Kitabı oku: «Lågomby», sayfa 2

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Montag

Am Abend nach ihrer Stadterkundung hatte Marie sich erschöpft schon früh schlafen gelegt. Sie war davon ausgegangen, wie üblich am nächsten Morgen mit dem ersten Tageslicht aufzuwachen. Dabei hatte sie nicht bedacht, dass dieses Tageslicht hier Anfang Juni beinahe die ganze Nacht hindurch schien. Müde hatte sie stundenlang in die schummrige Luft ihres Zimmer gestarrt, immer noch verwundert über die Diskrepanz zwischen der nächtlichen Uhrzeit und dem Zwielicht, das an den Seiten der Vorhänge vorbei ins Zimmer fiel. Erst am frühen Morgen war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen, aus dem ihr Wecker sie wenig später jäh herausriss. Gerädert wühlte sie sich aus dem Bett.

Die Kombination einer Dusche und einer ersten Tasse Kaffee auf der kleinen Veranda vor ihrem Haus ließ sie die anstrengende Nacht beinahe vergessen. Normalerweise war sie ganz gut darin, sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Wie sonst hätte sie die letzten Jahre unter ihrem Arschloch von Chef überstanden. Und hier oben gab es wahrlich einige gute Aspekte, auf die man sich konzentrieren konnte. Wenn man die Natur liebte. Und außergewöhnliche Lichtverhältnisse. Und Einsamkeit. Und das Fehlen jeglicher Urbanität.

Marie zwang sich, diesen Gedankengang nicht weiterzuverfolgen. Sie ahnte, dass er unweigerlich dazu führen würde, dass sie am Ende den Blick auf ihren Waschsalon vermissen würde.

Beim Zusammensuchen ihrer Unterlagen merkte sie langsam Nervosität in sich aufsteigen. Nicht nur wegen des neuen Jobs, damit hatte sie gerechnet. Aber auch die Aussicht, Lennart Sandberg zu treffen, verursachte ein neugieriges Ziehen in ihrem Bauch, das sie nicht erwartet hatte. In den vorausgegangenen Wochen hatte sie mit Lennart einen schon geradezu vertrauten Mailkontakt gepflegt, und er war es auch gewesen, der ihr mit seiner charmanten Art die letzten Zweifel in Bezug auf diese etwas ungewöhnliche Stelle genommen hatte. Sie warf einen letzten kurzen Kontrollblick in den Spiegel, bevor sie das Haus verließ und die wenigen Minuten bis in den Ortskern fuhr.

Einen großen Unterschied zu gestern konnte sie nicht ausmachen, als sie kurz darauf vor dem Rathaus parkte. Obwohl es Montagmorgen war, waren kaum Menschen zu sehen. Entschieden ging sie auf die kleine Touristeninformation zu.

Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, wurde diese schwungvoll aufgerissen. Ein Mann mit sorgfältig gestyltem mittellangem blondem Haar, einem dichten, aber nicht minder gepflegten, Bart und einem herzlichen Lächeln stand vor ihr. Marie musste sich ein Grinsen verkneifen. Schwedischer konnte man wohl kaum aussehen.

Sie streckte ihre Hand aus. „Guten Morgen. Ich bin Marie Falk.“

Innerlich atmete sie kurz auf. Zumindest ihren ersten schwedischen Satz hatte sie halbwegs flüssig über die Lippen bekommen.

Lennart lächelte sie herzlich an und nahm ihre Hand.

„Schön, dass du da bist. Komm rein.“

Damit zog er sie auch schon in das kleine Büro hinein.

„Hast du dich schon etwas von der langen Reise erholt?“

Marie zögerte kurz. Sollte sie Lennart von dem nächtlichen Zwischenfall erzählen? Aber was für einen Eindruck würde ihm das von seiner neuen Chefin vermitteln? Und eigentlich kannte sie ihn ja kaum.

„Das Licht hier oben ist bestimmt ziemlich ungewohnt für dich, oder?“, unterbrach Lennart ihren Gedankengang.

Marie nickte, dankbar für diesen Ausweg.

„Vielen Dank für den schönen Begrüßungskorb!“

Bis hierhin hatte sie sich die Sätze in ihrem noch etwas unerprobten Schwedisch zurechtgelegt. Ab jetzt war alles Neuland für sie.

