Kitabı oku: «Briefe von Toni», sayfa 3

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»Du hast doch hier niemanden mehr, Lenie, nicht nur Gerhard ist gefallen, auch seine Eltern sind schon lange tot. Also, was willst du mit deinem Jungen in einer Stadt wie Berlin? Hier ist es anonym und kalt. Kommt mit uns, bei uns habt ihr es besser«, sagte Großvater ernst und fügte hinzu, es sei ein Fehler gewesen, dass Mutter in die Ferne gegangen war, nachdem sie Vater in den Goldenen Zwanzigern in Berlin kennen- und lieben gelernt hatte. Großvater bereute es schon längst, seine Tochter damals mitgenommen zu haben, um mit ihr die erste Grüne Woche in der Reichshauptstadt zu besuchen. Aber nun sollte sie ihren Fehler korrigieren und in den Schoß des elterlichen Hofs zurückkehren. Um heimatliche Gefühle in ihr zu wecken, beschrieb mir Großvater in ihrem Beisein, wie sich das landwirtschaftliche Gut im Schutz der steil aufragenden Felsabhänge des Rheinischen Schiefergebirges rund um ein historisches Bauernhaus erstreckte. Wie sich der große Fluss durch die Täler wand, vorbei am großelterlichen Anwesen, an Obstgärten, abschüssigen Weinbergen und Burgen, malerischen Dörfern mit gemütlichen Wirtschaften und Städten mit liebenswerten Menschen darin. Von dort käme Mutter und dort gehöre sie auch hin.

Aber Mutter wollte nicht zurück. »Der Hof ist schon lange nicht mehr meine Heimat. Mein Junge und ich bleiben in Berlin. Hier war Gerhard zu Hause, hier sind wir zu Hause. Du vergeudest deine Zeit mit unnützen Reden, Vater. Ich werde nie wieder an den Rhein zurückkehren«, betonte sie trotzig. Auch wenn es ihr schwerfiel, Großvaters Wunsch auszuschlagen, blieb sie standhaft. Als sie sah, wie verletzt er von ihrer Unnachgiebigkeit war, legte sie beide Arme um seinen Nacken und schaute ihn um Verständnis bittend an. »Ich muss mich doch um Gerhards Grab kümmern, Vater. Wer sollte es denn sonst tun? Und was würde aus Hänschen, wenn er seine Heimat verlöre? Der Junge vermisst seinen Vater, das ist schon genug für ihn. Mehr kann er nicht verkraften«, sagte sie sanft und fügte noch hinzu, dass sich Großvater keine Sorgen machen müsse, da uns die Kriegsrente eine ausreichende materielle Sicherheit bot.

Ich wurde nicht gefragt. Ich sagte aber auch nichts und hätte nichts gesagt, wenn ich gefragt worden wäre. Ich konnte doch nicht wissen, was gut für mich war. Schließlich war ich erst elf. Nach ein paar Tagen reisten meine Großeltern ohne uns ab.

