Kitabı oku: «Briefe von Toni», sayfa 2
An jenem Tag, kurz vor Weihnachten im Jahr 1937, war die Luft besonders frostig. Der in der Nacht gefallene Schnee glänzte auf den Bäumen und Dächern, und der undurchlässig graue Himmel versprach noch mehr Niederschlag, worüber ich mich freute. Mir gefiel es, wenn es schneite. Ich war vergnügt, wenn die Straßen aussahen, als wären sie mit Puderzucker bedeckt, meine Schritte frische Abdrücke im Schnee hinterließen und ich Eiszapfen von den Vordächern abbrechen und in den Mund stecken konnte, um die Kälte auf der Zunge zu spüren. Aber die größte Freude bereitete es mir, wenn der Schnee in dicken Flocken fiel und diese leise im Wind gegen die Fenster unseres Klassenzimmers stießen, als würden sie um Einlass bitten. Dann stellte ich mir vor, wie schön es jetzt sein müsse, in einem gemütlichen Raum am Feuer zu sitzen, das in einem Kamin flackerte, und von dort aus zu beobachten, wie die Welt draußen immer weißer wurde, bis das Weiß in den Augen brannte.
Als der Gong das Ende des Unterrichts verkündete, packten wir hastig unsere Schulsachen und eilten aus dem Gebäude, um vor dem schmiedeeisernen Tor der Schule eine Schneeballschlacht zu beginnen. Ein Haufen Schüler, die mit lautstarkem Gejohle einander jagten, sich mit Schneebällen bewarfen, jubelten, wenn sie trafen, und fluchten, wenn sie getroffen wurden. Manche zankten sich, nur um kurz darauf wieder zusammenzustehen und sich zu versöhnen. Die Luft war erfüllt von heiterem Lachen und Geschrei. Aber das Treiben dauerte nicht lange. Unsere Hosen, Jacken und Handschuhe waren bald schon nass. Schnell sehnten wir uns nach Wärme und fingen an, unsere vor Kälte schmerzenden Gesichter zu reiben. Vielleicht war ich nasser als die anderen und sehnte mich noch mehr als die anderen nach Wärme und war deshalb der Erste, der sich verabschiedete. Aber gerade, als ich mich auf den Heimweg machen wollte, sah ich in der Ferne eine Gestalt, die mit hängenden Schultern davonging. Es war David, ohne jeden Zweifel. Er hatte sich der Schneeballschlacht entzogen. Wieder einmal war er bemüht gewesen, jeder Aufmerksamkeit zu entgehen. Er wollte unauffällig verschwinden, doch zwei größere Gestalten verfolgten ihn. Mir wurde flau im Magen, als ich in ihnen die Oberschüler Erwin Kroschke und Franz Ziegler erkannte.
Erwin stammte aus einer wohlhabenden Metzgerfamilie, die etliche Geschäfte in mehreren Berliner Bezirken betrieb und einige Straßen von uns entfernt in einem imposanten Haus inmitten eines gepflegten Parks mit verschlungenen Wegen und einem großen Fischteich lebte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, zählten Erwins Eltern Mitglieder der obersten Parteiführung zu ihrer Kundschaft, und manch einer flüsterte, sie würden sogar die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße mit Fleisch beliefern. Außerdem gab es unter den Kindern das Gerücht, dass der Metzgersohn nie ohne sein Schweizer Messer mit Griffschalen aus geschwärztem Eichenholz das Haus verließ. Er trüge es immer in seiner rechten Hosentasche, jederzeit bereit, anderen, vor allem jüngeren Kindern, furchtbare Angst einzujagen, indem er es vor ihnen aufklappte und mit der Klinge wild durch die Luft schnitt, als handelte es sich bei dem Messer um einen Degen. Erwin war zwei Jahre älter als ich, ein unberechenbarer Junge, dem ich möglichst aus dem Weg ging, wenn er durch die Straßen schlenderte, fortwährend auf der Suche nach einer Gelegenheit, seine Stärke und Unerbittlichkeit zu demonstrieren. Manchmal fand er sie, manchmal auch nicht.