„Du wurdest hier schon neugierig erwartet. Liegt vielleicht auch daran, dass du seit 1985 die Erste bist, die freiwillig hierher statt weg zieht.“

Lennart zwinkerte und Marie registrierte, wie gut es ihr tat, sein Lachen zu sehen. Kein Wunder, schließlich war die Begegnung mit Lennart ihr erster zwischenmenschlicher Kontakt seit Tagen.

Sie standen in einem kleinen Raum mit zwei Schreibtischen, an denen man besucherfreundlich von beiden Seiten Platz nehmen konnte. An einer Seite stand ein Regal mit Landkarten und Prospekten, daneben eine mobile Schreibtafel und am hinteren Ende auf einem Sideboard war eine Kaffeebar aufgebaut, die mit ihren verschiedenen Keramikfiltern und bauchigen Glasbehältern an ein kleines Chemielabor erinnerte. Lennart deutete mit einer einladenden Bewegung auf den hinteren der beiden Schreibtische.

„Bitte – dein Platz.“

Marie sah sich um. Das war also tatsächlich alles. Sie ging um den ihr zugewiesenen Schreibtisch herum, nahm auf dem komfortabel aussehenden Bürostuhl Platz und starrte auf den schwarzen Bildschirm des Computers. Lennart reichte ihr eine Mappe mit Fakten und Hintergrundinformationen, die Marie den Einstieg erleichtern sollten. Dann begann er an der Kaffeebar zu hantieren.

„Ich freu mich, dass ich jetzt nicht mehr alleine hier sitzen muss.“

Marie lächelte schwach. Durch das große Fenster sah sie ein altes Paar mit Einkaufstüten, das die andere Straßenseite entlangschlurfte. Sonst war alles leer. Maries Blick wanderte an die gegenüberliegende Wand, an der auf einem altmodischen und bereits angegilbten Plakat der Bergbau als Prestigeprojekt dieser Region angepriesen wurde. Daneben ein gerahmtes Foto des ältesten Elchbullen in Nordschweden – zumindest wenn Marie die Bildunterschrift richtig verstand.

Mit einem Mal fühlte sie sich, als würde der Boden unter ihr wegsacken. In ihrem Kopf formulierten sich alle möglichen Fragen gleichzeitig – was sie hier eigentlich machte – warum sie sich nicht besser vorbereitet hatte – und vor allem, wie um Himmels willen sie aus dieser Nummer wieder rauskommen sollte. Doch gerade als Marie sich selbst eingestehen wollte, dass sie kurz davor war, eine ernsthafte Panikattacke zu bekommen, wurde eine elegante Tasse in modernem Design vor sie auf den Tisch gestellt.

„Erstmal ’n Kaffee, Chefin. Einen besseren wirst du hier in der Gegend nicht so schnell finden. Die Bohnen sind von einer kleinen Rösterei in Umeå. Und die Semlor hab ich selbst gebacken. Das Rezept ist von meiner Oma.“

Lennart zeigte auf einen Teller voll mit Windbeuteln, ließ sich Marie gegenüber auf den Besucherstuhl fallen und strahlte sie an. Marie starrte auf das Gebäck. Dann musste sie unwillkürlich lächeln. Und schon der erste Schluck von Lennarts handgefiltertem Kaffee gab ihr das Gefühl, wieder Boden unter den Füßen zu spüren.

Im Laufe des Tages versuchte Marie, sich nicht vom Blick aufs große Ganze ablenken zu lassen. Sie konzentrierte sich auf die Details der einzelnen Arbeitsabläufe, die Lennart ihr mit seiner ruhigen und positiven Art erläuterte, als hätte er noch nie einen Gedanken daran verschwendet, ob es für ihn eine Karriere außerhalb dieses kleinen Ladenbüros mitten in der schwedischen Provinz geben könnte. Mehr als einmal lag ihr die Frage auf der Zunge, warum er nicht selbst die Leitung des Büros übernommen hatte, schließlich schien er sich perfekt mit der Gegend und den internen Abläufen auszukennen. Er kam ihr zuvor, als er erwähnte, dass Bürgermeister Lasse Ohlsson die Position als Schlüsselstelle für den angestrebten Aufschwung Lågombys einstufte und daher auf einen Expertenblick von außen bestanden hatte.