In den Wochen nach Vaters Beerdigung suchte Mutter Trost in meiner Nähe, als betäubte meine Gegenwart ihren Schmerz. Mir kam der Gedanke, dass sie etwas von Vater in mir sah und fühlte, wenn sie mich anschaute oder berührte. In dieser Zeit setzte sie alles daran, nicht völlig aus der Balance zu geraten. Zu sehen, wie sehr sie sich anstrengte, ihren Kummer niederzukämpfen und die Stunden und Tage in eine Gleichmäßigkeit zu gießen, als sei nichts Schlimmes geschehen, war für mich nur schwer zu ertragen. Ständig war sie in Bewegung. Putzte, kochte und verließ gelegentlich das Haus, um mit den zugeteilten Lebensmittelkarten Fleisch, Käse, Butter, Milch und Zucker zu besorgen. Und Marmelade. Ich liebte Marmelade. Erst später begriff ich, dass sie in Bewegung bleiben wollte, um nicht ständig nachdenken zu müssen. Sie ruhte sich erst aus, wenn ich abends nicht einschlafen konnte. Dann kam sie zu mir und blieb so lange auf meiner Bettkante sitzen, bis sie davon überzeugt war, dass ich endlich Schlaf gefunden hatte. Ihre Lippen waren schmal geworden, tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben, sie wirkte hohlwangig und bleicher denn je. Einmal, als ich mich minutenlang in meinem Bett hin und her wälzte, sagte sie: »Frag ruhig, Hänschen. Frag ruhig!« Ich schaute sie erstaunt an. War ich derart durchschaubar für sie? Schließlich nickte ich und fragte, wie sehr sie Vater vermisse und wie sehr es ihr weh tue, dass er nie wiederkommen würde. Aber welche Antwort erhoffte ich mir? Glaubte ich denn ernsthaft, dass sie Vaters Tod schon überwunden hatte? Und das, obwohl ich doch hörte, wie sie nachts von Unruhe gepeinigt die Wohnung verließ, wenn sie glaubte, dass ich schlief. Ich meinte, sie spazierte durch die frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Aber ich irrte mich. Irgendwann später erzählte sie mir, dass sie in diesen Nächten mit der Straßenbahn zum Friedhof fuhr, weil sie einfach nicht aufhören konnte, darüber zu sinnieren, warum Vater nun an einem Platz lag, der keinen gesunden, vor Kraft strotzenden Mann wie ihn hätte aufnehmen dürfen. Wieso er nicht besser aufgepasst hatte. Weshalb er nicht rechtzeitig geschossen und den Feind getötet hatte, bevor dieser ihn tötete. Wie sie mit ihren Zukunftssorgen und ihrer Einsamkeit fertigwerden sollte. Darüber musste sie mit Vater reden. Deshalb besuchte sie ihn. Und weil sie sich nach seiner Nähe sehnte. Stundenlang stand sie im schwachen Schein der Friedhofslaternen an seinem Grab und erzählte ihm allerhand von unserem Leben, ohne Antworten zu erhalten. Manchmal nahm sie ein Tuch aus ihrer Manteltasche, wischte Schmutz und Nässe vom Grabstein und tastete mit den Fingern den Schriftzug seines Namens und die Ziffern seines Geburts- und Todesdatums ab. Sie konnte sich kaum von diesem Ort lösen. Erst wenn ihr Kälte und Feuchtigkeit in die Glieder krochen, der Morgen zu grauen begann und sie sich an mich erinnerte, machte sie sich wieder auf den Heimweg. Und jetzt wollte ich wissen, wie sehr ihr Vater fehlte! Mit einer leichten Bewegung, die ich eher ahnte als spürte, strich sie mir über die Stirn, die Brauen und die Wangen, bevor sie mir eine Antwort ins Ohr flüsterte, die ich bis heute nicht vergessen habe. »Ich fühle mich wie ein Mensch, der unheilbar krank ist, Hänschen. Dieser Mensch weiß, dass er mit seiner Krankheit leben muss. Manchmal quält ihn der Gedanke nur, aber manchmal verzweifelt er geradezu daran. Dennoch kämpft er gegen die Qual und die Verzweiflung an und gibt sich alle Mühe, die Krankheit als Teil seines Lebens zu akzeptieren, da er weiß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt. Auch ich versuche, gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, Hänschen. Verstehst du? Ich versuche, stark zu sein. Weil es einen Grund dafür gibt. Und dieser Grund bist du. Denn du bist hier bei mir.« Sie zog die Knie vor die Brust und umschlang sie wie ein kleines Mädchen. Tränen funkelten in ihren Augen. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie weinte. Das wusste sie. Ich drückte mein Gesicht ins Kissen. Sie stand auf. Ich hörte, wie sie mit kleinen Schritten aus dem Zimmer ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wiederholte den letzten Satz, leise und liebevoll: »Denn du bist hier bei mir.«

Viele Wochen nach Vaters Beerdigung begann der Abschnitt, den ich nach all den Jahren als Mutters zweite Trauerphase bezeichne. Sie veränderte ihr Verhalten und entfernte sich zunehmend von dem, was sie einst ausgemacht hatte. Ständig gegen die Qual und die Verzweiflung anzukämpfen, ließ ihre Kräfte schwinden. Sie ging nur noch vor die Tür, um Lebensmittel zu besorgen. Auch nachts verließ sie die Wohnung nicht mehr. Ihre schnellen Bewegungen erlahmten. Früher hatte ich ihre Leichtigkeit immer bewundert, wenn sie mit nackten Füßen über die knarrenden Dielen unserer Wohnung gehuscht war, flott und graziös, als wäre ihr Körper gewichtslos. Mitunter hatte Vater ihr bewundernde Blicke zugeworfen und sie voller Begeisterung darum gebeten, sich in ihrem schlichten Kleid um die eigene Achse zu drehen, bis sich der Tellerrock aufbauschte und um ihre schlanken Beine flatterte. Mutter lachte herzhaft, während ich auf den Moment wartete, in dem sie zu schweben beginnen würde. Wer sich so schnell drehen konnte, konnte auch fliegen, daran hatte ich geglaubt.

