Kitabı oku: «Lågomby», sayfa 3

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Dienstag

Über Nacht hatte sich eine dichte Bewölkung ausgebreitet, die nebelartig bis knapp unter die Baumspitzen vor Maries Fenster heranreichte und eine fast schon heimatlich-vertraute Dunkelheit erzeugte. Ein leichter Brechreiz und pochende Kopfschmerzen hatten sie früh am Morgen aus einem unruhigen Schlaf geholt. Schweden und Trinkfestigkeit – diese Gleichung hatte Marie nicht überrascht. Aber wie sehr der adrett wirkende Lennart diesem Klischee entsprach, hatte sie dann doch nicht erwartet.

Wohlwissend, dass Liegenbleiben ihren Zustand nicht verbessern würde, stand Marie schwerfällig auf und schlurfte hinunter in die Küche. Wenig enthusiastisch knabberte sie an einem unbelegten Stück Knäckebrot, um ihren Magen auf die zwei Aspirin vorzubereiten, die direkt im Anschluss folgten. Schließlich brachte sie die Energie auf, Kaffee zu machen – und als sie den Duft über der dampfenden Tasse einatmete, ging es ihr augenblicklich ein wenig besser.

Durchs Küchenfenster sah sie, dass es inzwischen zu nieseln begonnen hatte. Es wirkte nicht so, als wolle es damit jemals wieder aufhören. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie noch über zwei Stunden Zeit hatte, bis ihr zweiter Arbeitstag begann. Sich nochmal schlafen zu legen lohnte sich da nicht wirklich, zumal Marie aus Erfahrung wusste, dass bei ihr nichts besser gegen Kater half als Bewegung.

Sie ging nach oben ins Schlafzimmer und wühlte in den Reisetaschen, die sie noch immer nicht ausgepackt hatte. Achtlos warf sie ein paar Sachen aufs Bett, bis sie fand, was sie suchte. Sie schlüpfte in ihre Trainingsklamotten.

Von Lennart wusste sie, dass hinter dem Haus ein Waldpfad begann, der direkt zum See führte. Auf der Veranda zog sie ihre Laufschuhe an und blickte in den Himmel. Das deprimierend trübe Wetter ließ den Tag sogar dunkler erscheinen als die klaren Nächte, die Marie hier zu Beginn erlebt hatte. Sie schloss die Tür, drehte den Schlüssel um, verbarg ihn unter dem großen Stein und bog um die Hausecke.

Ohne Lennarts Hinweis wäre ihr der Pfad vermutlich gar nicht aufgefallen. Vor ihr lag ein dichter Wald aus Kiefern und vereinzelten Fichten, zwischen den Stämmen hatte sich einiges an Unterholz angesammelt und der Boden war mit einem Gestrüpp aus Büschen bedeckt. Nur an einer Stelle fielen die Büsche unnatürlich gerade nach unten ab und eröffneten den schmalen Zugang zu einer Art Trampelpfad. Marie schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und wollte gerade loslaufen, als sie erstarrte. Zwei Meter vor ihr, wo der Boden schon von den Bäumen geschützt war, zeichnete sich im Untergrund eindeutig ein Schuhabdruck ab.

Unwillkürlich wirbelte Marie einmal um die eigene Achse. Niemand zu sehen. Sie ging langsam auf den Abdruck zu und setzte ihren eigenen Fuß daneben. Sie selbst trug Schuhgröße 37 – wer immer hier zuletzt gelaufen war, gut zwei bis drei Nummern größer.

In diesem Moment fiel Marie der Zwischenfall in ihrer ersten Nacht wieder ein. Konnte der Schuhabdruck von der fremden Frau stammen? Sie hatte relativ groß gewirkt. Als Marie ihr nach einigen Sekunden des Zögerns auf die Veranda gefolgt war, war sie bereits nicht mehr zu sehen gewesen. Automatisch war Marie davon ausgegangen, dass sie die Einfahrt entlang zurück zur Straße gelaufen war. Konnte sie stattdessen hier in den Wald geflüchtet sein?

Der nächtliche Schreck, den das unerwartete Zusammentreffen Marie bereitet hatte, war inzwischen verblasst. Die Frau hatte zu harmlos ausgesehen und bei Maries Anblick selbst zu schockiert gewirkt, um eine wirkliche Gefahr für sie darzustellen. Außerdem wirkte ihr Vorgehen für eine Einbrecherin zu unprofessionell. Marie hatte sich die Theorie zurechtgelegt, dass es sich um eine verwirrte Nachbarin gehandelt hatte, die sie sicher bald mal auf der Straße treffen würde.