An diesem Tag fand er sie. Ich beobachtete, wie er und Franz losliefen, bis sie David, der die Gefahr zu spät erkannt und deshalb auch zu spät zu fliehen begonnen hatte, in Höhe eines Pritschenwagens stellten. Sie blieben vor dem Jungen stehen und bauten sich bedrohlich vor ihm auf. Inzwischen hatten sich mehrere Klassenkameraden zu mir gesellt, und als auch sie begriffen, was sich in einiger Entfernung zutrug, rannten sie in der Erwartung los, dass Erwin ein Opfer gefunden hatte und zumindest heute alle anderen in Ruhe lassen würde. Niemand wollte ein mögliches Spektakel verpassen. Ohne zu überlegen, lief ich mit.
Im Nachhinein habe mich gefragt, was geschehen wäre, wenn wir ignoriert hätten, was am anderen Ende der Straße geschah. Ich habe mich gefragt, ob wir Erwin durch unser Erscheinen erst zum Handeln motivierten, ob er sich durch unser Auftauchen verführen ließ, wie sich ein Athlet verführen lässt, den Jubel und Applaus im Stadion zur Bestleistung tragen. Vielleicht hätte der Metzgersohn den jüdischen Jungen nur bedroht, ihn aber nicht verletzt und gedemütigt, wenn wir dem Geschehen ferngeblieben wären.
Nachdem wir die drei Jungs erreicht hatten, bildeten wir einen Kreis um sie, ohne uns bewusst zu sein, dass wir David auf diese Weise jede Fluchtmöglichkeit raubten.
Erwin legte den Kopf schräg, musterte sein Opfer und setzte ein breites Grinsen auf. »Ich habe gehört, du heißt David. Stimmt das? Heißt du wirklich so wie der Schafhirte, der den Riesen besiegt hat?«
Obschon David erschrocken und ängstlich wirkte, nickte er und sagte leise: »Ja, so heiße ich …«
»David wurde zum König gekrönt, nachdem er den Riesen getötet hatte, richtig?« Erwin kannte Davids Namen, er kannte die Geschichte von dem Schafhirten, der den Riesen besiegt hatte, und er wusste, dass dieser einst König der Israeliten gewesen war. Plötzlich verstand ich. Alle verstanden es. David schaute Erwin an, mit flehenden Augen. Lass mich in Ruhe, sagten diese Augen. Lass mich bitte in Ruhe, ich bin kein mutiger Hirte, ich bin nur ein verängstigtes Schaf auf dem Weg nach Hause …
»Du musst stolz sein, den Namen eines Königs zu tragen«, sagte Erwin und verzog abermals den Mund zu einem herablassenden Grinsen. »Ich wäre stolz darauf.«
»Ich … nein …«, stotterte David.
»Nein? Du bist nicht stolz darauf? Du bist nicht stolz, einen Namen zu tragen wie ein jüdischer König? Bist du etwa auch nicht stolz darauf, ein Jude zu sein?« Erwin tat überrascht. Er schob seine Hand in die rechte Hosentasche. Ich hielt die Luft an, weil ich ahnte, was sich darin befand. »Der Riese, verflucht, wie hieß der Riese noch mal? Weißt du es noch?«
»Goliath«, stieß David hervor. »Der Riese hieß Goliath.«
»Goliath, richtig. Könntest du einen Riesen wie Goliath besiegen, David?« Erwin ließ nicht locker. »Ihn töten?«
David schüttelte den Kopf. »Nein, ich könnte keinen Riesen besiegen …«
»Und wenn ich Goliath wäre? Glaubst du, du könntest mich besiegen?«
David schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal noch heftiger.
»Du bist feige, David. Dein Volk ist feige, und das ist schlecht für dich und alle Juden.« Erwin zückte das Messer und klappte es auf. Dann leckte er mit der Zunge über die scharfe Klinge. Franz lachte schallend los.
Davids Gesicht wurde blass, auf seinen Wangen bildeten sich rote Flecken, und aus seinem Mund kam ein pfeifender Ton.
Ich biss auf meine Lippen und rieb die Daumen mit den Zeigefingern, wie Mutter es tat, wenn sie dem Radiosprecher lauschte. Ich litt mit David, aber ich war voller Angst, und deshalb nicht fähig, einzugreifen. Mein Herz sandte ein Signal aus, dass ich Mut aufbringen, das Richtige tun und dem Unterlegenen beistehen sollte, aber mein Verstand wies das Herz zurück, weil Mut allein nicht ausreichen und der eigene, zu erwartende Schmerz ein Eingreifen nicht verzeihen würde. Ich war stark, aber sicher nicht stark genug, um Erwin entgegenzutreten. Also sah ich mit aufgerissenen Augen und halb offenem Mund zu und klammerte mich an dem fest, was Mutter mir eingebläut hatte: Ich hasse sie nicht, und du musst sie auch nicht hassen, aber du darfst niemandem erzählen oder durch Taten zeigen, dass wir sie nicht hassen.
