Kitabı oku: «Mörder im Hansaviertel», sayfa 2

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Barbara nahm die Teekanne – Tee! Auch vor einigen Jahren noch unvorstellbar gewesen! – und ging von der Küche durch den langen Flur ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch lagen die Ordner, die sie mitgenommen hatte, und daneben das Schulterhalfter mit der SFP9. Bis vor einem Jahr hatte Barbara noch eine P6 von SIG Sauer gehabt, eine Modellvariante aus der SIG-Serie P220, die bei der Polizei Mecklenburg-Vorpommerns auch noch im Einsatz war, aber nicht mehr neu vergeben und nach und nach durch die Selbstladepistole von Heckler & Koch ersetzt wurde. Sie lag dort, wo sie eigentlich nicht liegen durfte. Es war Vorschrift, dass Polizeibeamte im Dienst eine Waffe trugen, und die morgige Fahrt nach Biendorf war ein dienstlicher Einsatz. Die Pistole mit nach Hause zu nehmen, war nur in Ausnahmefällen und auf Weisung des Dienststellenleiters gestattet, die Hauptkommissarin hätte sie also in ihr Waffenfach einschließen und am kommenden Morgen in der Ulmenstraße abholen müssen. Dazu hatte sie nicht die geringste Lust, also verstieß sie einmal mehr gegen die Dienstvorschrift. Bisher war es eigenartiger Weise noch niemandem aufgefallen, obwohl sich doch jeder Kollege fragen musste, wie es möglich war, dass sie mit einer Waffe unterwegs sein konnte, die sie gar nicht abgeholt hatte.

Schmunzelnd schlug Barbara Riedbiester den ersten Ordner der Hauptakte auf. So richtig motiviert war sie nicht und hätte viel lieber in dem Buch geschmökert, dass ihr Uplegger empfohlen hatte. Genauer gesagt, hatte er eine Empfehlung seiner Kerstin weitergeleitet. Auch die Ostsee-Zeitung hatte es gelobt. »Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft«, so lautete der Titel, und ein aus Rostock stammender Soziologe hatte es verfasst.

Barbara würde es später lesen, an einem freien Tag. Der Biendorfer Waldmord hatte Vorrang. ›Am 18. Juli 2007 hatte die Krankenschwester …‹ Ihr Telefon intonierte die ersten Takte von »Lady Greensleeves«, ihr Klingelton seit Anno Krug. Wahrscheinlich rief Claudia an, um etwas fürs nächste Wochenende zu verabreden. Gutgelaunt zog sie ihr iPhone unter der Akte hervor. Als sie die Nummer des Anrufers erkannte, verdüsterte sich ihre Miene. Der Feierabend, der ohnehin kein richtiger geworden wäre, war vorbei.

Jonas Uplegger war von Kerstins geradezu überbordendem Appetit überrascht worden: Sie hatte nicht nur eine scharfe mexikanische Suppe und ein 400-Gramm-T-Bone-Steak haben wollen, sondern verlangte sogar noch ein Dessert, während er sich mit Spareribs begnügt hatte. Eigentlich war er nicht geizig, aber er sah eine Rechnung auf sich zukommen, die einen Betrag um die 70 Euro ausweisen würde, und das fand er dann doch happig; das »Viehfutter«, das er eigentlich fürs Abendessen vorgesehen hatte, war nur mit 9,23 Euro zu Buche geschlagen.

Er schmunzelte. Barbara Riedbiester, die im Kommissariat immer noch Dampframme genannt wurde, obwohl sie in beachtlichem Umfang abgespeckt hatte, würde vermutlich sagen: »Kollege Uplegger, auch bei Ihnen klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung eklatant auseinander. Sie halten sich für freigebig. Andere finden Sie geizig.« Wahrscheinlich hätte sie damit recht. Seine Selbstwahrnehmung stammte aus der Vorzeit. Er war wohl wirklich immer sparsamer geworden, oder eben immer geiziger. Und hatte jetzt sogar einen Vorwand: Er müsse sparen für das Kind.