Nun litt ich darunter, dass sie ihre Leichtigkeit verlor und schwerfällig wurde. Zaghaft und grüblerisch. Dass sie plötzlich nur noch mit mir sprach, wenn sie ihre Sorgen um mich äußerte, dies allerdings in einem spitzen Ton, den ich nicht von ihr kannte. An manchen Tagen kam es vor, dass sie sich gleich mehrfach nach meinem Befinden und Verbleib erkundigte, als traute sie meinen Antworten nicht. Deine Wangen sind blass, Hänschen, wirst du etwa krank? Wenn du die Schrippen holst, kehrst du doch ohne Umwege wieder zurück, nicht wahr? Warum brauchst du nur immer so lange, bis du von der Schule nach Hause kommst? Die Fragen spiegelten ihre Befürchtungen wider, noch einen geliebten Menschen zu verlieren, sollte sie nicht gut genug aufpassen. Mich irritierten ihre Sorgen, als habe sie vergessen, dass ich ein vernünftiger, wohlerzogener Junge war, der durch den Tod des Vaters und die Erkenntnis, wie abrupt ein Leben enden konnte, ohnehin vorsichtiger, beinahe ängstlich geworden war. Diese Tage waren schlimm. Aber noch schlimmer waren die Tage, an denen sie lethargisch war und sich kaum noch regte. An denen sie am Esszimmertisch saß und wie entrückt zur Tür schaute, als träumte sie davon, dass Vater jeden Augenblick über die Schwelle treten und sie mit einem Kuss aus ihrer Starre befreien würde. Wenn ich in jenen Stunden neben ihr hockte, über meinen Hausaufgaben brütete und sie um Hilfe bat, verlor sie nie mehr als drei Sätze. Und manchmal, wenn sie mir gar nicht antwortete, wusste ich nicht, ob sie mich überhaupt hörte oder ob ihr nur die Anstrengung zu groß war, sich mit mir und meinen Aufgaben zu beschäftigen. Bisweilen schaute sie mich an, als erkenne sie mich nicht mehr und begreife nicht, dass wir zusammengehörten, woraufhin ich mich rasch zurückzog, aufs Bett legte und stundenlang der Stille in unserer Wohnung lauschte. Es kam vor, dass ich mein Zimmer an einem solchen Tag gar nicht mehr verließ, die ganze Nacht wach blieb und so lange in die Schwärze hinaus sah, bis der Morgen das Fenster mit einem trüben Grauton färbte, an den ich mich nur widerwillig gewöhnte. Er bedeckte die Tage, Wochen und Monate, in denen der Krieg immer heftiger wütete, die Begräbnisse und das Wehklagen der Eltern und Frauen über ihre gefallenen Söhne und Männer zunahmen und schließlich die ersten britischen Bombenangriffe auf Berlin erfolgten. Eine Antwort auf die vielen Attacken der deutschen Luftwaffe auf mehrere englische Städte. Um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, wurden viele meiner Mitschüler aufs Land geschickt. Ein Teil kam bei Verwandten unter, andere verbrachten die nächsten Monate in einem von der Hitlerjugend organisierten Lager in Schlesien. Das Klassenzimmer leerte sich. Ich hatte das Gefühl, zurückgelassen zu werden und wünschte mir insgeheim, mit meinen Freunden gehen zu können. Aber natürlich konnte ich Mutter nicht ohne ihre Einwilligung verlassen. Und sie wollte nicht, dass ich fortging. Als ich sie auf die Landverschickung ansprach, reagierte sie unerwartet schroff. Die Angst, dass ihr dann niemand mehr bliebe, schien übermächtig und riss sie aus ihrer Trägheit. »Einer ist schon gegangen und kam nicht zurück, das passiert mir nicht noch einmal. Wer kann mir denn garantieren, dass du auf dem Land sicherer bist als bei mir in der Stadt? Niemand kann das!« Sie sprach laut und hektisch, als hadere sie mit ihrer Entscheidung und wisse nicht recht, ob sie das Richtige tat. »Und wenn wir doch zu den Großeltern reisen? An den Rhein? Aber nein, auch dort gibt es genügend Städte und Brücken, die zu treffen es sich lohnen würde. Niemand kann wissen, wo die nächsten Bomben fallen. Gerhard würde nicht wollen, dass wir Berlin verlassen.«

