Kitabı oku: «Zärtlich ist die Nacht», sayfa 3

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V

Die Veranda des Mittelgebäudes erhielt ihr Licht aus den offenen französischen Fenstern, ausgenommen dort, wo die schwarzen Schatten kahler Wände und die phantastischen Schatten von Eisenstühlen unmerklich in ein Gladiolenbeet hinabglitten. Unter den Gestalten, die zwischen den Zimmern hin und her huschten, war Fräulein Warren zunächst nur hin und wieder sichtbar, um dann, als sie Dick bemerkte, völlig in Erscheinung zu treten. Als sie die Schwelle der Glastür überschritt, fing ihr Gesicht den letzten Lichtschein aus dem Zimmer auf und trug ihn mit sich nach draußen. Sie bewegte sich nach einem Rhythmus – diese ganze Woche klang ihr ein Singen im Ohr, Sommergesänge von feurigen Himmeln und wilden Schatten, und seit Dicks Eintreffen war das Singen so laut geworden, daß sie am liebsten eingestimmt hätte.

»Guten Tag, Captain«, sagte sie, ihre Augen mit Mühe von seinen lösend, so als wären sie fest miteinander verhaftet gewesen. »Sollen wir uns hier draußen hinsetzen?« Sie blieb stehen und ließ ihre Blicke eine Weile umherschweifen. »Der reine Sommer.«

Eine Frau war ihr gefolgt, eine untersetzte Frau mit einem Umschlagetuch, und Nicole stellte Dick vor: »Señora –«

Franz entschuldigte sich, und Dick rückte drei Stühle zusammen.

»Was für eine wunderbare Nacht«, sagte die Señora.

»Muy bella«, stimmte Nicole zu, dann zu Dick: »Bleiben Sie lange hier?«

»In Zürich bleibe ich lange, wenn Sie das meinen.«

»Dies ist wirklich die erste richtige Frühlingsnacht«, ließ sich die Señora vernehmen.

»Für immer?«

»Mindestens bis Juli.«

»Ich gehe im Juni von hier fort.«

»Der Juni ist hier ein schöner Monat«, bemerkte die Señora. »Sie sollten den Juni über hierbleiben und erst im Juli fahren, wenn es zu heiß wird.«

»Wohin gehen Sie?« fragte Dick Nicole.

»Irgendwohin, mit meiner Schwester – ich hoffe, irgendwohin, wo etwas los ist, denn ich habe ja so viel Zeit verloren. Aber vielleicht ist man der Meinung, ich sollte zunächst an einen ruhigen Ort – vielleicht Como. Warum kommen Sie nicht auch nach Como?«

»Ach, Como –«, setzte die Señora an.

Im Hause begann ein Trio, »Leichte Kavallerie« von Suppé zu spielen. Das benutzte Nicole, um aufzustehen, und der Eindruck, den ihre Jugend und Schönheit auf Dick machten, wurde immer stärker, bis ihn eine heftige Gefühlswelle durchströmte. Sie lächelte, ein rührend kindliches Lächeln, in dem die ganze verlorene Jugend der Welt lag.

»Die Musik ist zu laut, um sich dabei zu unterhalten. Ob wir nicht etwas herumgehen? Buenas noches, Señora.«

»Gutt Nacht – gutt Nacht.«

Sie gingen zwei Stufen hinab auf den Weg – der im Schatten lag. Sie nahm Dicks Arm.

»Ich habe ein paar Grammophonplatten, die mir meine Schwester aus Amerika geschickt hat«, sagte sie. »Wenn Sie das nächstemal herkommen, werde ich sie Ihnen vorspielen – ich weiß eine Stelle, wo man das Grammophon hinstellen kann, und wo es niemand hört.«

»Fein.«

»Kennen Sie ›Hindostan‹?« fragte sie ernst. »Ich hatte es noch nie gehört, aber es gefällt mir. Dann habe ich noch ›Why do they call them babies?‹ und ›I'm glad I can make you cry‹. Wahrscheinlich haben Sie in Paris nach all diesen Melodien getanzt.«