»Ich werde dir jetzt zeigen, wohin es führt, wenn man feige ist. Ich werde dir einen Judenstern in die Brust ritzen, David. Kapierst du, was ich sage? Einen verdammten Judenstern werde ich dir ins Fleisch schneiden«, verkündete Erwin mit einem Gesichtsausdruck, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, dass er es ernst meinte. Er trat einen Schritt auf sein Opfer zu.
David wollte ausweichen und ging rückwärts, aber er stieß gegen eine Wand aus eng beieinanderstehenden Körpern. Franz schnellte vor und trat mit voller Wucht in die rechte Kniekehle des bedrängten Jungen. David stürzte zu Boden. Ein paar Jungs aus dem Kreis johlten, andere blieben stumm.
Wie ein Raubtier stürzte sich Erwin auf den am Boden Liegenden, riss ihm die Jacke auf und zerschnitt seinen Pullover und das Unterhemd. Er setzte sich auf ihn, während Franz sich auf die Knie fallen ließ und Davids Kopf zwischen seine Oberschenkel presste. Dann griff er nach Davids Handgelenken, umschloss sie und fixierte seine Arme am Boden.
Ich sah schreckliche Panik in den Augen des jüdischen Jungen lodern, als er bemerkte, dass er sich nicht mehr wehren konnte. Er steckte fest, eingezwängt wie in einem Schraubstock. Dennoch wollte er seine Angst nicht zeigen und sog stoßweise Luft zwischen seinen zusammengepressten Zähnen ein, aber als Erwin die Klinge auf seine linke Brust setzte und zu ritzen begann, kamen ihm die Tränen. Zunächst schluchzte er nur, doch schon bald übermannte ihn der Schmerz. Er heulte los und schrie. Es klang erbärmlich, und sogar die, die eben noch höhnisch gelacht hatten, schwiegen plötzlich. Die Lust am Zuschauen verwandelte sich in lähmendes Entsetzen.
»Du brüllst wie ein Schwein, das mein Vater auf die Schlachtbank führt«, grölte Erwin triumphierend. Blut rann über die Schneide seines Messers. Sein feistes Gesicht, von glühender Röte überzogen, war von einschüchternder Wildheit. Er schnitt weiter, voller Entschlossenheit, sein Werk zu vollenden. Er wollte David eine bleibende Wunde zufügen, eine Verletzung, die eine wulstige Narbe hinterlassen und den Juden ein Leben lang an diese besondere Schmach erinnern sollte. »Schrei, König von Israel, ich will, dass du noch viel lauter schreist …!«
Davids Gesicht war verschmiert von Dreck und Tränen, als Erwin sein Werk vollbracht hatte, aufstand und den blutverschmierten Stern auf Davids linker Brust und den dunklen Fleck zwischen dessen Beinen begutachtete. Zufrieden klappte er sein Messer zusammen, steckte es in die Hosentasche und bedeutete Franz, sein Opfer loszulassen und ebenfalls aufzustehen. Dann sah er jedem von uns in die Augen, prüfend, argwöhnisch. Wir erstarrten unter seinem kalten Blick.
»Schaut ihn euch an, den nach Pisse stinkenden König der Juden. Schaut ihn euch genau an …!« In seine Stimme mischte sich Zynismus, der grausam klang. Langsam stolzierte er im Kreis umher, ungeniert und im Bewusstsein einer infamen Tat setzte er Fuß vor Fuß, fühlte sich offensichtlich beschwingt, energisch und siegestrunken. Franz folgte ihm wie ein Schatten. Als sie sich mir näherten, hoffte ich, dass sie mir nicht ins Gesicht blicken und meine Angst und die schlecht unterdrückte Missbilligung sehen würden. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und wäre am liebsten im Boden versunken, vor lauter Scham und Furcht. Wie erleichtert ich doch war, als Erwin und Franz an mir vorübergingen. Und noch erleichterter war ich, als sie verschwanden. Mit federnden Schritten und hochgereckten Hälsen spazierten sie durch die Lücke des sich widerstandslos öffnenden Kreises, ohne noch etwas hinzuzufügen, als sei alles gesagt und jedes weitere Wort zu viel.