‚Bei dem Schlafmangel hier oben muss man ja irgendwann einen Dachschaden bekommen.‘ Trotz aller beruhigender Gedanken merkte Marie, wie ihr Puls bei der Vorstellung eines erneuten Aufeinandertreffens unwillkürlich wieder hochschnellte. Sie wusste nicht, was ihr weniger gefiel: dass die fremde Frau sich hier vermutlich auskannte, weitaus besser auskannte als sie selbst, oder dass es sich hier vielleicht gar nicht um ihren Schuhabdruck handelte und noch jemand anderes kürzlich auf diesem verborgenen Waldweg unterwegs gewesen sein musste. Sie blickte sich noch einmal kurz in alle Richtungen um und lief dann los.

Der Waldboden war weich und federnd, perfekt zum Joggen. Schon nach 20 Minuten erreichte sie den See. Hier mündete der Pfad in einen Weg, der nach Norden hin am Ufer entlangführte.

Sie blickte aufs Wasser. Keine Spur von der wunderschönen, blauen und spiegelglatten Oberfläche, die Marie auf einigen Fotos gesehen hatte, die vermutlich ihre Vormieter im Wohnzimmer hinterlassen hatten. Vor ihr lag eine wenig einladende grau-weiße Fläche, hinter der sich eine bedrohliche dunkle Wolkenwand über dem Westufer aufgebaut hatte, die alles andere als Wetterbesserung in Aussicht stellte.

Marie schaute zurück. Auch der Weg hinter ihr wurde bereits vom tiefhängenden Nebel verschluckt. Doch die Bewegung und frische Luft fühlten sich gut an und sie joggte weiter, ohne dem Wetter größere Beachtung zu schenken.

Eine Viertelstunde später bereute sie diese Entscheidung. Keuchend stützte sie sich mit ihren Händen auf den Knien ab. Mittlerweile war sie am nördlichen Ende des Sees angekommen, aber der Weg vor ihr drehte nicht wie erwartet mit dem Ufer nach links, sondern machte eine weitläufige Rechtskurve in den Wald. Marie überlegte. Sollte sie die gleiche Strecke zurücklaufen oder dem Weg weiter in den Wald folgen und darauf hoffen, dass er sie in die Nähe des Hauses zurückführte. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh über die jährlichen Fortbildungen, zu denen ihr alter Chef sie genötigt hatte. Basics der Orientierung schienen hier deutlich mehr Sinn zu machen als im schwäbischen Feierabendverkehr.

Während sie wie automatisch begann, ihre Waden zu dehnen, rief sie sich eine Karte der Gegend ins Gedächtnis, die sie seit ihrer Ankunft in Schweden zur Genüge konsultiert hatte, und konzentrierte sich auf die Lage von Haus und See in Bezug zueinander.

‚Müsste passen.‘ Sie nickte zufrieden und lief den Weg entlang weiter in den Wald.

Tatsächlich drehte der Pfad schon nach cirka 100 Metern in die gewünschte Richtung ab. Trotzdem kam sie nicht so schnell voran wie erhofft. Drei Faktoren verlangsamten ihren Schritte nun deutlich: ihre nachlassende Fitness, die neblige Dunkelheit, die nun selbst für deutsche Verhältnisse beinahe nächtliche Ausmaße annahm, und der Untergrund. Lennart hatte sie ermahnt, immer auf den Wegen zu bleiben. Doch inzwischen war Marie sich nicht mehr sicher, wo genau der Weg verlief. Aus dem weichen, trockenen Erdreich war ein matschiges Erd-Schlamm-Gemisch geworden, das bei jedem ihrer kürzer werdenden Schritte ein schmatzendes Geräusch verursachte. Auch die Landschaft um sie herum hatte sich verändert. Der Wald war lichter geworden und auf den immer größer werdenden Freiflächen schimmerte es feucht zwischen hohem Sumpfgras.

Plötzlich wurde Marie schwindlig. Sie hielt abrupt an und sank auf die Knie. Jeder Schritt auf dem morastigen Untergrund hatte sie deutlich mehr Kraft gekostet als auf festem Boden. Das forderte jetzt seinen Tribut. Erschöpft ließ sie sich auf den Rücken fallen und zog die Beine an. Dass ihre Klamotten sich sofort mit Schlamm vollsogen, war ihr in diesem Moment egal.