»Ich war gar nicht in Paris.«

Ihr kremfarbenes Kleid, das beim Gehen manchmal blau und manchmal grau schimmerte, und ihr sehr blondes Haar verwirrten Dick – jedesmal, wenn er sich ihr zuwandte, lächelte sie ein wenig, und ihr Gesicht leuchtete auf wie ein Engelsantlitz, wenn sie in den Bereich einer Bogenlampe kamen. Sie bedankte sich für alles bei ihm, fast, als habe er sie auf eine Gesellschaft mitgenommen, und während Dick allmählich die Übersicht über seine Beziehung zu ihr verlor, wuchs ihre Zuversicht – sie befand sich in einem Zustand der Erregung, der die Erregung der ganzen Welt widerzuspiegeln schien.

»Man läßt mir hier jegliche Freiheit«, sagte sie. »Ich werde Ihnen zwei hübsche Lieder vorspielen: ›Wait till the cows come home‹ und ›Good-bye, Alexander‹.«

Das nächstemal, eine Woche darauf, verspätete er sich, und Nicole erwartete ihn an einer Stelle des Weges, an der er, wenn er von Franzens Hause kam, vorbeikommen mußte. Ihr Haar, über den Ohren zurückgestrichen, fiel so auf ihre Schultern hinab, daß es aussah, als sei ihr Gesicht gerade aus ihm zum Vorschein gekommen, als sei dies genau der Augenblick, in dem sie aus einem Wald in klaren Mondenschein heraustrat. Das Unbekannte hatte sie hervorgebracht: Dick wünschte, sie hätte keine Bindungen, sie wäre weiter nichts als ein verlorenes Kind mit keiner anderen Heimstätte als der Nacht, aus der sie gekommen war. Sie gingen zu dem Versteck, wo sie das Grammophon gelassen hatte, bogen bei der Werkstatt um die Ecke, kletterten auf einen Felsblock und setzten sich hinter eine niedrige Mauer – vor sich endlos wogende Nacht.

Sie waren jetzt in Amerika; selbst Franz, der Dick für einen unwiderstehlichen Schürzenjäger hielt, wäre nie darauf gekommen, daß sie so weit weg waren. Es tat ihnen so leid, Liebling; sie gingen hinunter, um sich in einem Taxi zu treffen, Honey; sie hatten eine Vorliebe für Lächeln und hatten sich in Hindostan kennengelernt, und bald danach mußten sie sich gezankt haben, denn niemand wußte Näheres, und niemand schien sich etwas daraus zu machen – schließlich aber hatte einer von ihnen den anderen weinend zurückgelassen, nur um selbst schwermütig und traurig zu sein.

Die dünnen Klänge, die entschwundene Zeiten und künftige Hoffnungen miteinander verbanden, rankten sich an der wallisischen Nacht empor. Wenn das Grammophon schwieg, ließ sich das eintönige Zirpen einer Grille vernehmen. Nach und nach hörte Nicole auf, den Apparat spielen zu lassen, und sang für Dick.

»Leg einen Silberdollar

auf den Grund,

sieh, wie er rollt,

denn er ist rund –«

Ihren leicht geöffneten Lippen entschwebte kein Atem mehr. Dick stand unvermittelt auf.

»Was ist? Gefällt es Ihnen nicht?«

»Natürlich gefällt es mir.«

»Dieses hab' ich von unserer Köchin zu Hause gelernt:

›Eine Frau hat erst dann

einen wirklich guten Mann,

wenn sie ihn ausschilt dann und wann ... ‹

Gefällt es Ihnen?«

Sie lächelte ihn an und bemühte sich, in ihr Lächeln alles zu legen, was in ihr war, und es auf ihn zu übertragen und brachte sich ihm damit zum Geschenk dar und wollte selbst so wenig dafür, nur einen kleinen Widerhall, nur die Gewißheit, daß auch er innerlich erbebte. Langsam und sacht strömte die Süße der Weidenbäume, die Süße der dunklen Welt in sie ein.

