieb ich ein Drehbuch darüber, wie Sokka, unzufrieden, weil er kein Bändiger ist, sich einen tollen Meister sucht, der ihn unterweist. Von ihm sollte er lernen, wie man mit Wing Chun und allerlei technischem Schnickschnack kämpft (rückblickend wäre das Ergebnis Asami ziemlich ähnlich geworden).

Bei diesen ersten Schreibversuchen hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich selbst einmal etwas zum Kanon der Avatar-Welt beitragen würde. Für diese Gelegenheit habe ich im wahrsten Sinne euch, den Fans, zu danken. Schon länger als ein Jahrzehnt brennt ihr für dieses Universum und ich könnte mir als Fan und Autor nichts sehnlicher wünschen, als euch mit meinem Schaffen weiterhin Freude zu bereiten. Diese Bücher sind euch gewidmet. Ich danke euch von Herzen.

Hochachtungsvoll,

F. C. Yee

INHALT

PROLOG

UNERLEDIGTE GESCHÄFTE

DIE EINLADUNG

VERGANGENE LEBEN

DAS WIEDERSEHEN

KULTURDIPLOMATIE

DIE AUFFÜHRUNG

DIE REKTORIN

GESCHICHTSSTUNDE

DER ZUSAMMENBRUCH

DAS NACHSPIEL

DAS RITUAL

DER FEUERWEISE

SPIRITUELLE ÜBUNGEN

DIE BOTSCHAFT

INTERMEZZO: ÜBERLEBEN

RESIGNATION

SCHWÄCHE

ESKALATION

DIE GEFÄHRTIN

DER ABGRUND

FORMEN VON LEBEN UND TOD

HAUSPUTZ

ZWEITE CHANCE

VERLORENE FREUNDE

INTERMEZZO: DER MANN AUS DER GEISTERWELT

WIEDER ZU HAUSE

DAS TREFFEN

EPILOG

DANKSAGUNGEN


PROLOG


»JUNGE!«

Yun kratzte sich am Hals, bis Blut kam. Noch immer konnte er den Schleim und die Zähne auf seiner Haut spüren.

»Junge! Stell dich nicht so an!«

Er dachte daran, wie Jianzhu das Räucherstäbchen entzündet hatte, an den klebrig-süßen Duft und die Taubheit, die sich in seinen Gliedmaßen ausgebreitet hatte. Stechquallengift, das wusste er aus seinem Training. Erst vor Kurzem hatte er angefangen, mit Sifu Amak Gifte zu studieren und sich eine gewisse Immunität anzutrainieren.

Yun blinzelte und blickte sich verwirrt um. Anstelle des Staubs der Bergbaustadt fanden seine Finger nur feuchtes, schwammiges Moos am Boden. Er befand sich in einem Mangrovenwald. Der Himmel leuchtete in der ekelhaft schummrigen Farbe von ätzender Säure.

Er kroch umher, Sumpfschlamm schmatzte unter seinen Knien. Kahle, knorrige Baumstämme, kaum mehr als Schemen, ragten ringsumher empor. Durch das lockere Flechtwerk der Äste blickte ein riesiges, leuchtendes Auge auf ihn herab.

Das Auge hatte gesprochen. Es hatte gesagt, er sei nicht …

Ein Schmerz, schrecklich und vertraut, fuhr in seinen Magen. Er krümmte sich zusammen, platschte mit seinen Unterarmen ins Sumpfwasser. Die Landschaft um ihn herum begann zu erbeben. Hier war kein Erdbändigen am Werk, sondern etwas Ursprünglicheres, etwas Unkontrollierbares.

Er war nicht. Hier endete der Satz. Er war nichts.

Das seichte Wasser tanzte wie Regentropfen auf einer Trommel und schoss in Fontänen aufwärts. Es kam und ging, rüttelte an den Bäumen, sodass sie gegeneinander schlugen wie Hirschgeweihe im Kampf. Yun warf sich zu Boden, die makabre Parodie eines Schülers, der sich vor seinem Meister verbeugt.

Jianzhu. Der Name füllte seinen Geist wie ein Schrei, ein einzelner schriller Ton aus einer kaputten Flöte. Seine Stirn klatschte in den brackigen Schlamm. Jianzhu.