Ich war wütend, ich war aufgebracht, ich fühlte mich von der eigenen Mutlosigkeit gebrandmarkt und wollte nur schnell nach Hause. Leise stahl ich mich davon, passierte den Pritschenwagen, überquerte die Straße, fing an zu laufen, stolperte, fiel auf den schneebedeckten Asphalt, stand wieder auf und lief weiter. Mein Ranzen war schwer, ich spürte sein Gewicht auf meinem Rücken, so wie ich das Gewicht der Schuld auf meinen Schultern spürte. Ich versuchte, das Bild von Davids Angst aus meinem Kopf zu bekommen, seine vor Schrecken geweiteten Augen, seine Schreie und die blutende Wunde auf seiner Brust. Aber es gelang mir nicht. Genauso wenig gelang es mir, meine eigene Furcht vor Erwin Kroschke einzudämmen. Ich hoffte inbrünstig, nie wieder seinen Weg zu kreuzen.
Am nächsten Morgen erlebte ich eine Überraschung. David Bloch saß wieder in unserem Klassenzimmer. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass er nicht wiederkommen oder dem Unterricht zumindest für ein paar Tage fernbleiben würde. Bis der Schrecken ein wenig von seiner Kraft eingebüßt hatte. Aber David war gekommen, er saß an seinem Platz, zwei Reihen vor mir. Und weil ich nicht anders konnte, beobachtete ich ihn fortwährend, unauffällig und tatenlos wie am Vortag. Dabei hätte ich die wenigen Gelegenheiten in den Pausen nutzen sollen, hätte ihn ansprechen und sagen müssen, was in einer solchen Situation zu sagen war. Dass es mir leidtue, was geschehen sei. Dass meine Nichteinmischung keineswegs an ihm gelegen habe, vielmehr sei ich an meiner eigenen Angst gescheitert. Dass ich etwas für ihn tun wolle, wenn er mich um etwas bitte. Doch ich konnte mich nicht überwinden, brachte die Worte einfach nicht über meine Lippen und beschränkte mich aufs bloße Starren, wobei ich bemerkte, wie fahl David war, wie glanzlos seine Augen blickten, wie in sich gekehrt er dasaß, noch in sich gekehrter als sonst, und wie leblos er wirkte, als wäre etwas in ihm gestorben. Als hätte Erwin Kroschke nicht nur ein blutiges Mal in seine Brust geschnitzt, sondern ihm auch noch den letzten Rest von Lebenslust geraubt. Und erneut spürte ich die Last der Scham, denn ich wusste, dass ich diesen Raub durch meine Untätigkeit gebilligt hatte.
4
1. September 1939 – 31. Dezember 1942
»Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.«
Adolf Hitlers Worte.
»Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.«
Vaters Worte.
»Es wird alles gut, Hänschen, es wird sich alles finden.«
Mutters Worte.
Ich saß am Esszimmertisch und beschäftigte mich mit meinen Hausaufgaben, als Mutter plötzlich beteuerte, alles werde gut. Sie stand mit dem Rücken zu mir und starrte ohne jede Regung durch das Fenster hinaus auf die Straße. Ihre aufrechte Körperhaltung drückte das Bemühen aus, stark zu sein. So verharrte sie eine ganze Weile, bis sie plötzlich zu nicken begann. Sie nickte und nickte, und ich bangte schon, sie würde nicht mehr damit aufhören.
»Ja, alles wird gut. Alles! Davon bin ich überzeugt. Es kann gar nicht anders sein.« Ihre Stimme wirkte unerwartet kräftig. Schließlich klatschte sie in die Hände und drehte sich zu mir um. »Ich werde kochen, Hänschen. Es juckt mir in den Fingern, etwas zu kochen. Speckbohnen mit Kartoffeln wären richtig, nicht? Dein Vater mag Speckbohnen.«
»Ja, Speckbohnen wären gut …«, erwiderte ich überrascht. Es war früher Nachmittag, nicht die rechte Zeit für eine warme Mahlzeit. Wir aßen doch immer erst am Abend. Großen Hunger verspürte ich jedenfalls noch nicht, aber das gab ich nicht zu.