Sie erhob sich ebenfalls, stolperte über das Grammophon und wurde von Dick aufgefangen, wobei sie sich einen Augenblick lang in seine runde Schulterhöhlung schmiegte.

»Ich habe noch eine Platte«, sagte sie. »Haben sie ›So long, Letty‹ gehört? Sicher doch.«

»Nein, wirklich, glauben Sie mir. Ich habe überhaupt nichts gehört.«

Noch gewußt, noch gerochen, noch gespürt, hätte er hinzufügen können; nur Mädchen mit heißen Wangen in heißen, verschwiegenen Zimmern. Die Mädchen, die er 1914 in New Haven gekannt hatte, küßten einen Mann, indem sie »So!« sagten und die Hände gegen seine Brust stemmten, um ihn wegzustoßen. Und hier nun war dieses kaum erst dem Verderben entrissene heimatlose Kind und verkörperte ihm den Inbegriff einer Welt ...

VI

Als er sie das nächstemal sah, war es Mai. Der Lunch in Zürich war eine Vorsichtsmaßnahme; offensichtlich strebte die folgerichtige Entwicklung seines Lebens von dem Mädchen fort; doch als ein Fremder vom Nebentisch sie mit Augen anstarrte, die wie ein unerlaubtes Licht beunruhigend glühten, wandte er sich dem Mann in weltmännisch einschüchternder Weise zu und durchkreuzte seinen Blick.

»Er war nur neugierig«, erklärte er munter. »Er hat sich nur Ihre Kleider angesehen. Warum haben Sie so viele verschiedene Kleider?«

»Meine Schwester sagt, wir wären sehr reich«, versetzte sie bescheiden, »seit Großmutter tot ist.«

»Ich verzeihe Ihnen.«

Er war um so viel älter als Nicole, daß ihm ihre jugendlichen Eitelkeiten und Vergnügungen Spaß machten, die Art zum Beispiel, wie sie beim Verlassen des Lokals ganz beiläufig vor dem Spiegel in der Halle stehenblieb, so daß sie sich in dem unbestechlichen Quecksilber wiederfinden konnte. Er war entzückt, wenn sie mit ihren Händen neue Oktaven zu greifen suchte, jetzt, da sie wußte, daß sie schön und reich war. Er gab sich redliche Mühe, in ihr nicht die fixe Idee aufkommen zu lassen, er habe sie wieder zusammengeflickt, und er war froh zu sehen, wie sie Glück und Zuversicht unabhängig von ihm wiedererlangte. Die Schwierigkeit lag darin, daß Nicole möglicherweise mit allen Dingen zu ihm kommen und sie ihm als köstliche Opfergaben, als Zeichen ihrer Anbetung zu Füßen legen könnte.

In der ersten Sommerwoche hatte sich Dick wieder in Zürich eingerichtet. Er hatte seine Broschüren und was er während seiner Dienstzeit geschrieben hatte, so zusammengestellt, daß es ihm bei seiner Durchsicht von »Eine Psychologie für Psychiater« als Vorlage dienen konnte. Er hatte bereits einen Verleger dafür und stand in Beziehung zu einem armen Studenten, der seine deutschen Sprachfehler ausmerzen wollte. Franz hielt die Sache für übereilt, aber Dick wies auf die entwaffnende Anspruchslosigkeit des Themas hin.

»Das ist ein Stoff, den ich nie wieder so gut beherrschen werde«, beharrte er. »Ich habe so eine Ahnung, als sei dies ein Thema, das nur darum nicht grundlegend ist, weil ihm niemals wesentliche Anerkennung zuteil wurde. Die Schwäche dieses Berufs liegt in seiner Anziehungskraft für den etwas bresthaften und schwächlichen Menschen. Innerhalb der Grenzen des Berufs findet er eine Entschädigung darin, daß er sich dem Klinischen, dem Praktischen zuwendet – er hat seine Schlacht kampflos gewonnen. Du hingegen bist ein tüchtiger Mann, Franz, weil das Schicksal dich, bevor du geboren wurdest, für deinen Beruf bestimmt hat. Du kannst Gott danken, daß du keine ›Anfechtung‹ gehabt hast. Ich bin Psychiater geworden, weil in St. Hilda in Oxford ein Mädchen war, das dieselben Vorlesungen hörte wie ich. Vielleicht klingt es banal, aber ich will nicht, daß mir meine gegenwärtigen Gedanken von ein paar Dutzend Glas Bier weggeschwemmt werden.«