Falls diese Entscheidung Lennart gekränkt haben sollte, ließ er es sich nicht anmerken. Im Gegenteil: Er bemühte sich in seinen Auslegungen, Marie nicht nur die Strukturen der Gegend, sondern – nicht ohne selbst-ironisches Augenzwinkern – auch die Liebe zu seinem Heimatort zu vermitteln. Tatsächlich merkte Marie prompt, wie ihre Moral dadurch angehoben wurde. Man hatte ihr mit ihrer Anstellung eine Menge Vertrauen entgegengebracht und sie nahm sich fest vor, sich nicht von eigenen Karrierevorstellungen ablenken zu lassen. Sie spürte instinktiv, dass sie sich ganz an Lennart halten sollte, wenn sie es auch nur halbwegs ernst mit ihrem Neuanfang meinte.


Eigentlich hatte Marie sich auf einen ruhigen und kurzen Abend zuhause gefreut. Sie war müde und hatte gehofft, dass die Aufregung des ersten Arbeitstages ihr über die Verwirrungen des nächtlichen Zwielichts hinweghelfen würden. Doch Lennart überredete sie, ihren Einstand gemeinsam in Mickes Bar zu feiern. Ihr war klar, dass dieses Arbeitsverhältnis nicht nur eine wichtige, sondern aktuell auch die einzige Säule ihres neuen Lebens darstellte. Da wollte sie nicht gleich am ersten Abend ablehnen.

Also betrat sie, nach einem kurzen Abstecher in den örtlichen Supermarkt, bei dem sie sich neben zwei Flaschen Wein vor allem mit frischem Obst und Gemüse eindeckte, hinter Lennart die Bar.

Schon auf den ersten Blick stellte sie überrascht fest, dass der Raum viel gemütlicher war, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Möbel, Fußboden und selbst die Wände waren aus massivem dunklem Holz gefertigt. Trotzdem wirkte es nicht schwerfällig oder düster, was vermutlich an den zahlreichen kleinen Lampen lag, die ringsherum an den Wänden angebracht waren und alles in ein weiches, angenehmes Licht tauchten. Gleich links neben dem Eingangsbereich, der durch eine Zwischentür vom Hauptraum getrennt war, befand sich ein großer runder Tisch. Auf der rechten Seite an der Wand standen mehrere separate Sitzbereiche, wie man sie aus amerikanischen Diners kennt, die Sitzbänke grün bezogen. Zwischen dem Eingang und der großen Bar, welche beinahe die komplette gegenüberliegende Seite einnahm, befanden sich zwei enorme Tragebalken, die aussahen, als wüchsen zwei stattliche Tannen in die Decke. Um die Balken herum waren Tischgruppen platziert, auf denen Teelichter in schlichten Gläsern brannten. Am linken Ende der Bar dampfte es aus einer Durchreiche, die wohl in die Küche führte. Im ganzen Raum gab es nur zwei Fenster, durch deren grüne Verglasung kaum Tageslicht nach innen drang.

Das wirklich Überraschende für Marie war aber nicht, dass Mickes Bar nicht die heruntergekommene Spelunke war, die sie sich vorgestellt hatte, sondern dass die Kneipe fast bis auf den letzten Platz gefüllt und die allgemeine Stimmung der Gäste heiter, fast schon ausgelassen war. Auf einen Blick sah Marie mehr Menschen, als sie gestern bei ihrem Spaziergang durch den Ort getroffen hatte.

„Hierhin habt ihr euch also alle verkrochen“, murmelte sie leise vor sich hin.

Aus den Boxen klang eine Musik, die sie spontan als schwedischen Country definieren würde, und direkt an der Bar tanzte sogar ein älteres Paar dazu. Wobei tanzen vielleicht etwas zu viel gesagt wäre. Die beiden lehnten eng aneinander und wippten zum Rhythmus der Musik hin und her.

Was Marie wiederum nicht überraschte, war der Altersdurchschnitt der Gäste, den sie mit ihren 34 Jahren sicherlich um einiges unterschritt.