»Fein, ich freue mich, wenn du dich freust«, sagte Mutter. Sie eilte in die Küche, wo sie eine Schürze umband und sich bückte, um zwei Töpfe aus dem Unterschrank zu nehmen. Wie zielstrebig sie auf einmal war, wie flink, wie lebendig! Nichts schien sie beirren zu können. Sie nahm die Kartoffeln aus dem Vorratsschrank hinter der Tür, schälte sie, warf sie in einen der Töpfe, den sie zuvor mit Wasser gefüllt hatte, und putzte mit der ihr eigenen Gründlichkeit die Bohnen. Mit heller Stimme fing sie zu singen an, ein Lied aus ihrer rheinischen Heimat; ich kannte es aus früheren Tagen, als sie es mir vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte. Den Text hatte ich nie vergessen.
»Steh’ ich an meinem Fensterlein, schau in die stille Nacht hinein, den ich gesehen hab’ so gerne, der zog von mir in weite Ferne …« Sie ging zum Vorratsschrank, um noch mehr Kartoffeln zu holen. Ihr federleichter Gang kontrastrierte auf groteske Weise mit dem schwermütigen Liedtext, ihr weiter Rock schwang bei jedem Schritt, ihre Absätze polterten laut. Sie wirkte wie beflügelt. »Weit entfernt in’s fremde Land, der mir so viel Leiden gab; Leiden gab er mir sehr viel, und mein Herz schweigt nimmer still …«
Ich mochte das Lied, die Sehnsucht in Mutters Stimme, die wehmütige Melodie darin. Aber heute war ich irritiert. Etwas an Mutters Verhalten erschien mir unermesslich falsch. Ich wollte ihr nicht länger zuschauen und zuhören. Noch war ich mit meinen Aufgaben nicht fertig. Also beeilte ich mich. Obwohl es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren, erledigte ich meine Pflichten, bis ich mit den Ergebnissen zufrieden war. Danach packte ich die Schulsachen in den Ranzen und huschte an Mutter vorbei, ohne dass sie es bemerkte. Sie war mit den Gedanken ganz woanders. Kochte und sang noch immer voller Leidenschaft.
In meinem Zimmer setzte ich mich aufs Bett, neigte den Kopf und faltete die Hände zum Gebet. Zunächst zauderte ich, als gäbe das Zaudern meinem Anliegen eine noch größere Bedeutung, aber nach einigen Minuten brach es aus mir heraus, und ich betete voller Inbrunst, Polen möge geschwind besiegt und der Feldzug in Kürze beendet sein. Betete, Mutters Hoffen möge den Weg in Gottes Herz finden und der Vater schon bald heimkehren. Ich betete so lange, bis der Geruch nach gekochten Bohnen und Kartoffeln in mein Zimmer zog und Mutter mich zum Essen rief.
Dass Mutter schon am Nachmittag statt am Abend kochte, blieb eine Ausnahme und war einzig der Nachricht von den beginnenden Kriegshandlungen geschuldet, die sie mehr verstörte, als sie es mir gegenüber zugeben wollte. In den nächsten Tagen und Wochen vermied sie es jedoch wieder, die Abläufe unseres Alltags zu verändern. Sie suchte und fand Zuversicht im Üblichen, hielt die Wohnung mit der gewohnten Sorgfalt sauber, schrubbte wie immer täglich die Böden und staubte die Möbel mit jenem Pflichteifer ab, den ich schon früher als übertrieben empfunden hatte. Sie änderte auch nichts an dem zweitägigen Rhythmus, in dem sie unsere Kleidung wusch oder an der Gepflogenheit, mir jeden Morgen ein Butterbrot zu streichen und ein Glas Milch einzugießen, damit ich nicht mit leerem Magen zur Schule ging. Sie war es auch, die stets von mir forderte, meine Hausaufgaben verantwortungsbewusst zu erledigen und die Heimabende der Pimpfe zu besuchen, an denen wir zu exerzieren lernten und Kenntnisse über die deutsche Geschichte und Rassenlehre vermittelt bekamen. An einem Wochenende fuhr ich mit der Gruppe zu einem Jugendtreffen in ein Waldstück nahe Potsdam, um an einer Geländeübung teilzunehmen. Dort wurde uns beigebracht, wie man mit einem Luftdruckgewehr schoss, mit dem Kompass umging und Befehle befolgte, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Wer es dennoch tat, tat es im Stillen.