»Hör auf, du armseliger kleiner Bengel!«, brüllte das Auge. Trotz seines Ärgers schien es vor ihm zurückzuschrecken, fürchtete sich offenbar vor seinem wilden Schmerz. Der Boden zuckte und flatterte wie das Herz eines Mannes, der in den Tod stürzte. Ein Trommelschlag, der vor dem drohenden Aufprall lauter und lauter wurde.

Yun wollte, dass es aufhörte. Er wollte, dass die Qual ein Ende hatte. Es tat so weh zuzusehen, wie alles, wofür er gearbeitet hatte, zu Funken und Staub zerstob. Der Schmerz fraß ihn von innen auf.

Dann lass ihn raus.

Seine eigene Stimme flüsterte ihm diese Worte zu. Nicht die des Auges, nicht Jianzhus Stimme.

Trag ihn nach draußen. Irgendwo anders hin.

Zu jemand anderem.

Der Riss begann bei seinen Füßen, ein Nadelstich in überdehnter Seide. Dann lief er ins Wasser hinein und zuckte über die Erde wie ein Blitz über den Himmel. Der Boden teilte sich, die gesamte Gewalt des Bebens entlud sich auf einen schnellen, verheerenden Schlag.

Und dann … Stille.

Yun konnte wieder atmen. Er konnte sehen. Das Beben hatte sich erschöpft, hatte einen langen Spalt im Boden hinterlassen, eine widernatürliche Wunde in der Landschaft. Sumpfwasser strömte hinein und verbarg einen Abgrund, in dessen Tiefe er nicht blicken wollte.

Alles war so viel klarer, wenn sich endlich Erleichterung eingestellt hatte. Yun nutzte die Atempause und sah sich um. Der modrige Hain war anders als alle Wälder, die er je gesehen hatte. Das schwache Licht des Himmels stammte nicht von der Sonne – er konnte keinen solchen Himmelskörper entdecken. Dies war das diffuse Abbild einer wirklichen Landschaft, mit allzu stark verdünnter Tinte gemalt.

Ich bin in der Geisterwelt.

Er wich vor der Kluft zurück, die sich vor ihm erstreckte, wollte nicht von der Strömung mitgerissen werden. Dann drehte er sich um, packte die freigelegten Wurzeln eines ledrigen Baums und zog sich auf trockeneren Boden. Der Geruch von Schwefel und Verwesung hing in der Luft.

Meister Kelsang hatte ihm von der Geisterwelt erzählt. Schön und wild sollte sie sein, voller Wesen jenseits jeder Vorstellungskraft. Das Reich der Geister bot sich seinem Besucher als Spiegel dar, ein Abglanz seiner Gefühlswelt, eine Wirklichkeit, die um die nicht greifbare Projektion seines eigenen Geistes herum Gestalt annahm.

Yun krümmte die Finger und merkte, dass sie so fest und real waren, wie sie es nur sein konnten. Er fragte sich, ob der sanfte Mönch jemals ein solch albtraumhaftes Moor erkundet hatte. Sie hatten nie darüber gesprochen, was geschähe, wenn man die Geisterwelt betrat, während man noch in seinem Körper steckte.

Es knackte im Geäst und er zuckte zusammen. Er war nicht allein. Das Auge. Aufmerksam beobachtete es ihn aus dem Schatten des Waldes heraus, umkreiste ihn auf durchscheinenden Tentakeln, die, wie er wusste, mit unzähligen menschlichen Zähnen gespickt waren. Er hatte ihren Biss gespürt, in den Bergen, als sie eine Kostprobe seines Blutes genommen hatten.

Schlagartig rauschte eine Welle von Panik durch seine Herzkammern. Yun wusste, dass seine Uhr abgelaufen war. Er versuchte, sich zu erinnern, wie Jianzhu den Geist genannt hatte. »Großvater … Glühwurm?«

Plötzlich kam das Auge auf ihn zugeschossen und ließ sich zwischen zwei Bäumen in seiner Nähe nieder. Yun schrie auf und stürzte rückwärts auf seine Ellenbogen. Er hatte einen Fehler gemacht: Indem er den Namen ausgesprochen hatte, hatte er eine entscheidende, unsichtbare Barriere eingerissen. Nun war er enger mit dem Auge verbunden und verletzlicher denn je.