‚Keine Panik‘, versuchte sie sich zu beruhigen. Sie atmete tief ein und aus, bis sich nach wenigen Minuten das Schwindelgefühl gelegt hatte. ‚Ich folge einfach meiner eigenen Spur nach Hause.‘

Doch alle Vernunft und Logik waren in dem Moment verflogen, als Marie ihren Kopf zur Seite neigte und in die weit aufgerissenen Augen des Todes blickte.


Wie gelähmt lag Marie vor der Toten. Zehn Sekunden, eine Minute, fünf Minuten, sie wusste nicht, wie lange. Zeit und Raum schienen zusammenzuschrumpfen und sich auf diesen einen Moment zu verdichten, auf die zwei Körper im Moor – den der leblosen Frau und ihren eigenen, in dem das Blut umso dringender durch die Adern gepumpt wurde.

Erst als das Rauschen in ihrem Kopf langsam abebbte, begann sie, die Geräusche um sich herum wahrzunehmen. Ein Rascheln von rechts. Ein Schmatzen von links. Und ein Knirschen ziemlich nah hinter ihr. Normale Waldgeräusche. Normalerweise.

Marie schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. Dann öffnete sie sie wieder. Nichts hatte sich geändert an dem schrecklichen Bild, das sich ihr bot.

Die Frau lag ungefähr zwei Meter von ihr entfernt auf dem Bauch. Von ihrem Körper war nicht viel zu sehen. Bis auf den Kopf, der augenscheinlich von einem Strauch an der Oberfläche gehalten wurde, und einem Teil ihres Rückens war sie bereits komplett in dem sumpfigen Morast versunken.

‚So fühlt sich das also an‘, ging es Marie durch den Kopf, nachdem sich der erste Schock gelegt hatte. ‚So ein Moment, den man sich vielleicht ausmalen konnte – weil man fernsieht und liest und darüber nachdenkt, wie man selbst reagieren würde, aber der sich doch nie wirklich vorhersehen ließ. So ein Moment, wenn man allein im nebligen Moor in die Augen einer menschlichen Leiche starrt.‘

Überrascht stellte sie fest, wie ruhig sie dabei äußerlich geblieben war.

Gerade wollte Marie sich vorsichtig auf die Tote zu bewegen, als diese ihr plötzlich zublinzelte.

„Fuck!“

Marie wich zurück. Abermals schoss ihr Puls in die Höhe.

Mit rasendem Herzen erkannte sie schon einen Augenblick später, dass sie sich getäuscht hatte. Der Eindruck des Blinzelns war entstanden, als sich ein dicker Wassertropfen aus den Wimpern der Toten gelöst hatte und über das weit aufgerissene Auge gelaufen war.

‚So viel zum Thema Ruhe‘, ging es Marie ungesteuert durch den Kopf.

Langsam glitt der Tropfen die Wange hinunter. Entsetzt beobachtete Marie, wie diese „Träne“ der Leiche für einen kurzen Moment einen Hauch von Leben verlieh. Sie unterdrückte den Impuls, den Tropfen mit ihrer Hand wegzuwischen.

Sie spürte, wie der erste Schock nachließ und stattdessen so etwas wie Trauer in ihr aufkam. Trauer um die unbekannte Frau, die hier – im Wald direkt hinter Maries neuem Zuhause – aus ihrem Leben hatte scheiden müssen.

Langsam richtete Marie sich auf. Sie warf einen letzten Blick auf die Tote, versuchte sich den Ort so gut es ging einzuprägen und machte sich dann auf den Heimweg.

Eine sehr lange Stunde später kam sie am Haus an, schloss die Tür auf – und hinter sich wieder zu – und ging zum Telefon.


Kommissar Bengt Holmgren hatte sich gerade mit einer frischen Tasse Kaffee in seinem gemütlich-abgewetzten Schreibtischsessel niedergelassen, als seine Assistentin Liza ins Büro stürmte und seine gute Laune vorschlaghammerartig zertrümmerte.

„Leiche im Moor! Irgendwo hinterm Björksjö. Eben kam der Anruf“, verkündete sie mit demselben Anflug von Hysterie in der Stimme, mit dem sie Bengt auch von Verkehrssündern, Landstreichern oder verschwundenen Kühen berichtete.