Dass die Wohnungsbaugenossenschaft gleich nach den ersten Angriffen einen Luftschutzraum in unserem Hauskeller einrichtete, bestärkte sie in ihrer Meinung, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Indem sie mir erlaubte, zuzusehen, wie die Kellergänge mit leuchtender Farbe gestrichen wurden, was ein Zurechtfinden auch bei Dunkelheit ermöglichen sollte, ein Durchlass in die Kellerwand zum Nachbarhaus gebrochen, die Decke des ausgewählten Raums mit zwei Pfeilern und vertikalen Stützbalken verstärkt, das Fenster zugemauert und die Holztür durch eine Tür aus Stahl ausgetauscht wurde, wollte sie mir zeigen, wie sicher unser Zuhause war. Am Ende des Kellergangs standen von nun an mit Wasser gefüllte Löscheimer und Kisten mit Kerzen, Verbandsmaterial, Hacken, Schaufeln, Sand und Feuerpatschen, deren Anwendung uns Herr Tremmel erläuterte. Er beaufsichtigte die Arbeiten im Keller. Alles sollte ausgeführt werden, wie es die Baugenossenschaft angeordnet hatte. Die Hausbewohner würden wieder ruhiger schlafen, wenn sie wüssten, dass der Kellerraum sie vor den Bomben schützte. Schlimm genug, dass der Feind die Bevölkerung verunsicherte. Aber sich wegen ein paar Bomben gleich in Angst und Schrecken versetzen zu lassen? Niemals! Nur die Ruhe bewahren und abwarten, bis die deutsche Luftwaffe die Kampfkraft der Royal Air Force gänzlich vernichtet hatte. Das könne nicht mehr lange dauern.

Doch Tremmel irrte. Die Kampfkraft der Royal Air Force wurde nicht zerstört. Es folgten weitere Angriffe auf Berlin, die zunächst einmal bis November 1941 andauerten und Mutter zum Handeln zwangen. Sie bereitete sich vor und packte alle wichtigen Papiere und ein paar Kleidungsstücke in einen Koffer, den sie griffbereit neben ihre Schuhe unter die Garderobe stellte. Wenn nun die Alarmsirenen ertönten, die inzwischen überall an höheren Gebäuden angebracht worden waren, verdunkelte sie mit schwarzen Papierrollos und Decken die Fenster, nahm den Koffer und hastete mit mir an der Hand durch das Treppenhaus in den Keller. Im Schutzraum besaß jeder Bewohner einen von Herrn Tremmel zugewiesenen Platz auf einem der abgenutzten Sessel, die in den Keller geschleppt worden waren. Im schummrigen Licht einer einzigen Glühbirne saßen Margarethe neben Ilse und Toni, Mutter zwischen Frau Buchner und mir und Herr Tremmel uns gegenüber. An der Längsseite des Raums hatte der Blockleiter noch Stühle für die Bewohner des Nachbarhauses bereitgestellt, welche durch den großen Zugang in der Kellerwand zu uns kamen. Luise und Alfred Hartmann, ein älteres Ehepaar, das sich immer freute, wenn ich es nett grüßte, sobald wir uns vor den Häusern begegneten. Frau und Herr Schmitt mit ihren beiden Kindern, Kurt und Otto, vier und sechs Jahre alt, und Rudolf Schultze, der seinen linken Arm im ersten Weltkrieg verloren hatte, als sie dem Franzmann vor Verdun eingeheizt hatten. Eine Unachtsamkeit, eine Detonation und wumms, sein Arm sei in tausend Fetzen gerissen worden. Aber letztlich hätte er sich an den Verlust gewöhnt, der eine Arm reiche ihm inzwischen aus, hatte er Mutter vor vielen Jahren erzählt, als sie mich noch zur Schule brachte und wir Herrn Schultze auf dem Weg dorthin trafen. Wir waren spät dran gewesen, weshalb Mutter das Gespräch rasch beendete und sich für ihre Eile entschuldigte, woraufhin Herr Schultze ein wenig mürrisch wirkte. Schließlich war auch er weitergegangen, die Zeitung der Partei, den Völkischen Beobachter, eingeklemmt in seiner verbliebenen Armbeuge.

»Unsere Nachbarn werden in unserem Haus Schutz finden. In ihrem Gebäude gibt es keinen geeigneten Raum. Und der nächste Bunker ist für sie zu weit entfernt. Das Risiko, zu spät zu kommen, vor verschlossenen Türen zu stehen und schutzlos in einen Bombenangriff zu geraten, ist zu groß für sie«, sagte der Blockleiter bei unserer ersten Zusammenkunft im neuen Luftschutzraum, ausgelöst durch ein weiteres nächtliches Sirenengeheul, das uns vor einem erneuten Angriff gewarnt hatte und mir durch Mark und Bein gegangen war.