»So nenne ich mich«, sagte der Geist. Großvater Glühwurms Pupille zuckte auf enervierende Weise umher und die Iris zog sich zusammen. Yun konnte diesen Blick beinahe körperlich spüren, als würde eine schleimige Zunge über seinen Körper lecken. »Und nun, Kind, bist du mir deinen Namen schuldig.«

Im Erdkönigreich gab es zahllose Märchen, die der Bevölkerung als Warnung dienen sollten, und Yun war wie ein Narr genau in eine solche Erzählung hineingestolpert, in die Rolle eines armen Feldarbeiters oder Holzfällers, der mit einem Fluch belegt oder einfach nur gefressen wurde. Wie er wohl verzehrt werden würde? Vielleicht würde er zu Brei zerrieben und dann vom Schleim absorbiert.

»Ich heiße Yun.« Seine Handflächen waren schweißnass, so groß war seine Angst inzwischen. In manchen dieser Geschichten überlebte der dumme Junge durch blanken Schneid. Yun war bereits zur Beute geworden; seine einzige Chance war, sich zu einer interessanten Beute zu machen. »Ich … Ich …«

Doch es gelang ihm nicht, sich zu fassen. Seine Eloquenz, mit dem er den Feuerlord und den Erdkönig, die Häuptlinge der Wasserstämme und die obersten Äbte beeindruckt hatte, ließ ihn im Stich. Avatar Yun hätte vielleicht das Selbstvertrauen aufgebracht, sich aus dieser Lage herauszureden, doch der existierte nicht mehr.

Großvater Glühwurm regte sich in den Bäumen und Yun wusste, dass er sterben würde, wenn er nicht schnell etwas sagte. All die Augenblicke, in denen ein anderer sein Schicksal in Händen gehalten hatte, schossen ihm durch den Kopf.

»Bitte zieh mich als deinen Schüler in Betracht!«, rief er schrill.

Konnte ein einzelnes Auge überrascht aussehen? Es war still im Wald, nur das Rauschen des Wassers war zu hören. »Ich … knie vor dir nieder, als demütiger Pilger auf der Suche nach Antworten«, sagte Yun. Er nahm eine Haltung an, die besser zu seinen Worten passte. »Bitte unterweise mich in den Lehren der Geisterwelt. Ich flehe dich an!«

Großvater Glühwurm brach in Gelächter aus. Er besaß keine Augenlider, die er hätte verengen können, aber der Augapfel drehte sich nach oben, als würde er sich amüsieren. »Junge, hältst du das hier für ein Spiel?«

Alles ist ein Spiel, dachte Yun und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken. Ich werde dieses hier in die Länge ziehen, so gut ich nur kann. Eine Runde lang überlebe ich noch.

Avatar Yun existierte nicht mehr. Er würde wieder Yun, der Schwindler, sein müssen. »Du kannst es mir wohl kaum verübeln, dass ich einem Geist Fragen stellen möchte, der weiser noch ist als die weisesten Menschen.« Im Zweifelsfall immer schmeicheln. »Die größten Weisen des Erdkönigreichs haben es sechzehn Jahre lang nicht geschafft, den Avatar zu identifizieren. Dir hingegen ist das in wenigen Sekunden gelungen.«

»Hmpf. Wenn man einen Kampf ausgefochten hat wie seinerzeit Kuruk und ich, dann ist es unmöglich, seinen Geist nicht wiederzuerkennen. Schon als Jianzhu seine Reinkarnation auf meine Tunnel zuführte, habe ich gespürt: Es musste eins von euch Kindern sein.«

Bei dem Wort Tunnel wurde Yun hellhörig. »Du hast Wege zur Menschenwelt? Mehr als nur einen?«

Großvater Glühwurm lachte wieder. »Ich weiß, was du vorhast«, höhnte er. »Und es beeindruckt mich gar nicht. Ja, ich kann Übergänge zum Reich der Menschen erschaffen. Nein, du wirst mich weder austricksen noch überreden, dich zurückzuschicken. Du bist nicht die Brücke zwischen den Geistern und den Menschen, Junge. Du bist der Stein, den der Bildhauer wegschlagen musste. Die Verunreinigung im Erz. Ich habe dein Blut gekostet und du bist nichts. Nicht einmal dieses Gespräch bist du wert.«