»Schon richtig«, versetzte Franz. »Du bist Amerikaner. Du kannst so etwas ohne berufliche Schädigung tun. Ich mag diese Verallgemeinerungen nicht. Bald wirst du kleine Bücher schreiben, betitelt ›Tiefe Gedanken für den Laien‹, die alles so vereinfachen, daß sie garantiert keinerlei Nachdenken verursachen. Wenn mein Vater noch am Leben wäre, Dick, würde er dich ansehen und brummen. Er würde seine Serviette so zusammenfalten und seinen Serviettenring hochhalten, diesen hier«, – er hielt ihn hoch, ein Wildschweinkopf war in das braune Holz geschnitzt, – »und er würde sagen: ›Also, meiner Ansicht nach‹ – dann würde er dich ansehen und denken: ›Was hat es für einen Zweck?‹, würde abbrechen und wieder brummen, und dann wären wir beim Ende des Essens angelangt.«

»Heute bin ich allein«, sagte Dick gereizt. »Vielleicht bin ich es morgen nicht mehr. Und dann werde ich meine Serviette so zusammenfalten wie dein Vater – und brummen.«

Franz wartete einen Moment.

»Was macht unsere Patientin?« fragte er dann.

»Ich weiß nicht.«

»Na, allmählich solltest du über sie Bescheid wissen.«

»Ich habe sie gern. Sie ist anziehend. Was willst du, daß ich mit ihr anfange – Edelweiß suchen gehen?«

»Nein. Da du dich auf wissenschaftliche Bücher legst, dachte ich, daß dir vielleicht ein Gedanke kommen würde.«

»– ihr mein Leben weihen?«

»Du lieber Gott!« Er rief seiner Frau in der Küche zu: »Bitte, bring Dick noch ein Glas Bier.«

»Ich möchte keins mehr, wenn ich noch zu Dohmler soll.«

»Wir finden, das Beste wäre, wir hätten ein Programm. Vier Wochen sind vergangen – anscheinend ist das Mädchen in dich verliebt. Draußen in der Welt ginge uns das nichts an, aber hier in der Klinik haben wir ein Interesse an der Sache.«

»Ich werde tun, was Doktor Dohmler sagt«, erklärte Dick bereitwillig.

Aber er hatte nicht viel Hoffnung, daß Dohmler Licht in die Angelegenheit bringen würde; er selbst war ja das in ihr enthaltene unberechenbare Element. Ohne bewußte Willensäußerung seinerseits war die Sache auf ihn zugekommen. Es erinnerte ihn an ein Vorkommnis in seiner Kindheit; jeder Mensch im Haus suchte nach dem verlorenen Schlüssel des Silberschrankes, während Dick wußte, daß er ihn unter den Taschentüchern im obersten Schubfach seiner Mutter versteckt hatte. Damals hatte er ein Gefühl philosophischer Ruhe empfunden, und das wiederholte sich jetzt, als er sich mit Franz zu Doktor Dohmlers Büro begab.

Der Professor mit seinem schönen Gesicht unter dem glatten Backenbart, das wie die weinbewachsene Veranda eines schönen alten Hauses wirkte, entwaffnete ihn. Dick kannte begabtere Menschen, aber keine Persönlichkeit, die Dohmler qualitativ überlegen gewesen wäre.

– Ein halbes Jahr später dachte er dasselbe, als er den toten Dohmler sah, das Licht der Veranda gelöscht, das Weingerank seines Backenbartes auf seinen steifen weißen Kragen herabfallend und die vielen Schlachten, die sich vor seinen mandelförmigen Augen abgespielt hatten, hinter den dünnen, zarten Lidern für immer verstummt.