»Deswegen der Durchlass …«, flüsterte Frau Buchner meiner Mutter zu. »Ja, der Krieg lässt die Menschen enger zusammenrücken.«

Mutter zog eine Braue in die Höhe.

Frau Buchner beugte sich dichter zu ihr und legte die runzligen Hände auf ihre Beine. »Wissen Sie, was gleich passiert?«

»Was meinen Sie?«, fragte Mutter irritiert zurück.

»Gleich kommen die Vorausflieger, das habe ich neulich nachts gesehen. Ich habe am Fenster gestanden und beobachtet, wie diese verfluchten Flugzeuge langsam an Fallschirmen niederschwebende Leuchtbomben abwarfen, die aussahen wie Tannenbäumchen. Weiß, rot und grün leuchtende Zeichen. Unheimlich war das.«

»Leuchtende Zeichen? Tannenbäumchen? Wozu?«

»Ich glaube, damit markieren sie die Ziele für die Bomber, die ihnen folgen …«

Mutter schluckte. Dann hörten wir das Feuer der Flakgeschütze in der Ferne. Die Luft im Raum wurde dicker. Meine Atemwege zogen sich zusammen. Der Geruch nach kaltem Schweiß stieg mir in die Nase. Steif saßen wir da, wie Puppen aus Porzellan. Niemand sagte mehr etwas. Niemand bewegte sich. Auch in jenen Augenblicken nicht, in denen wir das bedrohliche Summen der attackierenden Geschwader und die Explosionen der Bomben vernahmen, die zwar in einiger Entfernung erfolgten, unsere Hauswände dennoch zum Vibrieren brachten. Wir konzentrierten uns auf das Propellergeräusch der Flieger, um herauszuhören, ob sie sich uns näherten, über uns hinweg- oder davonflogen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, wie Ilse nach Tonis Hand griff und diese umschloss. Wie Frau Buchner die Lider zusammenkniff. Wie Frau Schmitt ihre Kinder gequält anlächelte. Erst als eine heftige Explosion irgendwo in unserem Viertel die Stützpfeiler im Keller zum Schwanken brachte, wurde unser Schweigen von Frau Hartmann unterbrochen, die bestürzt zu beten anfing: »Du lieber Gott, schütze uns, bitte, schütze uns! Bitte! Ich flehe dich an, lieber Gott! Wir wollen noch nicht gehen …!« Die Bitte kam unscharf aus ihrem Mund, hastig, nuschelnd, verstört.

»Sei still, Liebes, es ist doch nichts passiert«, forderte ihr Mann sie auf. »Du erschreckst die anderen, die Kinder …«

»Die Kinder … o ja … die Kinder«, murmelte Frau Hartmann verwirrt.

Sie hörte auf ihren Mann und verstummte. Wir lauschten weiter.

Fortan einte dieses Band der Hilflosigkeit und der Furcht unsere kleine Gemeinschaft. Jeder hatte Angst verschüttet zu werden, zu ersticken oder zu verbrennen, während sich draußen immer größer werdende Flammenmeere durch die Stadt fraßen, gefolgt von dicker Asche, die sich auf Häuser und Bäume legte. Und so wurden die vielen Stunden, die wir in den nächsten Monaten und Jahren in unserem Luftschutzraum verbringen sollten, zu weiteren schattigen Grautönen in meinem Leben. So grau und trüb wie die abgedunkelten Straßen in den Abendstunden, wie mein Klassenraum, der auch an bewölkten Vormittagen nicht mehr beleuchtet wurde, und wie Mutters Seele, die ihre Helligkeit in jenen Nächten eingebüßt hatte, in denen sie zum Friedhof gefahren war, um an Vaters Grab zu stehen und mit ihm zu sprechen.

5

1943

Auch wenn ich mich an die Jahre erinnern kann, in denen ich Maria noch nicht kannte, erscheinen sie mir heute nur mehr wie kleine Ausschnitte aus einer Vergangenheit, an die ich mit gemischten Gefühlen zurückdenke. Dessen ungeachtet musste ich meine Geschichte in dieser Zeit beginnen, denn letztlich war sie es, die mich zu jenem Jungen machte, der sein Herz nur allzu bereitwillig einem fremden Mädchen öffnete. Und mich infolgedessen auch zu dem werden ließ, der ich heute bin. Ein Bücherschreiber und geschiedener Ehemann.