Das Auge kroch näher. »Ich kann sehen, wie sehr dir die Wahrheit missfällt«, wisperte er in tröstendem, beinahe lieblichem Tonfall. »Mach dir nichts draus. Wer braucht schon die Avatarschaft? Du wirst deinen eigenen Lebenszweck schon finden – und deine eigene Unsterblichkeit. Sobald ich mich an deinem Blut gestärkt habe, wird ein Teil deines Wesens ewiglich in mir fortleben.«

Bei jedem Spiel bestand die Gefahr, dass der Gegner irgendwann die Lust daran verlor. Jäh schoss Großvater Glühwurm durch den Wald auf Yun zu und teilte mit seinen Schleimtentakeln die Bäume wie einen Perlenvorhang.

»Und jetzt sei dankbar«, brüllte der Geist. »Denn nun werden wir beide eins!«


UNERLEDIGTE GESCHÄFTE


BRUDER PO hatte Kuji einmal erzählt, der Spitzname des Dao sei »Mut aller Männer«: Nahm man das robuste Schwert in die Hand, mit dem sich der Feind hingebungsvoll niedermetzeln ließ, fühlte man sich sogleich tapferer.

Kuji fühlte sich jedoch keineswegs tapferer, als er mit klammen Fingern das Heft seines Dao umklammert hielt und die Tür bewachte. Zudem kam ihm die Klinge auch nicht sonderlich robust vor. Es war ein rostiges, abgestoßenes Exemplar, das so aussah, als würde es zerspringen, wenn er allzu kräftig damit in der Luft herumfuchtelte. Als jüngstes Mitglied der Triade der Goldenen Schwinge musste er am Ende der Schlange warten, wenn die Waffen ausgehändigt wurden. Dieses Schwert stammte vom Boden der Kiste.

»Jetzt bist du ’n richtiger Soldat, was?«, hatte jemand gewitzelt, als man ihm das Schwert in die Hand gedrückt hatte. »Nicht wie wir Mordgesellen.«

Bruder Po stand mit seiner kleinen Axt in der Hand an der Tür. Es war die Lieblingswaffe der meisten gestandenen Kämpfer der Triade. Nach außen hin wirkte er ruhig, doch Kuji konnte sehen, wie sein Kehlkopf beim Schlucken auf und ab hüpfte, wie er es immer tat, wenn er beim Pai-Sho einen riskanten Zug spielen wollte.

Wenn irgendetwas Kuji Sicherheit gab, dann war es das Revier seiner Bande: Loongkau war praktisch eine Festung. Auf den ersten Blick sah der Häuserblock nicht anders aus als die Nachbardistrikte in Ba Sing Ses Unterem Ring. Der sichtbare Teil wuchs planlos wie ein Pilz ein paar Stockwerke in die Höhe. Er trotzte der Schwerkraft und spottete jeder vernünftigen Architektur.

Es war jedoch ein offenes Geheimnis, dass der Komplex sich illegalerweise Ebene um Ebene tief in die Erde hinein fortpflanzte. Immer neue Untergeschosse waren gegraben worden, ohne dass dem Ganzen ein solider Plan oder ein Verständnis für Sicherheit zugrunde gelegen hätte. Alles wurde nur behelfsmäßig durch Holzreste, Lehmziegel und zusammengeklaubte, rostige Metallstücke abgestützt. Dennoch bestand Loongkau nach wie vor und war noch nicht in sich zusammengebrochen, was das Wirken der Geister sein mochte.

Das Innere des Komplexes bestand aus gewundenen Gängen, verschachtelten Räumen, Treppen und leeren Schächten. Armselige Kammern, die den Bewohnern als Behausungen dienten, saßen hier dicht an dicht wie Waben in einem Bienenstock und ließen nur Platz für enge Gassen. Loongkau war voller Fallen, so auch das Zimmer, in dem Kuji und Po warteten. Das war einer der Gründe, warum sich die Gesetzeshüter der Stadt nie an diesen Ort wagten.