‚Engagement‘, korrigierte sich Bengt in Gedanken. ‚Engagement, nicht Hysterie.‘

Er wusste sehr wohl, was er an Liza hatte. Wann immer seine ihm innewohnende Gemütlichkeit drohte, wichtige Ermittlungen zu verschleppen, versetzte Liza ihm einen freundlichen, aber bestimmten Tritt in den Hintern – wofür er ihr sehr dankbar war.

„Okay. Der Reihe nach. Wer hat angerufen?“

„Lennart. Lennart Sandberg.“

„Der vom Tourismusbüro?“

Liza nickte. Sie lehnte sich halbsitzend gegen ihren Schreibtisch und blickte auf ihren Notizblock, auf dem sie gewissenhaft alle Informationen festzuhalten pflegte, glücklicherweise meistens auch die relevanten.

„Er hat vor zehn Minuten angerufen. Du warst leider nicht an deinem Platz. Ich hab dich schon gesucht.“

Bengt entging der leicht vorwurfsvolle Unterton in Lizas Stimme nicht. Er hob entschuldigend seine Kaffeetasse.

„Frisch gebrüht. Ist noch was in der Kaffeeküche, wenn du willst.“

Liza schüttelte den Kopf. Als Bengt sie abwartend ansah, fuhr sie fort.

„Es handelt sich um eine Frauenleiche.“

Bengt atmete tief ein. Er war nicht der Typ Polizist, der sich über Action besonders freute. Es war ja nicht so, dass er hierher strafversetzt worden wäre. Es war sein ausdrücklicher Wunsch gewesen, eine Polizeidienststelle im Norden zu leiten. Hier kannte er den Menschenschlag und wusste, wie er mit ihnen umgehen musste. Er war ja selbst hier in der Gegend aufgewachsen und letztlich einer von ihnen. Dass er nun genau die Dienststelle leitete, in der er mit Anfang 20 seine Ausbildung begonnen hatte, empfand er als angenehme Fügung.

Verbrechen gab es hier oben natürlich auch, aber das war kein Vergleich mit dem, was er in seiner Zeit als Streifenpolizist in Malmö gesehen hatte. Seit Bengt vor etwa zweieinhalb Jahren das Kommissariat in Lågomby übernommen hatte, hatte es genau einen Mord gegeben. Und da hatte die Täterin stoisch mit dem blutigen Messer in der Hand neben dem Opfer, ihrem Trunkenbold von Mann, gesessen, als Bengt und seine Kollegen eingetroffen waren.

Er kannte das Moorgebiet hinterm See. Kein besonders gastlicher Ort. Nicht einmal gute Stellen zum Pilze sammeln gab es dort. Er wusste, dass dieses Feuchtgebiet nicht der schlechteste Ort war, um etwas verschwinden zu lassen. Vor vielen Jahren, lange vor seiner aktiven Zeit, hatte es mal einen Fall von Umweltverschmutzung im großen Stil gegeben. Eine Firma aus Lycksele hatte ihre Abfälle dort abgeladen, um sich die Kosten für die Entsorgung zu sparen. Das Moor hatte die Fässer alle brav geschluckt. Aufgeflogen waren sie nur, weil sich einer der Arbeiter für seine Entlassung hatte rächen wollen und alles ans Licht brachte.

Aber Bengt wusste auch, dass ein Mord in diesem Fall eher unwahrscheinlich war. Säufer, die sich nachts in den Wäldern verirrten und an Gott–weiß-was verreckten, gab es dagegen leider häufiger, als Bengt lieb war. Vor allem um Mittsommer rum. Allerdings handelte es sich dabei fast immer um Männer.

„Danke, Liza. Ich ruf Lennart gleich zurück.“

Seine Assistentin riss den obersten Zettel ihres Blocks ab und legte ihn Bengt auf den Schreibtisch.

„Da müssen wir uns reinhängen. Das könnte eine gute Gelegenheit für Lågomby sein, mal wieder positiv aufzufallen.“

Bengt konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Du meinst, eine Moorleiche sei Anlass für positive Schlagzeilen?“

Aber Liza ließ sich nicht so schnell verunsichern.

„Wenn wir den Fall schnell aufklären, klar.“

Wie um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen, nickte sie noch einmal bekräftigend und verließ dann das Büro Richtung Kaffeeküche.