Als Maria am 17. Januar 1943, drei Tage nach meinem fünfzehnten Geburtstag, unseren Luftschutzraum betrat und wie selbstverständlich den Platz neben ihrer Großmutter einnahm, begannen wir sofort, einander zu entdecken, jeder auf seine Weise, sie voller Erwartung und ich eher scheu. Sie sah mich an, als wüsste sie genau, dass ich schon bald zu ihr gehören würde. Ich hingegen blickte sie verblüfft und ein wenig verschämt an. Es verwirrte mich, wie mühelos es ihr gelang, Farbe in die Tristesse unseres Kellers zu bringen, wie einfach es für sie war, mich bereits mit ihrem ersten Schritt in meine Welt aufzufordern, sie zu mögen. Es fiel mir nicht schwer, dieser Aufforderung zu folgen. Ich mochte sie auf Anhieb. Sogar sehr. Und spätestens, nachdem sie noch in derselben Nacht an unsere Wohnungstür geklopft und mich ermuntert hatte, mit ihr zu kommen, und wir zum ersten Mal durch die vom Rauch geschwängerten Straßen gelaufen waren, um zu sehen, welche Gebäude brannten, hielt ich jede Stunde, die uns voneinander trennte, für vergeudete Zeit. Von nun an begleitete ich Maria, die anders war als alle anderen Mädchen, denen ich zuvor begegnet war. Sie wirkte um so vieles lebendiger und fröhlicher, ihre Augen konnten lachen, und ihre unverwechselbare Stimme war die eines Engels.

Bis heute weiß ich nicht genau, was sie veranlasste, meine Nähe zu suchen und mich zu ihrem Freund zu machen, der dabei war, wenn sie anderen vorlas, der mit ihr tanzte, wenn ihre Großmutter nicht in der Wohnung war und sie heimlich verbotene Schallplatten auflegte. Und der sie in der schiefen Hütte am See liebte, anfangs noch vorsichtig und unbeholfen, später voller Hingabe, so wie sie geliebt werden wollte. Aber gleichzeitig frage ich mich, ob es überhaupt eine Rolle spielt, weshalb sie mich aussuchte. Ich denke darüber nach. Hätte ich Maria gefragt, hätte sie mich ausgelacht und gesagt, dass es doch nicht wichtig ist, warum man zueinander findet, sondern nur, dass man sich findet.

Und damit hätte sie wohl recht gehabt. Sie hatte fast immer recht.

In der Nacht, in der mein Leben sich endlich wieder zu erhellen begann, rissen mich die Töne für den Voralarm aus dem Schlaf. Lang gezogene Klagelaute, denen niemand entkommen konnte, auch ich nicht. Mutter stürmte in mein Zimmer, um sicherzugehen, dass ich aufstand.

»Komm hoch, mein Junge, komm hoch!«, sagte sie hastig. »Im Radio haben sie wieder Gardelegen erwähnt. Also sind die Bomber auf dem Weg zu uns. Sie werden schon bald hier sein …«

»Gardelegen?«, sagte ich erschrocken. »Wirklich? Gardelegen? Ich beeile mich.« Schon gestern Abend war die Stadt in der südwestlichen Altmark erwähnt worden, bevor die Royal Air Force Berlin nach mehrmonatiger Bombenpause erneut angegriffen hatte. Also wurde es wieder ernst.

Noch müde und mit kleinen Augen kam ich auf die Beine. Draußen auf der Straße rief jemand: »Lichter aus! Macht endlich die verdammten Lichter aus!« Ein Schuss ertönte. Am Himmel streiften grelle Scheinwerferstrahlen entlang. Rasch verhängte ich mein Fenster mit einer Decke und zog die Kleidungsstücke an, die Mutter jeden Abend an mein Bett legte. Derweil verdunkelte sie die anderen Zimmer. Wieder erklang das Geheul der Alarmsirenen. Mal nah und dann wieder fern. Schrille Töne, die anschwollen und wieder abebbten. Uns blieb nicht mehr viel Zeit.