Bis jetzt. Der Boss hatte einen Hinweis bekommen, dass die Festung der Goldenen Schwinge genau heute angegriffen werden würde. Jeder Bruder hatte Posten zu beziehen, bis die Bedrohung abgewehrt war. Kuji wusste nicht, was für ein Feind die Ältesten so in Aufregung versetzt haben vermochte. Um Loongkau zu belagern, schätzte er, wären mehr Polizisten nötig, als der Untere Ring zur Verfügung hatte.

Der Plan war dennoch solide. Wenn Eindringlinge in die unteren Etagen gelangen wollten, mussten sie einer nach dem anderen durch einen Engpass, der an diesem Zimmer vorbeiführte. So konnten sich Kuji und Ning jeden von ihnen einzeln vorknöpfen.

Es war zudem unwahrscheinlich, dass sie in einen Kampf geraten würden – zumindest redete Kuji sich das ein. Ein Stockwerk über ihnen schlich Halsabschneider Gong umher, der beste Attentäter, den der Boss hatte. Gong konnte einen Mungodrachen in seinem Versteck im Dschungel aufspüren und töten. Mit all den Köpfen, die er schon abgeschlagen hatte, hätte er eine ganze Scheune füllen können …

Im Stockwerk über ihm knallte etwas. Eine Stimme war nicht zu hören. Das kleine Zimmer fühlte sich plötzlich weniger wie ihr Revier und mehr wie ein Verschlag an, in dem sie wie eingepferchte Tiere festsaßen. Po gestikulierte mit seinem Beil. »Wir werden hören, wenn sie die Treppe runterkommen«, flüsterte er. »Dann schlagen wir zu.«

Kuji neigte seinen Kopf in die Richtung und lauschte angestrengt. Er wollte unbedingt mitbekommen, wenn sich jemand näherte, also lehnte er sich vor – und verlor prompt das Gleichgewicht, sodass er stolperte. Po verdrehte die Augen. »Du bist zu laut«, zischte er.

Wie um ihm Recht zu geben, flog plötzlich die Tür aus den Angeln, und jemand kam hereingeschossen und prallte mit Kuji zusammen. Der kreischte und fuchtelte mit seinem Dao, traf den Angreifer jedoch nur mit dem Knauf am Kopf. Po schnappte sich den Kerl und holte mit dem Beil aus, doch im letzten Moment hielt er inne.

Es war Halsabschneider Gong. Er war bewusstlos und blutete. Seine Handgelenke waren in die falsche Richtung verbogen und seine Knöchel waren mit seinem eigenen Würgedraht zusammengeschnürt. »Bruder Gong!«, rief Po und vergaß dabei selbst, leise zu sein. »Was ist passiert?«

Ein Krachen ertönte – nicht vom Flur her, den sie bewachen sollten, sondern von der gegenüberliegenden Wand. Zwei Arme mit Panzerhandschuhen an den Händen waren dort durch die Backsteine gebrochen und hatten sich in einem Würgegriff um Pos Hals gelegt. Kuji sah, wie seine Augen weiß vor Angst wurden, dann wurde Po mitten durch die Wand aus dem Zimmer gezerrt.

Kuji starrte ungläubig und wie betäubt das Loch an. Po war ein großer Mann, doch innerhalb eines Wimpernschlags war er fort gewesen, als wäre er einem Rabenadler zum Opfer gefallen. Hinter dem Loch, durch das er verschwunden war, war nichts als Finsternis.

Draußen knarrten die Dielen, als jemand darüber hinwegschritt, als wäre völlige Stille ein Mantel, den der Feind nach Belieben anlegen und abwerfen konnte. Tritte schwerer Stiefel kamen näher und näher.

Etwas schob sich durch den Türrahmen, sodass vom schwachen Licht des Flurs fast nichts mehr zu sehen war: Eine große, unglaublich große Gestalt trat herein. Eine schmale Spur aus Blut zog sich quer über ihre Kehle, als wäre ihr der Kopf abgeschlagen und wieder festgeklebt worden. Unter der Wunde bauschte sich ein Gewand aus grüner Seide. Das Gesicht war eine weiße Maske, die Augen nichts weiter als rote Striche – wie die eines Ungeheuers.