Dafür überkam sie umso mehr Erstaunen, als sich nach den ersten Schritten Richtung Raummitte ihre Perspektive plötzlich radikal änderte und der dunkle Fußboden mit rasender Geschwindigkeit auf sie zuzukommen schien. Sie war so vertieft in die Betrachtung der Bar gewesen, dass sie die zwei Stufen übersehen hatte, die vom Eingangsbereich in den Hauptraum hinunterführten. Ihr von den vielen Eindrücken der letzten Tage offenbar überlastetes Gehirn war nicht in der Lage, rechtzeitig einen rettenden Reflex an den Rest des Körpers auszusenden und so war Marie ungebremst dem Boden entgegengesegelt.

„Hoppla!“ Lennart hatte sich zu ihr umgedreht.

Marie glaubte, einen Anflug von Belustigung in seinem Gesicht zu erkennen. Ihr Knie schmerzte, doch sie beeilte sich aufzustehen, noch bevor Lennart ihr zu Hilfe kommen konnte.

‚Was für ein Auftritt.‘ Sie warf einen verstohlenen Blick in den Raum, wo sich in diesem Moment niemand rührte und alle Augen auf sie gerichtet waren. Dann setzte sie ein Lächeln auf.

„Hallo! Ich bin Marie, die Neue.“

Hier und da konnte Marie den Ansatz eines Nickens erkennen. Ansonsten verzog niemand der Anwesenden die Miene. Erleichtert stellte sie fest, dass die meisten Gäste sich schnell wieder ihren eigenen Gesprächen und Gläsern zuwandten.

Lennart grinste und führte Marie zu einem der Tische am Rand.

„Keine Sorge – das passiert mindestens einmal im Monat. Meistens zwar erst, nachdem Solveig ihren Selbstgebrannten hervorgeholt hat, aber so hast du es wenigstens schon hinter dir.“ Er lachte.

„Dann hab ich ja alles richtig gemacht.“ Marie verzog das Gesicht und schob sich auf die Sitzbank. „Wer ist Solveig?“

Wie aufs Stichwort trat eine ältere Frau an den Tisch und nickte Marie mürrisch zu.

„Solveig, das ist Marie. Sie übernimmt die Leitung der Tourismusabteilung“, erklärte Lennart. „Marie, Solveig ist Micke.“

Solveig runzelte die Stirn missbilligend. Aber Lennart lachte erneut und legte ihr freundschaftlich eine Hand auf den Arm.

„Nicht im wörtlichen Sinne natürlich. Sie und ihr Ex-Mann Micke haben das Lokal vor 40 Jahren aufgebaut. Aber der Nichtsnutz ist schon ein Jahr später abgehauen. Ist auch besser so – nicht wahr, Solveig?“

Die Miene der alten Dame hellte sich merklich auf. Ganz offensichtlich hatte Lennart damit ein Lieblingsthema von ihr angesprochen.

„Verdammt richtig, Lennart! Hätte er noch ein Jahr gewartet, hätte er die Bar höchstpersönlich in den Konkurs gesoffen. Nur schade, dass er sich aus dem Staub gemacht hat, ehe ich ihn rausschmeißen konnte.“ Sie zwinkerte Marie zu. „Was kann ich dir bringen, Kleines?“

„Ich …“ Marie stockte. „Was trinkt man denn hier?“

„Alfredssons“, antworteten Solveig und Lennart wie aus einem Mund.

„Unsere Brauerei ist der Stolz der Region“, erklärte Lennart.

Er lächelte auf eine Weise, die Marie als so etwas wie liebevollen Spott deutete und die sowohl seine Verwurzelung im Ort als auch eine Reflektion dessen durchscheinen ließ.

Nicht zum ersten Mal seit ihrer Ankunft musste Marie sich eingestehen, dass sie diese Reise unter normalen Umständen – ohne Trennung, ohne Sinnkrise und mit einer gründlicheren Vorbereitung – vermutlich nie angetreten hätte. Und trotzdem – ob es nun Abenteuerlust, Gleichgültigkeit oder Lennarts durchaus angenehme Anwesenheit war – sie konnte in diesem Moment keine Spur von Reue in sich finden.

Lennart hatte sich inzwischen wieder Solveig zugewandt. „Also zwei Alfredssons und zweimal …“

„… den Kartoffelauflauf mit Lachs. Schon notiert, mein Junge.“ Damit verzog Solveig sich Richtung Küche.