»Komm, Hans, wir müssen runter«, sagte Mutter hektisch. Sie nannte mich nicht mehr Hänschen, nachdem ich sie wiederholt darum gebeten hatte. Mein Körper hatte sich verändert, er war robuster und meine Stimme dunkler geworden. Hänschen passte einfach nicht mehr. Aber das war nicht das Einzige, was sich verändert hatte. Inzwischen gehörte ich nicht mehr zu den Pimpfen, sondern zur Hitlerjugend, was einzig meinem Alter geschuldet war. Obschon mir dieser Aufstieg nichts bedeutete, half er mir, weiterhin mit dem Strom zu schwimmen. Ganz in Mutters Sinne, die darauf achtete, dass wir nicht auffielen. Seit einigen Monaten arbeitete sie als Schwesternhelferin in einem Reservelazarett am Nikolsburger Platz. Zunächst war mir nicht klar gewesen, warum sie sich freiwillig für diesen Dienst gemeldet hatte und fremde Frontsoldaten versorgte. Später verstand ich es. Es war die Sehnsucht, anderen jene Hilfe zu gewähren, die Vater nicht erhalten hatte. Der Wunsch, sich aus der eigenen Betäubung befreien zu können, indem sie half, andere zu narkotisieren, den eigenen Schmerz zu mildern, indem sie die Qualen anderer linderte. Die Arbeit schien ihr gutzutun. Schon bald umgab sie ein Hauch ihrer früheren Leichtigkeit, ein längst verloren geglaubter Glanz kehrte in ihr Gesicht zurück, der sie ein bisschen verjüngte, was mir gefiel. Endlich bewegte sie sich wieder flotter, und wir kamen uns so nah wie in längst vergangenen Tagen, auch wenn ihre Sorgen um mich blieben.

Während draußen das nervöse Geschützfeuer der Flak einsetzte, verließen wir die Wohnung und hetzten durch das düstere Treppenhaus. Ich trug den Koffer mit den Papieren und Kleidungsstücken. Hinter uns vernahm ich Schritte. Frau Buchner? Herr Tremmel? Ich drehte mich nicht um. Im Keller holten wir Margarethe und Ilse ein. Margarethe führte ihre blinde Schwester durch die Gänge. Toni war nicht bei ihnen. Er war vor über einem Jahr eingezogen worden und kämpfte an der Ostfront. Seitdem brachte Ilse eine dunkelbraune Schatulle mit in den Schutzraum, wenn der Alarm einsetzte, der sich zuletzt oft als Fehlalarm erwiesen hatte, ein schönes Holzkästchen mit bemalten Goldornamenten an den Seiten und einem herzförmigen Glasausschnitt im Deckel. Die meisten hatten es gesehen, aber niemand fragte danach. Ich vermute, dass Margarethe ihr gegenüber einmal die verstohlenen Blicke erwähnte, denn eines Nachts sagte Ilse zu uns: »In dieser Schatulle bewahre ich die Briefe meines Mannes auf. Toni schreibt mir sooft er kann. Es geht ihm gut. Er lässt Sie grüßen.« Sie streichelte ihrer Schwester über die Knie. »Margarethe liest mir die Briefe vor.«

Auch jetzt hatte sie das Kästchen wieder dabei. Nachdem sie Platz genommen hatte, legte sie es in ihren Schoß und hielt es mit beiden Händen fest. Mutter und ich saßen bereits. Den Koffer hatte ich vor meinen Sessel gestellt. In griffbereiter Nähe. Seit einiger Zeit befanden sich nur wenige Schritte von uns entfernt Behälter mit Wasserflaschen, aus denen wir tranken, wenn das Warten zu lang und der Durst zu groß wurde, mit Tüchern, die wir bei großen Erschütterungen befeuchten und vor den Mund halten sollten, um uns beim Einatmen vor Kalk und Staub zu schützen, und mit Atemschutzmasken, die wir nur im Falle eines Gasangriffs überziehen würden, da wir Angst hatten, dass die Gummibänder bei einem Brand mit unserer Haut verklebten. Wir waren angespannt, wie jedes Mal, wenn wir hier unten zusammenkamen. Längst machten schaurige Geschichten die Runde, sie wurden von einem Ohr ins nächste geraunt, leise, damit Kurt und Otto Schmitt, die beiden Jungs, nichts mitbekamen. Es waren Geschichten über die jüngsten massiven Luftangriffe auf Hamburg und das Ruhrgebiet, Geschichten über Menschen, die wie brennende Fackeln auf die Straßen gelaufen, deren Lungen durch die Wucht der Explosionen zerfetzt worden oder die auf entsetzliche Weise im Löschwasser ertrunken waren. Herrn Tremmel missfiel es, wenn wir uns darüber austauschten, was auch uns zustoßen könne. Der Blockleiter, der mittlerweile zusätzlich die Funktion des Luftschutzwartes ausübte, wollte vermeiden, dass die Stimmung dadurch getrübt wurde, weil jemand etwas aussprach, das seinen Parolen entgegenwirkte. Daher bevorzugte er es, vom eindrucksvollen Zusammenhalt der vielen Schicksalsgemeinschaften im Reich, von den zahlreichen Fehlwürfen der Tommys und den enormen Erfolgen der deutschen Abfangjäger zu berichten. Mit dem didaktischen Ton eines Mannes, der es gewohnt war, dass man ihm zuhörte, schilderte er Heldentaten wie jene, die sich am Palmsonntag vergangenen Jahres in Lübeck ereignet haben sollte. Nach einem schweren Luftangriff hatten dort drei Frauen alle Wohnungen ihres Hauses kontrolliert und schließlich zwei Brandbomben im Dachgeschoss entdeckt. Ohne zu zögern, hatten sie ihre Blusen ausgezogen, sie um ihre Hände und Unterarme gewickelt und die Bomben zum Fenster hinausgeworfen, damit sie auf dem Kopfsteinpflaster explodieren konnten, ohne jemanden zu verletzen. Brennende Teile seien über die Straße geflogen, weißlicher Dampf habe die Luft erfüllt. Bei dem Fund habe es sich um Phosphorbomben gehandelt. Niemand im Raum wusste, ob Herr Tremmel seine Geschichten nur erfand und erzählte, was ihm in diesem Augenblick einfiel, oder ob er Teile davon gehört hatte und weitere Details hinzufügte, um sie größer erscheinen zu lassen. Er beteuerte stets, alles sei so geschehen, alles sei wahr und nichts erfunden.