Zitternd hob Kuji sein Schwert. Er bewegte sich so langsam, als würde er durch Schlamm schwimmen. Das Wesen sah zu, wie er sein Schwert schwang, den Blick auf die Klinge geheftet, und irgendwie wusste Kuji, dass es ihn ohne Schwierigkeiten würde abwehren können. Wenn es denn wollte.

Die Klinge des Dao grub sich in die Schulter seines Gegners. Ein metallenes Knacken erklang, dann fuhr ein jäher Schmerz in Kujis Wange. Das Schwert war zerbrochen und die Spitze war zurückgeprallt und hatte ihn im Gesicht getroffen.

Das war ein Geist, musste einer sein. Einer, der durch Wände gehen und über Böden schweben konnte, eine Bestie, der man mit Klingen nichts anhaben konnte. Kuji ließ den Griff seines nutzlosen Schwertes fallen. Seine Mutter hatte ihm einmal erzählt, man könne sich gegen das Böse schützen, indem man den Avatar anrief. Schon als Kind hatte er gewusst, dass sie sich das nur ausgedacht hatte. Aber das hieß ja nicht, dass er sich nicht in diesem Augenblick entscheiden könnte, daran zu glauben.

»Der Avatar behüte mich«, flüsterte er, solange er noch sprechen konnte. Er fiel auf den Hintern und krabbelte rückwärts in die Zimmerecke. Der Schatten des Geistes bedeckte ihn vollständig. »Yangchen, behüte mich!«

Die Geisterfrau folgte ihm und senkte ihr rot-weißes Gesicht zu seinem herab. Ein Mensch hätte sich sicher abfällig über Kuji geäußert, so wie er mit eingezogenem Kopf dort kauerte. Die kalte Missachtung in ihren Augen war jedoch schlimmer, als Mitleid oder sadistisches Belustigung es je hätten sein können.

»Yangchen ist gerade nicht hier«, sagte sie mit voller, gebieterischer Stimme. Ihr Klang hätte schön sein können, wäre die Gleichgültigkeit darüber, ob er lebte oder starb, nicht so deutlich darin zu hören gewesen. »Dafür bin ich hier.«

Kuji schluchzte auf, als sie sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger ihrer großen, kräftigen Hand packte. Ihr Griff war behutsam, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie ihm ohne Mühe den Unterkiefer herausreißen könnte, wenn ihr danach verlangte. Die Frau hob sein Gesicht. »Und jetzt sag mir, wo ich deinen Boss finde.«


Kyoshis Hals juckte furchtbar. Die Garrotte war mit gemahlenem Glas überzogen gewesen, und obwohl sie keine tiefen Schnitte abbekommen hatte, reizten die winzigen scharfen Splitter noch immer ihre Haut. Recht geschah es ihr – wie nachlässig sie gewesen war! Der Drahtmann der Bande war zwar leise gewesen, aber keinesfalls so lautlos wie die Gesellschaft, in der sie sich während ihrer Daofei-Tage bewegt hatte.

Außerdem war sie ein Risiko eingegangen, den Jungen nicht ebenso auszuschalten, wie sie es mit seinen Älteren getan hatte. Aber er hatte sie an Lek erinnert: Wie er versucht hatte, mit seinem dummen Milchgesicht hart auszusehen, während man ihm ansehen konnte, wie sehr er nach der Anerkennung seiner eingeschworenen älteren Brüder lechzte. Sein purer, idiotischer Wagemut. Er war zu jung, um Mitglied einer Bande in den Slums von Ba Sing Se zu sein.

Heute keine Ausnahmen mehr, dachte sie, als sie über den rostenden Müll und die Trümmer hinwegstieg. Sie hatte noch immer die Gewohnheit, alle Gleichaltrigen als Jungen und Mädchen anzusehen. Diese Wortwahl machte sie weich, und das war gefährlich. Ihr würde bestimmt niemand Gnade erweisen, nur weil sie noch keine achtzehn war. Der Avatar konnte sich den Luxus, einfach ein Kind zu sein, nun mal nicht leisten.