»... Guten Morgen, Herr Professor!« Er nahm Haltung an wie beim Militär.

Professor Dohmler faltete seine ruhigen Hände. Franz sprach in Fachausdrücken, halb wie ein Verbindungsoffizier, halb wie ein Sekretär, bis sein Chef ihm die Rede mitten im Satz durchschnitt.

»Wir haben einen bestimmten Weg eingeschlagen«, sagte er sanft. »Jetzt sind Sie es, Doktor Diver, der uns am besten helfen kann.«

Dick fuhr erschrocken hoch und gestand: »Ich bin meiner Sache nicht so sicher.«

»Mit Ihren persönlichen Eindrücken habe ich nichts zu tun«, sagte Dohmler. »Aber ich habe sehr viel mit der Tatsache zu tun, daß diesem sogenannten ›Übergangsstadium‹« – er warf Franz einen kurzen, ironischen Blick zu, den dieser ebenso zurückgab, »ein Ende gemacht werden muß. Fräulein Nicole geht es tatsächlich gut, aber sie ist nicht in der Lage, etwas zu überstehen, was sie vielleicht als Tragödie empfinden könnte.«

Wieder begann Franz zu sprechen, aber Doktor Dohmler gebot ihm mit einer Bewegung Schweigen.

»Ich sehe ein, daß Sie sich in einer schwierigen Lage befunden haben.«

»Ja, das stimmt.«

Jetzt lehnte sich der Professor zurück und lachte, und mit dem letzten Atemzug seines Gelächters sagte er und blickte scharf aus seinen kleinen grauen Augen: »Vielleicht sind Sie selbst gefühlsmäßig engagiert.«

Dick merkte, daß man ihn aufziehen wollte, und lachte ebenfalls.

»Sie ist ein hübsches Ding – jeder ist bis zu einem gewissen Grade empfänglich dafür. Ich habe nicht die Absicht –«

Wieder versuchte Franz zu sprechen – wieder hinderte ihn Dohmler daran, indem er eine Frage direkt an Dick richtete. »Haben Sie daran gedacht, wegzugehen?«

»Ich kann nicht weg.«

Doktor Dohmler wandte sich an Franz: »Dann können wir Fräulein Warren wegschicken.«

»Wie Sie es für gut halten, Herr Professor«, stimmte Dick bei. »Es ist schon eine seltsame Situation!«

Professor Dohmler erhob sich so, wie ein Mann ohne Beine sich an seinen Krücken aufrichtet.

»Aber es ist eine berufliche Situation!« brüllte er.

Seufzend sank er in seinen Stuhl zurück und wartete, bis der Widerhall des Donners im Zimmer verebbte. Dick merkte, daß Dohmler seinen Höhepunkt erreicht hatte, und war sich nicht klar darüber, ob er mit heiler Haut davongekommen war. Endlich gelang es Franz, zu Worte zu kommen.

»Doktor Diver ist ein Mann von Charakter«, sagte er. »Ich bin überzeugt, er braucht die Situation nur zu erfassen, um richtig mit ihr fertig zu werden. Meiner Meinung nach kann Dick hier mithelfen, ohne daß jemand weggeht.«

»Was meinen Sie dazu?« fragte Professor Dohmler Dick.

Dick fühlte sich angesichts der Situation unsicher; gleichzeitig wurde ihm in der Stille, die Dohmlers Worten folgte, klar, daß dieser Zustand der Schwebe nicht endlos in die Länge gezogen werden konnte; plötzlich warf er alle Hemmungen über Bord.

»Eigentlich bin ich in sie verliebt – der Gedanke, sie zu heiraten, ist mir durch den Kopf gegangen.«

»O weh!« entfuhr es Franz.

»Warten Sie!« sagte Dohmler beschwichtigend, aber Franz wollte nicht warten: »Was! Und den größten Teil deines Lebens Arzt und Krankenschwester sein – niemals! Ich kenne diese Fälle. Von zwanzig Fällen wird einer beim erstenmal geheilt – es ist besser, du siehst sie nie wieder!«

»Wie denken Sie darüber?« fragte Dohmler Dick.