Noch etwas anderes stimmte, nämlich dass man mit zunehmendem Alter eigentümliche Wesenszüge annahm. Im nächsten Jahr würde er 52 werden, aber es zeigten sich schon erste Anzeichen einer Marotte: Jeden Abend bilanzierte er den Inhalt seines Portemonnaies. Während seine Kollegin vor einiger Zeit begonnen hatte, Geld beinahe suchthaft auszugeben, war er dazu übergegangen, bei jeder größeren Anschaffung eine Pro-und-Kontra-Liste aufzustellen. Er war ohne Zweifel auf dem Weg zum Geizhals und beschloss aus therapeutischen Gründen, noch so viel zu bestellen, dass die Rechnung wenigstens 100 Euro betragen würde. »Möchtest du noch etwas?«, erkundigte er sich.

Kerstin schüttelte heftig den Kopf. »Ich platze gleich«, sagte sie.

Er nahm ihre Hände. »Das kannst du mir nicht antun!«

»Aber hier ist der beste Ort dafür. Es gibt Personal, das saubermacht.«

»Ach«, seufzte Uplegger, der die Anspielung genau verstand. Seine zweite Marotte war ein Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel, der auch immer schlimmer wurde. Neuerdings legte er das Druckerpapier auf Kante, was Barbara veranlasst hatte, einen Satz mit dem Wort »Zwangsstörung« vor sich hin zu murmeln.

Sein Mobiltelefon gab den grässlichen Rufton der Werkseinstellung von sich – von seiner Kollegin als »jenseits der Beschreibbarkeit« qualifiziert. Er hatte ihn nur deshalb nicht geändert, weil sie sich über den Lärm ärgerte. Ohne auf das Display zu schauen, nahm er den Anruf entgegen.

Keine fünf Minuten später hatte er gezahlt.

Zweites Kapitel
In der Nacht von Mittwoch, 23. Juni, zu Donnerstag, 24. Juni

Der Große Bahnhof in der ruhigen, um nicht zu sagen weltabgeschiedenen Schliemannstraße hatte einen Publikumsauflauf verursacht. Hauptkommissarin Riedbiester, die zunächst im Sunset Orange zur Polizeiinspektion gefahren war und dann den Katzensprung in die Schliemannstraße mit Uplegger in einem Dienstwagen zurückgelegt hatte, schätzte die Zahl der Schaulustigen, die von Blaulicht und Sirenengeheul angezogen worden waren, auf etwa 30, darunter etliche Kinder. Viele hielten ihr Smartphone in die Höhe, um das Ereignis für die Nachwelt festzuhalten und für die Mitwelt zu posten. Das Lichtspiel der beleuchteten Displays erinnerte an ein Popkonzert.

Dieser Teil des Hansaviertels war eigentlich so etwas wie eine feinere Gegend, aber Sensationslust war dem Menschen eigen, unabhängig von Einkommen und Bildungsgrad. Dem Publikum wurde aber auch einiges geboten, wobei das Aufregendste sicher die beiden silber-blauen Kastenwagen mit der Aufschrift Kriminaltechnik und die Außerirdischen in ihren Kontaminationsschutzanzügen waren, die, in weiße Overalls gehüllt und mit blauen Plastikpuschen an den Füßen, ihre Pistolen vorschriftsmäßig an dunklen Gürteln trugen und Koffer in ein Einfamilienhaus schleppten. Das war Fernsehen live. Weniger Beachtung fand hingegen ein etwas abseits abgestelltes Fahrzeug, das zwar die Farben der Polizeifahrzeuge trug, jedoch mit Gerichtsmedizin beschriftet war, eine Institution, die neben Neugierde auch Schauder und sogar Ekel erregte. Die beiden Leichenträger standen neben ihrem noch geschlossenen Fahrzeug, hatten ihre Mund-Nasen-Bedeckung bis zum Hals herabgezogen und rauchten. Barbara kannte keinen Mitarbeiter der unteren Ebene des Rechtsmedizinischen Instituts, der nicht am Glimmstängel hing, und die Fahrer und Träger sahen allesamt wie – gewesene oder aktive – Alkoholiker aus. Das galt im Übrigen auch für manche Ärzte, die den Fachbereich Forensische Alkohologie ziemlich weit auslegten.