Marie betrachtete Lennart unauffällig. Normalerweise konnte sie es nicht ausstehen, wenn jemand einfach für sie mitbestellte. Doch seine ungezwungene Art gefiel ihr. Und an diesem Abend war sie froh, keine komplizierte kulinarische Entscheidung treffen zu müssen.

„Solveig ist so etwas wie der soziale Mittelpunkt Lågombys. Es sich mit ihr zu verscherzen, wäre also unklug.“

„Kann ich mir gut vorstellen.“

In diesem Moment klingelte Maries Handy. Sie beeilte sich, es aus ihrer Tasche zu nehmen, um nicht noch mehr aufzufallen. Von ihrem Display aus strahlte ihr ein Bild des Anrufers entgegen – Alex. Ein Foto aus einer Zeit, als sie selbst noch an diese Beziehung geglaubt hatte. Oder hatte sie das insgeheim nie wirklich getan? Hatte es sie vielleicht gerade deshalb so zu Alex hingezogen, weil sie wusste, dass mit ihm keine Zukunft möglich war? Dieser Frage wich Marie aus, seitdem sie in Rostock auf die Fähre gefahren war. Überrascht stellte sie nun fest, dass der Anblick seines Fotos kaum Schmerz in ihr hervorrief. Eher wirkte es unpassend, in dieser fremden Umgebung an ihn erinnert zu werden. Anscheinend hatte sie sich innerlich schon mehr von ihm verabschiedet, als ihr selbst bewusst gewesen war.

Sie drückte den Anruf weg, schaltete ihr Handy aus und lehnte sich über den Tisch zu Lennart hinüber.

„Also – nachdem ich mich schon selbst so charmant vorgestellt habe, erzähl mir doch bitte mal, mit wem ich es hier zu tun habe.“

Solveig stellte zwei randvoll gefüllte, nahezu schaumlose Gläser Bier vor ihnen ab und verschwand gleich wieder.

Lennart nickte und hob sein Glas. „Skål!“

Sie lächelte. „Skål!“

„Die meisten hier sind Bauern, Rentner und ehemalige Bergarbeiter. Dass wir hier ein kleines Altersproblem haben, ist dir ja wahrscheinlich schon aufgefallen. Für junge Leute gibt es hier nicht viel.“ Lennart strahlte sie an. „Aber das wollen wir ja ändern.“

„Moment – wir wollen den Tourismus ankurbeln.“

Lennart winkte ab. „Mehr Tourismus, mehr Arbeitsplätze, mehr Lebensqualität – ist doch alles das Gleiche.“

Marie wollte gerade ansetzen, um ihm zu widersprechen, doch Lennart nickte schon in Richtung des großen Tisches direkt neben dem Eingang. Dort saß eine Gruppe älterer Männer, für die Lennart das deutsche Wort „Stammtisch“ verwendete. Es waren Mitarbeiter von Alfredssons. Mit einem Anflug von Stolz erzählte Lennart, dass zu den besten Zeiten des Unternehmens halb Schweden Lager aus Lågomby getrunken hatte. Der Gründer, Pärre Alfredsson, hatte die Brauerei während des zweiten Weltkriegs aufgebaut. Bei den Minenarbeitern, die hier oben im Norden vor allem Eisenerz, aber auch Gold, Silber, Kohle und einige andere wertvolle Schätze aus dem Boden geholt hatten, war er auf eine durstige Kundschaft gestoßen. Mit dem Ende des Krieges nahm der Bergbau sogar noch zu und die neu angeheuerten Kumpels aus dem Süden begannen, Alfredssons auch in ihren Heimatregionen zu verbreiten. Fast 30 Jahre ging es stetig bergauf mit der Brauerei und dementsprechend auch mit Lågomby. Erst mit der großen Eisen- und Stahlkrise in den 1970ern begann auch der Bierdurst nachzulassen.

Marie folgte Lennarts Ausführungen leicht amüsiert. Es war unverkennbar, dass sich zu seinem beruflichen Interesse an der wirtschaftlichen Situation der Region auch eine gehörige Portion Lokalpatriotismus mischte.

„Wer ist denn der eine da?“ Sie nickte neugierig in Richtung eines Mannes, der sich in seiner äußeren Erscheinung von den anderen Gästen am Stammtisch abhob. Er war ungefähr so alt wie Marie, trug ein gut geschnittenes, blaues Hemd mit einer grauen Anzugsweste darüber und eine moderne Brille mit unauffälligem schwarzem Gestell. Sein hellbraunes Haar war kurz geschnitten und adrett frisiert.