In dieser Zeit sinnierte ich häufig darüber, wo Vater jetzt war und welche Aufgaben er zu erfüllen hatte. Ich malte mir aus, welche Gefahren ihn bedrohten, wie er sich ihnen stellte oder ihnen entkam. In meiner Fantasie sah ich ihn mit seinen Kameraden in geordneten Reihen durch niedergebrannte Städte und Dörfer marschieren, die steinernen Trümmerwüsten glichen; er war aufmerksam und bereit, jeden gegnerischen Angriff mit seinem Gewehr zu beantworten. Andere Male sah ich ihn über ein Schlachtfeld laufen und den Geschossen der polnischen Artillerie ausweichen. Oder ich stellte mir vor, wie er in einem Schützengraben lag und nach dem Feind Ausschau hielt, der nur wenige Meter entfernt im finsteren Unterholz lauerte. Aber egal, welcher Vorstellung ich mich hingab, stets spürte ich die Angst, die mit Eiseskälte in meinem Körper aufstieg.
Als der Postbote endlich einen Brief von Vater brachte, lief ich zu Mutter, aufgeregt und in freudiger Erwartung. Sie rutschte noch im Flur mit dem Rücken an der Wand hinab, öffnete den Umschlag, und wie es ihre Art vorzulesen war, hielt sie den Brief dicht vor die Augen, während ihre Finger über die Schriftzeichen glitten, als wollten sie jeden Buchstaben nachzeichnen. Sie hastete über die Zeilen, blieb an der einen oder anderen Stelle hängen und wurde dann wieder schneller, um voranzukommen und auch noch die letzte Information vor sich hin zu flüstern. Was Vater schrieb, machte uns glücklich. Er betonte, er sei wohlauf und wünsche sich von Herzen, dass es auch uns gut ergehe. Wo er war und was er machte, durfte er uns nicht mitteilen, aber das dämpfte unsere Freude nicht. Er lebte und klang hoffnungsvoll, daran hielten wir uns fest. Den Brief legte Mutter in die oberste Schublade seines Sekretärs, den er noch im vergangenen Sommer selbst restauriert hatte. Und weil uns in den nächsten Tagen keine Post mehr von ihm erreichte, holte sie das wertvolle Papier immer wieder hervor, wenn ihr danach zumute war, es erneut zu lesen. Einmal fand ich sie am Morgen in der Küche stehend, Vaters Brief in beiden Händen haltend und darin versunken, als erkenne sie in den akkurat und in schwarzer Tinte verfassten Zeilen einen neuen Sinn, der ihr zuvor entgangen war.
Wie sehr sie doch auf neue Post von ihm hoffte! Und wie schwer ihr Herz wurde, als ihr Wunsch jeden Tag aufs Neue unerfüllt blieb.
Ich entsinne mich noch mit einer Klarheit an jenen Mittag, an dem ich von seinem Tod erfuhr, als wäre es erst gestern gewesen. Es war der 21. September 1939, ein gewöhnlicher Donnerstag, an dem ich, vom Unterricht und dem übertriebenen Drill unseres Sportlehrers erschöpft, nach Hause kam. Das Hemd klebte an meinem verschwitzten Rücken, der raue Stoff der Jacke rieb in meinem Nacken. Ich fühlte mich unbehaglich. Im dämmrigen Treppenhaus mit den schmutziggrauen Wänden und den abgenutzten Dielen war es bereits kühl, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich der Sommer zu verabschieden drohte.
Ich schloss die Wohnungstür auf und trat ein. Aber nicht Mutter empfing mich im Flur, sondern Herr Tremmel. Dass er die offizielle Uniform des Blockleiters trug, mit etlichen Ordensschlaufen auf der Brust, vergoldeten Knöpfen, auf denen der Hoheitsadler der Partei prangte, und einer Hakenkreuz-Binde am Arm, machte mich genauso misstrauisch wie sein Erscheinen in unserer Wohnung. Vater bezeichnete ihn gerne als Schnüffelhund oder Treppenterrier, der nur dann auftauchte, wenn er den Verdacht hegte, dass etwas nicht stimmte.
Ich fragte mich, in welchen Verdacht wir geraten waren. Kontrollierte Herr Tremmel etwa, ob wir auch eine Hakenkreuzfahne besaßen? Welches Rundfunkgerät sich in unserer Wohnung befand?
Mein Hals wurde eng, als er mich mit finsterer Miene ansah, bevor er ein entschlossenes »Heil Hitler« herausbrachte.
Ich erwiderte den Gruß mit wenig Enthusiasmus. Meine Kehle schnürte sich weiter zu. Ich hatte Angst, sagte mir aber, ich müsse mich nicht ängstigen.