Sie bahnte sich ihren Weg durch den Flur, der kaum breiter war als sie. Durch Risse in den Wänden fiel nur wenig Licht. Leuchtkristalle waren teuer und Kerzen ein Brandrisiko, daher war Licht in Loongkau Luxus. Die Rohre, die sich wie ein verschlungenes Netzwerk aus Wurzeln über ihr entlangzogen, waren an vielen Stellen undicht. Tropfen landeten auf ihrem vergoldeten Haarschmuck, den sie trotz der Enge trug. Sie hatte sich daran gewöhnt, die zusätzliche Höhe auszugleichen, und schließlich musste sie sich seit ihrer Kindheit ohnehin ständig bücken.

Der Gestank von Schweiß und trocknender Farbe waberte durch die Korridore, zeugte von den eingepferchten Verhältnissen, in denen die Leute hier hausten. Was ihr wohl erst auf den tieferen Ebenen für Gerüche in die Nase steigen würden? In diesem Block drängten sich mehr Menschen zusammen als in jedem anderen des Unteren Rings und nicht alle Einwohner waren Verbrecher.

Loongkau war ein Auffangbecken für die Ärmsten der Armen. Menschen, die sonst nirgendwo hingehen konnten, hockten hier zusammen und wendeten all ihren Fleiß auf, um sich als Müllsammler, Schwarzhändler (»Das ist vom Wagen gefallen!«), Ärzte ohne Zulassung oder schmierige Futterbudenbetreiber durchzuschlagen. Sie waren gewöhnliche Bürger des Erdkönigreichs, die versuchten, am Rande des Gesetzes über die Runden zu kommen. Im Großen und Ganzen also Kyoshis Leute.

Im Zwielicht dieses Baus fanden auch gewaltsamere Naturen ein Zuhause: Die Banden aus dem Unteren Ring wurden immer größer, je mehr Daofei zuströmten. Banditen, die ihr Territorium auf dem Land nicht mehr behaupten konnten, suchten Schutz in Ba Sing Se und anderen großen Städten. Sie mischten sich unters Volk und verbargen sich unter den einstmaligen Schutzsuchenden, die sie in vergangenen Jahren drangsaliert hatten.

Die gehörten nicht zu Kyoshis Leuten. Tatsächlich waren viele von ihnen vor ihr auf der Flucht. Da jedoch jedes Apartment ebenso gut verängstigte Anwohner beherbergen konnte, die nichts mit den Schurken, die sie jagte, zu tun hatten, hielt sie sich zurück. Wenn sie mit herkömmlichem Erdbändigen große Brocken aus ihrer Umgebung riss, könnte es zu gefährlichen Einstürzen kommen und Unschuldige könnten verletzt werden.

Sie verließ den Flur und gelangte in einen kleinen Marktbereich. Sie kam an einer Kammer voller Fässer vorbei, aus denen helle Farbe auf den Boden tropfte – eine Heimfärberei –, und an einem verlassenen Schlachterstand, in dem Schwärme von Ameisenfliegen surrten. In Jianzhus Arbeitszimmer hatte es Aufzeichnungen über die politische und wirtschaftliche Situation in Ba Sing Se gegeben und Kyoshi hatte auch eine kleine Anmerkung über die äußerst geschäftstüchtigen Bewohner dieses Wohnblocks gefunden. Kurioserweise besaß das Land, auf dem er erbaut war, wegen seiner günstigen Lage im Unteren Ring anscheinend sogar einigen Wert. Händler des Mittleren Rings hatten in der Vergangenheit versucht, den Komplex zu kaufen und die Anwohner zu vertreiben, doch wegen der Bedrohung, die von den Banden ausging, waren solche Projekte immer gescheitert.

Kyoshi hielt an einem Bottich voller verdorbenem Mangotrester an. Das war die Stelle. Sie bändigte sich einen kleinen Kreis aus Steinen und Schutt und stellte sich darauf. Dann verschränkte sie die Arme über der Brust und machte sich so schmal wie möglich.

Sie wollte gerade ihren Plan in die Tat umsetzen, da bemerkte sie ein winziges Objekt in der Ecke. Es war ein Spielzeug, eine Puppe, die aus den Resten des Kleides einer feinen Dame gefertigt war. Jemand hatte großen Aufwand betrieben, um seinem Kind eine Puppe aus Stoff zu nähen, der aus dem Oberen Ring stammte.