»Natürlich hat Franz recht.«

VII

Es war spät am Nachmittag, als sie ihre Beratung darüber, was Dick tun sollte, beendeten: er sollte sehr freundlich sein und sich dennoch zurückziehen. Als die Ärzte sich endlich erhoben, blickte Dick durchs Fenster und sah, daß es sachte regnete – Nicole wartete irgendwo im Regen auf ihn. Als er gleich darauf seinen Wettermantel am Hals zuknöpfte, seine Hutkrempe herunterbog und hinausging, traf er sie sofort unter dem Dach des Hauptportals.

»Ich weiß eine neue Stelle, wo wir hingehen können«, sagte sie. »Als ich krank war, machte es mir nichts aus, am Abend mit den andern im Haus zu sitzen – was sie sagten, klang mir, als wenn es so sein müßte. Jetzt weiß ich natürlich, daß sie krank sind, und es ist – es ist –«

»Sie gehen bald fort von hier?«

»Ja, bald. Meine Schwester Beth, sie wird immer Baby genannt, kommt in ein paar Wochen und wird mich irgendwohin mitnehmen; danach werde ich noch einmal für einen Monat hierher zurückkommen.«

»Die ältere Schwester?«

»Ach, ziemlich viel älter. Sie ist vierundzwanzig – sie ist sehr englisch. Sie lebt in London bei der Schwester meines Vaters. Sie war mit einem Engländer verlobt, aber er ist gefallen – ich habe ihn nie gesehen.«

Ihr Gesicht hob sich, wie Elfenbein und Gold, gegen den trüben Sonnenuntergang ab, der sich durch den Regen hindurchgekämpft hatte; es barg eine Verheißung in sich, die Dick nie zuvor darin gesehen hatte: die hochliegenden Backenknochen, das etwas blasse Aussehen, eher kühl als aufgeregt, gemahnten an ein vielversprechendes Füllen – ein Geschöpf, dessen Leben nicht nur ein Projektieren der Jugend auf seelenlose Filmleinwand, sondern wirkliches Wachstum bedeutete; das Gesicht würde in mittleren Jahren schön sein, es würde in alten Tagen schön sein.

»Was sehen Sie mich so an?«

»Ich habe gerade gedacht, daß Sie sicherlich einmal recht glücklich sein werden.«

Nicole erschrak. »Meinen Sie? Nun, es könnte ja auch nicht schlimmer werden, als es war.«

In dem gedeckten Holzschuppen, zu dem sie ihn geführt hatte, saß sie mit untergeschlagenen Beinen auf ihren Golfschuhen, den wasserdichten Mantel um sich geschlagen, ihre Wangen von der feuchten Luft belebt. Ernst erwiderte sie seinen Blick, beobachtete seine aufrechte Haltung, die dem Holzpfosten, an dem er lehnte, in nichts nachgab; sie betrachtete sein Gesicht, das, nach gelegentlichen Abstechern in Fröhlichkeit und Spötterei, die ihm eigen waren, immer wieder versuchte, sich in die Form aufmerksamen Ernstes zu zwingen. Den Teil seines Wesens, der am besten zu seinem rotblonden irischen Typ zu passen schien, kannte sie am wenigsten; sie hatte Angst davor, war aber um so begieriger, diese seine männlichere Seite zu erforschen; die andere, das Produkt der Erziehung, die sich in seiner Rücksicht, in der Höflichkeit seiner Augen ausdrückte, nahm sie als selbstverständlich hin, wie die meisten Frauen es taten.

»Jedenfalls ist diese Anstalt gut für Sprachen gewesen«, sagte Nicole. »Mit zwei Ärzten habe ich französisch gesprochen, mit den Schwestern deutsch, italienisch oder sowas Ähnliches mit zwei Scheuerfrauen und einem der Patienten, und von einem anderen habe ich eine ganze Menge Spanisch aufgeschnappt.«

»Das ist schön.«

Er versuchte, Stellung dazu zu nehmen, aber es kam nichts Rechtes dabei heraus.