»Tritt ein, Hans! Wir haben auf dich gewartet. Deine Mutter muss dir was sagen.« Herr Tremmel machte Platz, und ich schlüpfte in die Wohnung. Jacken und Mäntel hingen wie üblich an der Garderobe. Mutters Hüte lagen auf der hölzernen Ablage darüber. Die Schuhe standen aufgereiht im Flur. Alles war wie immer. Was um Himmels willen wollte Tremmel also von uns?
Ich schaute mich um, sah Mutter im Esszimmer am Tisch sitzen und erschrak. Helles Tageslicht fiel durch das Fenster auf ihr blasses Gesicht mit den geröteten Augen. Auf ihrer tränennassen Wange klebten zwei Locken, ihre Zähne hatten sich in der Unterlippe verbissen, und ihr Kinn zitterte. Sie hielt ein weißes Tuch in den Händen. Nichts erinnerte mehr an den Optimismus, der all ihr Tun in den letzten Wochen geprägt hatte. In ihren Zügen erkannte ich nur noch tiefe Traurigkeit und Ermattung.
Ich blieb stehen. Mutter starrte auf die Tischplatte, statt mich anzusehen.
»Mutter?«, sagte ich, erfüllt vom Wunsch, dass sich ihre Gesichtszüge erhellten, dass sie mich zu sich winkte und wie so oft in den letzten Tagen erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen, alles würde sich finden.
»Mutter?«
Sie stöhnte. Ihre Zähne lösten sich von der Unterlippe. »Hänschen … o mein Hänschen …«, flüsterte sie. »Dein Vater … dein Vater …«
Der Boden unter mir gab nach, ich schwankte und ließ die Tasche los, die ich die ganze Zeit festgehalten hatte. »Was ist mit ihm, Mutter? Was ist mit Vater? Geht es ihm nicht gut?«, fragte ich erschrocken.
»Dein Vater …« Sie stockte, rang nach Luft und drohte, in sich zusammenzusacken. Und dann, nach einem scharfen Atemholen, brachte sie es heraus: »Hänschen, dein Vater ist gefallen …«
Ich starrte sie an. Ungläubig. Von einem einzigen Satz getroffen wie von einer Kugel. Dieser Augenblick kam mir so unwirklich vor, dass ich wie gelähmt war, die Zeit stand für die Dauer eines endlos wirkenden Herzschlages still. »Vater ist … tot?«
Mutter hielt sich das Tuch vor den Mund und schluchzte auf, ein würgender Laut, der voller Leid war, eine Dissonanz, die in meinen Ohren dröhnte.
Ich schüttelte den Kopf. Mir wurde übel. Ich öffnete den Mund. Schrie ohne Ton und weinte lautlos, ohne Wimmern, während sich das Bild von Mutter verdoppelte, dann vervielfältigte, bevor es endgültig verschwamm. Eine Zeitlang vermochten weder sie noch Herr Tremmel oder ich etwas zu sagen. Erklärungen waren in diesem Moment nicht möglich und überflüssig. Die Welt erstarrte.
Es war Mutters Stimme, welche die Stille zerriss, irgendwann und irgendwo im zähen Nebel, schrill, fast hysterisch und sich vergewissernd. »Hänschen, hast du mich verstanden? Hänschen, hörst du mich?«
Ich konnte nicht antworten.
»Dein Vater ist gefallen. Er ist tot. Tot. Tot. Verstehst du denn nicht? Er kommt nie wieder. Nie wieder kommt er zurück zu uns …! Mein Hänschen, sag doch was …« Da war so viel Leid in ihrer Stimme, zu viel Leid.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Herr Tremmel. Auch er fing wieder zu reden an, doch seine Parolen drangen wie aus einem anderen Raum zu mir, dumpf, fern. Er sprach von meinem Vater als heroischem Krieger, der an der Bzura nahe der Stadt Kutno gekämpft habe, wo sich die polnischen Armeen Poznan und Pomorze vereint hatten, um unsere Achte Armee unter General Johannes Blaskowitz zu überraschen. Aber mit Hilfe der Vierten und der Zehnten Armee sei es gelungen, die Polen einzukreisen und vernichtend zu schlagen. Viele polnische Soldaten seien in dieser entscheidenden Schlacht getötet worden, viele von ihnen seien nun in Gefangenschaft. Auf unserer Seite habe es nur wenige Verluste gegeben.
Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.