Kyoshi starrte sie an, bis sie blinzeln musste, dann rief sie sich in Erinnerung, weswegen sie hier war. Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Ihre kleine Erdplattform, die nur durch ihr Bändigen zusammengehalten wurde, wurde so hart wie die Spitze eines Bohrers. Sie brach durch die Tonplatten und verrotteten Holzstreben und sank so rasch in die Tiefe, dass ihr Magen einen Satz machte. Sie gelangte ins nächste Stockwerk, dann ins nächste darunter, immer weiter hinab.

In Jianzhus taktischen Anleitungen hieß es, bei Kämpfen in beengten Verhältnissen gebe es die meisten Opfer an bestimmten Stellen wie Türen und Treppen. Kyoshi hatte beschlossen, diese Teile des Gebäudes auszulassen und sich ihren eigenen Weg zu bahnen. Sie zählte vierzehn Stockwerke – mehr, als sie geschätzt hatte –, dann krachte sie durch eine letzte Zimmerdecke und kam auf festem Erdboden auf. Der tiefste Punkt von Loongkau.

Kyoshi trat von ihrer Plattform, Staub und Reste vom Mauerwerk rieselte von ihren Armen. Sie blickte sich um. Hier gab es keine Wände, nur Stützpfeiler, die das große Gewicht der Stockwerke darüber hielten. Hier gibt’s ja sogar einen Ballsaal, dachte sie ironisch. Der leere Saal ähnelte den Empfangshallen reicher Adliger wie Lu Beifong. Im Avatarsanwesen in Yokoya gab es einen ähnlichen Raum.

Sie konnte bis zum Ende blicken, da leuchtende Kristalle in die Wände eingelassen waren. Es war, als hätte jemand sämtliches Licht des Gebäudes in diesem Raum gehortet. Es gab einen Schreibtisch, der wie eine hölzerne Insel in der Leere stand. Und hinter dem Schreibtisch saß ein Mann, den Kyoshi kannte und der seine Ambitionen offenbar noch immer nicht aufgegeben hatte.

»Hallo, Onkel Mok«, sagte Kyoshi. »Lange nicht gesehen, was?«

Mok, dem früheren zweiten Mann der Gelbnacken, traten vor Überraschung beinahe die Augen aus dem Kopf. Kyoshi war wie ein Fluch, den er nicht loswurde. »Du!«, fauchte er und sank ein wenig hinter seinem Schreibtisch zusammen, als ob ihn das imposante Möbelstück irgendwie beschützen könnte. »Was willst du hier?!«

»Ich hab Gerüchte gehört, dass sich ein neuer Boss in Loongkau eingenistet hat und die Beschreibung kam mir bekannt vor. Da wollte ich selbst mal nachsehen. Ich hab gehört, diese Gruppe bezeichnet sich jetzt selbst als Dreieck oder so? Hab ich das richtig verstanden? Irgendwas mit drei Seiten.« Kyoshi fand es schwer, den Überblick zu behalten. Die ganzen Daofei, die in die Städte strömten, trugen ihre hochtrabenden Gebräuche in die Welt der städtischen Kleinkriminellen hinein: ihre Geheimniskrämerei, ihre Traditionen.

»Die Triade der Goldenen Schwinge!«, schrie er, wutentbrannt über ihr Desinteresse am Zeremoniell seiner Bande. Aber Kyoshi scherte sich schon lange nicht mehr um die Gefühle von Männern wie Mok. Sollte er sich ruhig ordentlich aufregen.

Das Trommeln der Schritte wurde lauter. Die Männer auf den mittleren Etagen, die Kyoshi auf ihrem Weg nach unten umgegangen hatte, kamen nacheinander in den Raum geströmt und umzingelten sie. Sie reckten ihr Äxte, Hackmesser und Dolche entgegen. Als Moks Männer noch durchs Land gezogen waren, hatten sie ausgefallenere Kampfgeräte vorgezogen, doch hier in der Stadt hatten sie ihre Neun-Ringe-Schwerter und Meteorhämmer gegen schlichtere Waffen eingetauscht, die sich in einer Menschenmenge leichter verstecken ließen.