»– auch Musik. Ich hoffe, Sie glauben nicht, daß ich mich nur für Negermusik interessiere. Ich übe jeden Tag – in den letzten Monaten habe ich in Zürich einen musikgeschichtlichen Kursus besucht. Tatsächlich hat mir das zu Zeiten über vieles hinweggeholfen – Musik und Zeichnen.« Plötzlich beugte sie sich hinunter und riß einen losen Streifen von ihrer Schuhsohle ab, dann blickte sie auf. »Ich würde Sie gern zeichnen, so wie Sie dasitzen.«

Es stimmte ihn traurig, daß sie ihre Fertigkeiten herausstrich, um seinen Beifall zu erringen.

»Ich beneide Sie. Im Augenblick habe ich für nichts anderes Interesse als für meine Arbeit.«

»Oh, ich glaube, für einen Mann ist das schön«, sagte sie schnell. »Aber ein Mädchen, finde ich, sollte über eine Menge kleiner Fertigkeiten verfügen und sie an ihre Kinder weitergeben.«

»Das mag sein«, sagte Dick mit absichtlicher Gleichgültigkeit.

Nicole saß schweigend da. Dick wünschte, sie hätte gesprochen, so daß er die bequeme Rolle des Zuhörers hätte spielen können, aber jetzt schwieg sie.

»Sie sind jetzt wieder gesund«, sagte er. »Versuchen Sie, die Vergangenheit zu vergessen, und schonen Sie sich ungefähr ein Jahr lang. Gehen Sie nach Amerika zurück, lassen Sie sich in der Gesellschaft einführen, verlieben Sie sich – und werden Sie glücklich.«

»Ich kann mich nicht verlieben.« Ihr malträtierter Schuh schabte ein Stück vermoderter Rinde von dem Baumstamm ab, auf dem sie saß.

»Natürlich können Sie«, beharrte Dick. »Vielleicht nicht im nächsten Jahr, aber früher oder später doch.« Dann fügte er brutal hinzu: »Sie können ein absolut normales Leben führen mit einem ganzen Stall voll bildhübscher Nachkommen. Allein schon die Tatsache, daß Sie in Ihrem Alter so völlig wiederhergestellt werden konnten, beweist, daß die verursachenden Faktoren nicht so ungewöhnliche waren. Jung wie Sie sind, werden Sie noch auf dem Posten sein, wenn Ihre Freunde längst zum Teufel sind.«

Ein Ausdruck von Schmerz lag in ihren Augen, als sie die bittere Pille schluckte und ihn verstand.

»Ich weiß, daß ich für lange Zeit nicht dazu taugen werde, mich mit jemand zu verheiraten«, sagte sie demütig.

Dick war zu sehr aus der Fassung gebracht, um noch etwas zu sagen. Er blickte in das Kornfeld hinaus und versuchte, seine unerbittliche Strenge wiederzuerlangen.

»Es wird alles gut gehen – alle hier glauben an Sie. Ja, Doktor Gregory ist so stolz auf Sie, daß er wahrscheinlich –«

»Ich hasse Doktor Gregory.«

»Das sollten Sie nicht tun.«

Nicoles Welt war in Scherben gegangen, aber es war nur eine dünne, kaum erst erschaffene Welt; unter ihrer Oberfläche lagen ihre Gefühle und Instinkte miteinander im Streit. War es erst eine Stunde her, daß sie am Portal auf ihn gewartet hatte, ihre Hoffnung wie ein Mieder um ihren Körper tragend?

... Kleid, bleibe gefältelt für ihn, Knopf, platz nicht ab, blühe Narzisse – Luft, bleibe still und süß.

»Es wird schön sein, wieder Freude am Leben zu haben«, tastete sie sich weiter vor. Einen Moment kam ihr der verzweifelte Gedanke, ihm zu erzählen, wie reich sie sei, was für große Häuser sie bewohne und daß sie in Wahrheit ein kostbares Besitztum darstelle – einen Augenblick lang wurde ihr Großvater in ihr lebendig, Sid Warren, der Pferdehändler. Aber sie überwand die Versuchung, alle Werte umzuwerten, und verschloß diese Dinge in ihrer viktorianischen Rumpelkammer – obwohl ihr selbst keine Heimstatt geblieben war außer Leere und Schmerz.