Bengt sah ihr amüsiert hinterher. Lizas Zugang zu ihrer Umwelt und ihrem Arbeitsfeld war schon immer etwas eigen gewesen. Dabei wusste er natürlich, worauf sie hinauswollte. Die Staatsanwaltschaft in Umeå würde ein Auge auf diesen Fall haben und es galt zu beweisen, dass sie in Lågomby auch mit ernstzunehmenden Fällen zurechtkamen.

Mit dem Kaffee in der Hand drehte er sich in seinem Sessel zum Fenster. Er nahm einen kräftigen Schluck und ließ die Tasse dann seufzend in seinen Schoß sinken. Der Kaffee war nur noch lauwarm.

Wenig später war Bengt auf dem Weg zum beschriebenen Ort. Während der Fahrt warf er ab und zu einen Blick auf den Beifahrersitz, wo er seine Notizen ausgebreitet hatte.

Lennart Sandberg war in seiner Berichterstattung am Telefon ruhig und sachlich gewesen. Wie Bengt nun wusste, hatte nicht er, sondern eine deutsche Frau die Leiche gefunden. Sie lebte erst seit wenigen Tagen in dem Waldhaus ganz am Ende des Björnvägs und war wohl buchstäblich über die Tote gestolpert.

‚Willkommen in Schweden‘, dachte Bengt und schauderte selbst ein bisschen bei dem Gedanken, wie die Frau, Marie, sich dabei gefühlt haben musste.


Zur gleichen Zeit war Marie zusammen mit Lennart wieder auf dem Weg in den Wald. Je weiter sie vorankamen, desto besorgter wurde Lennarts Gesichtsausdruck.

„Hier warst du joggen? Alleine? Der Untergrund ist echt gefährlich, Marie. Vor allem, wenn du dich nicht auskennst.“

Marie nickte nur und wurde langsamer, als sie sich dem tief im Moor versunkenen Frauenkörper näherten. Er musste sich mit irgendeinem Kleidungsstück an dem Strauch daneben verhakt haben, wodurch der Kopf der Leiche in einer unnatürlichen Überstreckung der Nackenwirbelsäule an der Oberfläche gehalten wurde – wie ein letzter Versuch, in dieser Welt zu bleiben.

Lennart blieb abrupt stehen. Jetzt hatte auch er den Leichnam entdeckt. Er beäugte die Szene erst aus sicherer Entfernung, bevor er vorsichtig ein paar Schritte näher ging.

Marie sagte nichts. Im Gegensatz zu Lennart war der Anblick der Leiche für sie schon nichts ganz Neues mehr und hatte damit auch ein bisschen von seinem anfänglichen Schrecken verloren.

Sie dachte darüber nach, wie erstaunlich es war, dass man sich sogar an die schrecklichsten Situationen so schnell gewöhnen konnte. Und wie erstaunlich es war, dass sie in diesem Moment überhaupt solche Gedanken, die sich nicht direkt auf den leblosen Körper vor ihr bezogen, denken konnte.

Erst jetzt fiel ihr der dunkle Fleck am Hinterkopf der Leiche auf. Ohne den Blick von der Frau abzuwenden, ging Marie an Lennart vorbei und lehnte sich vor, um einen besseren Blick darauf zu bekommen. Ein heftiges Zucken schoss ihr in den Bauch, als sie erkannte, dass es sich dabei um das verkrustete Blut einer offenen Wunde handelte.

Sie sah sich zu Lennart um, der unverändert hinter ihr stand. Er wirkte weder sonderlich schockiert noch ängstlich. Eher enttäuscht. Als könnte er diesen Anblick in seinem Kopf nicht mit all den anderen Bildern und Erfahrungen von Lågomby in Einklang bringen.

Ein schrilles Geräusch ließ die beiden zusammenfahren. Orientierungslos und wie aus einer Trance erwacht, sah Lennart sich schnell zu allen Seiten um. Erst dann begriff er, dass das Klingeln aus der tiefen Tasche seines Cardigans kam. Hastig zog er sein Telefon hervor.

Marie beobachtete Lennarts Gespräch mit einer Intensität, als könnte es ihr irgendeinen Aufschluss über den toten Körper vor ihnen geben. Lennart ließ sich dadurch nicht irritieren. Das Telefonat schien ihn in seine gewohnte Unbeschwertheit zurück zu katapultieren.