Herr Tremmel tätschelte meine Schulter. Ich schüttelte seine Hand ab. Er redete weiter, bezeichnete meinen Vater immer wieder als tapferen Soldaten und einen Mann der Tat. Hier, in unserem Esszimmer, galt dem Blockleiter offensichtlich nichts mehr als die eigene Erregung und Auffassung, auf die deutschen Soldaten stolz sein zu müssen, auch oder besonders auf die Gefallenen im Feld. Unsere Verzweiflung war für ihn nur der Nachhall großen Heldentums. Dafür hasste ich ihn. Und ich hasste ihn, weil er von meinem Vater sprach, als hätte er keinen Namen und mit dem Tragen der Uniform das Recht verwirkt, über das eigene Handeln, das eigene Leben zu entscheiden. Als hätte Vater der Gedanke gefallen, für das Reich zu sterben. Ich zeigte meine Verachtung, indem ich Herrn Tremmel ignorierte und dadurch zum Verstummen brachte. Als ihm das neuerliche Schweigen im Raum unerträglich wurde, verabschiedete er sich mit belanglosen Sätzen und verließ die Wohnung ohne den üblichen Gruß.
Nach einer Weile fragte ich Mutter, was wir nun tun sollten. Ich war ratlos und benommen von der Größe dessen, was geschehen war und noch geschehen würde. Das Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Mutter rührte sich nicht. Ich wollte, dass sie mit Stärke antwortete. Dass sie mich in ihre Arme nahm und wiegte und mir die Haare aus der Stirn wischte. Dass sie wie ein Fels war, mein Fels.
Doch sie tat nichts und war nichts.
Wieso tat sie nichts? Und warum war sie nichts?
Meine Arme und Beine wurden schwer. Auf einmal konnte ich mich nicht mehr halten und verlor das Gleichgewicht. Aber statt mich zu setzen, stürzte ich mich auf Mutter und riss sie mit dem Stuhl um. Am Boden liegend schlang ich meine Arme um ihren Körper, drückte mich an ihn, heulte voller Schmerz und forderte von ihr, etwas zu sagen, irgendetwas, das wiedergutmachen und heilen sollte, was zerstört und nicht mehr heilbar war. Ich spürte ihren Atem auf meiner Haut. Vater atmete nicht mehr. Er würde nie mehr atmen! Erst nach einer Weile reagierte Mutter und umklammerte mich so fest, wie sie konnte. Ihre Tränen vermischten sich mit meinen.
So blieben wir liegen, stundenlang, darum bemüht, die Erkenntnis über den schrecklichen Verlust einfach zu verdrängen und die Wirklichkeit von uns fernzuhalten.
Es war ein sinnloses Bemühen.
Regen klopfte unablässig auf Vaters Sarg. Ich stand neben dem aufgeschütteten Erdhaufen vor der Grube und hielt Mutters Hand, folgte aber nicht ihrem Blick ins Grab, sondern sah in die Ferne, zu den Ahornbäumen am Rand des Friedhofs, deren Kronen bereits ihr sattes Grün verloren und ein zartes Goldgelb angenommen hatten. Unter den Bäumen wirbelten Winde die herabgefallenen Blätter von moosigen Pfaden empor und trugen sie wie mit Zauberhänden über die Dornengebüsche in den Park hinter der Begräbnisstätte. Mit schwerem Herzen sog ich tief die Luft ein, die bereits eine erste Ahnung von bitterer Kälte mit sich trug. In wenigen Wochen würden die Gräber, Hecken und Bäume unter einer weißen Frostschicht erstarren. Der Gedanke, dass weder das Wetter, die Jahreszeiten noch das Leben selbst innehielten, obwohl Vater gestorben war, verunsicherte mich. Mir wurde klar, dass auch mein eigenes Leben weitergehen würde, egal, auf welche Weise.
Als die Trauergäste nacheinander mit einer kleinen Schaufel Erde vom Haufen nahmen, ins Grab schütteten und stille Andacht vor der Stätte hielten, befürchtete ich, die Beerdigung würde noch ewig dauern. So viele waren gekommen, um uns ihr Beileid auszudrücken. Freunde meiner Eltern, Hausbewohner, Nachbarn, einige Parteifunktionäre und Rolf Kistner, der Inhaber der kleinen Schreinerei in unserem Hinterhof. Sogar Erwin Kroschke, dessen Blicken ich geflissentlich auswich, und seine Eltern hatten sich auf den Weg gemacht, um meinem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Genauso wie meine Großeltern vom Rhein, die vergeblich versuchten, Mutter zu überreden, wieder mit ihnen zu kommen.