»Ich muß zur Klinik zurück. Es regnet nicht mehr.«

Dick ging neben ihr her, fühlte ihre Verzweiflung und hätte ihr am liebsten den Regen von den Wangen geküßt.

»Ich habe ein paar neue Platten«, sagte sie. »Ich kann es kaum erwarten, sie zu spielen. Kennen Sie –«

An jenem Abend, nach dem Essen, beabsichtigte Dick, den Bruch zu vollenden; auch wollte er Franz die Sitzfläche versohlen, weil er es zum Teil gewesen war, der ihm diese widrige Sache eingebrockt hatte. Er wartete in der Halle. Seine Blicke verfolgten eine Baskenmütze, nicht naß vom Warten im Regen wie Nicoles, sondern einen Schädel bedeckend, der unlängst operiert worden war. Darunter blickten menschliche Augen umher, fanden ihn und näherten sich.

»Bonjour, Docteur.«

»Bonjour, Monsieur.«

»II fait beau temps.«

»Oui, merveilleux.«

»Vous êtes ici maintenant?«

»Non, pour la journée seulement.«

»Ah, bon. Alors – au revoir, Monsieur.«

Froh, wieder eine Begegnung überstanden zu haben, entfernte sich der Unglückselige mit der Baskenmütze. Dick wartete. Nach kurzer Zeit kam eine Krankenschwester herunter und richtete ihm eine Botschaft aus.

»Fräulein Warren läßt sich entschuldigen, Herr Doktor. Sie will sich hinlegen und möchte heute abend oben speisen.«

Die Schwester spannte auf seine Antwort, halb und halb erwartend, er werde durchblicken lassen, daß Fräulein Warrens Verhalten pathologisch sei.

»Oh, ich verstehe. Nun –« Er schluckte ein paarmal und versuchte, seinen Herzschlag zu bändigen. »Ich wünsche gute Besserung. Danke.«

Er war ratlos und unzufrieden. Aber jedenfalls entlastete es ihn.

Er ließ ein paar Zeilen für Franz zurück als Entschuldigung, daß er nicht zum Abendessen blieb, und ging zu Fuß durch die Gegend zur Straßenbahn-Haltestelle. Als er sie erreichte, vergoldete die Frühjahrsdämmerung die Schienen und die Glasscheiben der Automaten, und es kam ihm zum Bewußtsein, daß sich Haltestelle und Hospital in der Schwebe zwischen Zentripetal- und Zentrifugalkraft befanden. Er erschrak. Er war froh, als seine Absätze wieder auf dem soliden Züricher Kopfsteinpflaster klapperten.

Er erwartete, am nächsten Tag etwas über Nicole zu hören, aber es kam nichts. Um zu erfahren, ob sie krank sei, rief er die Klinik an und sprach mit Franz.

»Sie kam gestern und heute zum Lunch herunter«, sagte Franz. »Sie schien etwas abwesend und in den Wolken. Wie verlief es?«

Dick versuchte, den alpinen Abgrund zwischen den Geschlechtern zu überbrücken.

»Wir kamen gar nicht so weit – jedenfalls hatte ich den Eindruck. Ich versuchte, mich zurückzuziehen, aber ich glaube nicht, daß genug geschehen ist, um ihre Einstellung zu ändern, wenn es überhaupt tief ging.«

Vielleicht sprach aus ihm gekränkte Eitelkeit, weil es kein Todesstoß gewesen war.

»Aus einigem, was sie zu der Schwester sagte, möchte ich entnehmen, daß sie begriffen hat.«

»Sehr schön.«

»Es war das beste, was passieren konnte. Sie scheint nicht hypererregt – nur etwas in den Wolken.«

»Na also!«

»Komm mich bald besuchen, Dick.«

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