„An der umgeknickten Fichte seid ihr schon zu weit, Bengt. Geht zurück zur doppelstämmigen Birke. Von dort aus scharf rechts halten. Dann seht ihr uns bald.“

Marie fragte sich, ob mit diesen Anweisungen tatsächlich irgendjemand hierher finden konnte. Doch schon wenige Minuten später bahnten sich zwei Männer einen Weg zwischen den Bäumen hindurch und kamen langsam auf sie zu. Einer von ihnen stellte sich in typisch nordschwedischem Gegrummel als Kommissar Bengt Holmgren vor. Der andere begann ohne große Umschweife den Tatort zu untersuchen.

Während Lennart noch einmal alles zusammenfasste, was er dem Kommissar am Telefon bereits erzählt hatte, beobachtete Marie die Männer mit einer merkwürdigen Distanz. Bengt Holmgren war ein mittelgroßer, eher zurückhaltend wirkender Mann in Jeans und Sweatshirt. Das Auffälligste an ihm waren seine froschgrünen Gummistiefel, die am oberen Rand der Schriftzug Nokia zierte. Nebeneinander sahen er und Lennart wie ein Vorher-Nachher-Bild aus: Der Kommissar mit seinem leicht zerzausten Vollbart und der praktischen Alltagskleidung vor, Lennart mit akkurat geschnittenen Haaren und einem stylischem Outfit nach der Verwandlung zum Hipster.

Wie Holmgren war auch dessen Kollege Rasmus, der offensichtlich für die kriminaltechnische Untersuchung des Tatorts zuständig war, bis auf die Gummihandschuhe vollkommen alltäglich in Jeans und Outdoorjacke gekleidet.

‚Das mit den weißen Overalls gibt es also auch nur im Fernsehen‘, ging es Marie durch den Kopf.

Während Lennart sprach, sah Bengt immer wieder zu Marie hinüber. Dabei wurde sein Gesicht zunehmend besorgter. Marie richtete ihren Blick auf den Boden. Sie musste all ihre Konzentration aufbringen, um der Unterhaltung der beiden folgen zu können. Plötzlich horchte sie auf.

Bengt nickte Richtung Leiche und sah Lennart fragend an. Der schüttelte nur den Kopf.

Marie trat einen Schritt an den Kommissar heran. „Ich kenne die Frau.“

Verwundert richteten sich drei Augenpaare auf sie.


An diesem Abend empfand Marie das helle Licht, das auch zu später Stunde noch in ihr Wohnzimmer fiel, zum ersten Mal als beruhigend.

Dennoch fiel es ihr schwer, die Ereignisse des Tages – mehr noch, die Ereignisse seit ihrer Ankunft in Lågomby – zu verdrängen. Die Augen der Toten hatten sich unauslöschlich in ihr Gehirn eingebrannt. Aber auch der nächtliche Besuch der unbekannten Frau war ihr nun präsenter als jemals zuvor. Ohne es sich selbst richtig erklären zu können, fühlte Marie sich irgendwie mit der Fremden verbunden.

Ob sie gestürzt war? Womöglich noch in der gleichen Nacht, in der sie zum Haus gekommen war? Dagegen sprach, dass Marie am nächsten Tag geglaubt hatte, sie noch einmal im Ort zu sehen. Da war sie allerdings sehr weit weg und Marie sich selbst nicht sicher gewesen.

Trotzdem schien es nun offensichtlich, dass die Frau Hilfe gebraucht hätte – die Marie ihr verweigert, oder zumindest nicht angeboten hatte. Vielleicht hatte sie sich verlaufen. Vielleicht hatte sie sich verletzt. Vielleicht war sie deswegen gestürzt. Vielleicht hätte Marie ihr helfen können, wenn die Frau nicht gleich davongelaufen wäre?

Wie lange hatte die Leiche wohl schon da gelegen, im Wald hinter ihrem Haus? Marie schauderte. Sie zog die Vorhänge zu und kontrollierte aus einer unbestimmten Angst heraus, ob die Tür abgeschlossen war.

Auf dem Sofa richtete sie sich – ohne auf das Programm zu achten – darauf ein, vor dem laufenden Fernseher einzuschlafen. Als ihr das nicht gelang, ertappte sie sich dabei, wie sie auf ihrem Telefon Alex‘ Nummer aufrief. Doch sie unterdrückte diesen Impuls sofort wieder und stand stattdessen auf, um sich eine Flasche Wein zu öffnen.

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