Ob er wohl im Laufe der nächsten Stunden wieder über heldenhafte Taten zu berichten wusste? Über einen deutschen Piloten, der den Feind reihenweise vom Himmel schoss? Über einen der Männer an den Flakgeschützen, der sich bis zur völligen Erschöpfung den fliegenden Stahlmonstern entgegenstellte und für uns sein Leben riskierte?

Nachdem er gemeinsam mit den Bewohnern des Nachbarhauses eingetroffen war, sah er ungeduldig in den Kellergang, um nach Frau Buchner Ausschau zu halten. Er konnte die Stahltür erst verschließen, wenn sich alle im Schutzraum befanden. Als die alte Frau endlich eintraf, beschimpfte er sie und wollte wissen, warum sie erst jetzt kam. Sie murmelte einige entschuldigende Worte, huschte an ihm vorbei und schaute über ihre Schulter. Ich folgte ihrem Blick. Sie war nicht allein gekommen. Nach ihr betrat eine schmale Gestalt den Raum, eine Erscheinung wie in einem Traum, die mein Herz schneller schlagen ließ und die ich sofort wiederzuerkennen glaubte. Mir wurde warm. Ich konnte gar nicht fassen, was ich sah. Bildete mir ein, meine Augen würden mir einen Streich spielen und glotzte das zierliche Mädchen verstohlen an, wie es dastand, bekleidet mit dunklen Stiefeln, einem blauen Rock und einem gefütterten Wintermantel, aufrecht und mit hochgerecktem Hals, als wäre es nicht zum ersten Mal hier und kenne die Menschen im Raum und die Gepflogenheiten, denen sie sich bedingungslos unterwarfen, wenn die Sirenen sie unter die Erde scheuchten. Ich dachte darüber nach, wie lange der letzte Badeausflug mit meinen Eltern nun schon zurücklag. Es war kurz vor Kriegsbeginn gewesen, also waren seit jenem Tag schon über drei Jahre vergangen. Hatte ich anfangs auch noch einige Gedanken an meine flüchtige Begegnung von damals verschwendet, verblassten diese jedoch im Laufe der Zeit. Aber in diesem Moment wurde die Erinnerung an sie erneut lebendig. Die helle Haut, die heublonden Haare, die über ihre Schultern fielen, und die Konturen schlanker Arme und Beine – sie stand hier, vor mir, ganz bestimmt, nur war sie jetzt viel schöner als damals. Sie hatte ihre Pausbäckigkeit verloren, ihre Kindlichkeit. Als sie meine Blicke bemerkte, sah sie mich herausfordernd an, mit Augen, so grün und tief, dass ich glaubte, in ihnen versinken zu müssen. Ich lächelte unbeholfen. Ich war nicht der Einzige, der sie anschaute. Bis auf Frau Buchner und Ilse musterten sie alle. An ihrer Stelle wäre ich im Erdboden versunken, aber sie schien überhaupt nicht verlegen und begegnete der Aufmerksamkeit mit der Andeutung eines Lächelns, bei dem sie die Oberlippe nur ganz leicht hochzog.

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