„Ah, ein Blick fürs Wesentliche!“ Lennart lachte. „Das ist Jonas Alfredsson, Pärres Enkel. Sein Vater Stig leitet die Brauerei, noch.“

„Wieso noch?“

„Naja, Stig geht glaub ich auch schon auf die 70 zu.“

„Verstehe. Dann ist Jonas hier sowas wie der Kronprinz?“

Lennart nickte. „Eigentlich schon. Aber er macht kein Geheimnis daraus, dass er die Brauerei ganz neu ausrichten möchte. Und auf dem Ohr ist Stig taub. Auch wenn die Zahlen gegen ihn sprechen.“

Er unterbrach sich, als die Tür geöffnet wurde und ein Bär hereinpolterte – das hätte Marie zumindest geschworen, wenn man sie in dieser Sekunde gefragt hätte. Der Mann maß an die zwei Meter und schien auch von der Breite nur mit Mühe durch den Türrahmen zu passen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, dass er schon weit jenseits der 80 sein musste.

Er grummelte etwas in die Runde und ging mit gesenkter Stirn auf den Stammtisch zu, wo er in stummer Einvernehmlichkeit begrüßt wurde.

„Das ist Ove“, erklärte Lennart. „Er ist so was wie ne Institution hier. Ove ist als kleiner Junge zu den Alfredssons gekommen. Seine Eltern sind früh gestorben. Pärre und er waren unzertrennlich, wie Brüder. Er hat die Brauerei quasi mit aufgebaut.“

„Und jetzt? Der muss doch schon lange in Rente sein.“

Lennart hob die Augenbrauen und zog die Luft ein. Marie registrierte darin die typisch nordschwedische Eigenschaft einer wortlosen Bestätigung – ähnlich, nur viel beiläufiger, wie ihre Schwedisch-Lehrerin zuhause es ihr vorgemacht hatte.

„Ove in Rente? Vorher geh ich in Ruhestand! Offiziell ist er immer noch Braumeister. Aber ich glaube, er ist eher so was wie der Berater der Familie.“ Er beugte sich vor und senkte die Stimme etwas. „Er hat immer mal wieder Probleme mit Alkohol gehabt. Jetzt ist er aber schon lange trocken.“

„Bist du sicher?“ Maries Blick war wieder zu dem alten Mann gewandert, der gerade das Bier seines Nachbarn mit einem einzigen Schluck leerte.

„Naja …“ Lennart runzelte die Stirn, sichtlich irritiert.

„Vielleicht will er die neue Charge testen?“

Marie nickte nur, konnte aber an den Reaktionen der anderen Gäste erkennen, dass sie ebenso überrascht waren wie Lennart. Solveig bedachte Ove mit einem strengen Blick und knallte ungefragt ein großes Glas Wasser vor ihn auf den Tisch. Ove ignorierte sie, nahm das Wasser aber und trank.

Wenig später brachte Solveig zwei dampfende Teller zu Marie und Lennart. Marie merkte erst jetzt, wie hungrig sie war. Seit einem – erstaunlich leckeren – Tankstellen-Hotdog vor zwei Tagen hatte sie nichts Warmes mehr gegessen. Umso mehr genoss sie Solveigs Auflauf.

Ihr entging nicht, dass Lennart immer wieder einen prüfenden Blick in Richtung Stammtisch warf. Als Marie gerade die letzten Reste von ihrem Teller kratzte, stand Ove auf, hob die Hand zu einem knappen Abschiedsgruß in die Runde und ging zur Tür. Marie beobachtete, wie Jonas Alfredsson zügig sein Glas leerte, einen Geldschein auf den Tisch legte und Ove hinterhereilte.

Sie merkte auch, dass Lennart das Geschehen am Stammtisch beschäftigte. Er sah Ove nachdenklich hinterher und wirkte sichtlich erleichtert, als Jonas ihm folgte. Er seufzte, fing sich dann aber schnell wieder und lächelte Marie zu.

„Noch ein Bier?“

„Unbedingt.“ Marie legte zufrieden ihre Gabel beiseite, schnappte sich die leeren Gläser und ging damit zu Solveig an die Theke.

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