Uplegger lenkte den Mercedes vor dem Absperrband an den Straßenrand. Es wimmelte von Kollegen in Uniform, die den Ort sicherten oder einfach nur herumstanden, während andere im Licht greller Strahler auf dem Grundstück unterwegs waren und es Quadratzentimeter für Quadratzentimeter nach Spuren absuchten – so sollte es jedenfalls sein, aber mitunter war das graue Theorie. Barbara und Uplegger hatten schon so manche unqualifizierte Tatortaufnahme erlebt, bei der beispielsweise der Zentimeter sehr großzügig ausgelegt worden war und in den Dezi-, wenn nicht gar in den Meterbereich ragte. Und leider gab es auch immer wieder Kriminaltechniker, die Spuren nicht sicherten, sondern zerstörten, etwa weil sie einen Kater hatten oder keine Lust.

Von der Mordkommission war zunächst niemand zu sehen. Das änderte sich jedoch, nachdem Barbara und Uplegger ausgestiegen und ein paar Schritte näher an die Grundstückszufahrt getreten waren: Dort versammelte sich die Blüte der Rostocker Kriminalistik, wie die Kommissarin gern sagte, nicht ganz ohne ironischen Unterton. Die Kollegen bildeten einen regelrechten Pulk, niemand beachtete die AHA-Regeln. Den Mittelpunkt bildete Gunnar Wendel, der Chef, dem vor vielen Jahren der unpassende und ungerechte Spitzname »Der Mann ohne Eigenschaften« verpasst worden war, der nun an ihm klebte wie Pech. Wendel war auf dem Absprung in die Pension und würde sich am Jahresende für immer auf seine »Ranch« in Lübberstorf bei Neukloster zurückziehen. Er hatte vor, dort, in dem eigens ausgebauten Bauernhaus, seinen glücklichen Lebensabend zu verbringen, was ihm keiner verdenken konnte – nur eben: Lübberstorf. Dort gab es um die 200 Einwohner, drei denkmalgeschützte Bauernhäuser und ein paar Ferienwohnungen sowie zwei Magistralen mit den originellen Namen Haupt- und Dorfstraße. Allerdings war der Neuklostersee nicht weit, und der Chef freute sich schon auf Angelpartien im Morgennebel. Barbara Riedbiester bezweifelte, dass er den Ruhestand ertragen würde.

Links vom ihm stand, ein Klemmbrett unterm Arm, sein Stellvertreter Breithaupt, der auch einen Spitznamen hatte: Kofferträger. Dass Wendel den Dienst beenden würde, stand schon eine Weile fest, und natürlich befasste man sich im Kommissariat, wenn nicht in der gesamten Kriminalpolizei, mit der Frage seines Nachfolgers. »Oder seiner Nachfolgerin«, wie Ann-Kathrin Hölzel nicht müde wurde zu betonen. Hölzel, seit drei Monaten Oberkommissarin, hatte den Platz rechts neben dem Chef inne und sprach etwas in ein Diktiergerät. Peter Breithaupt als zweiter Mann des Kommissariats hatte in gewisser Weise einen Anspruch auf den Posten, aber er war ein Mann von geringen Ambitionen und sicher nicht mehr auf einen Karrieresprung erpicht: Er würde in drei Jahren in Pension gehen. Wahrscheinlich würde man jemanden von außerhalb holen, vielleicht einen dieser gutausgebildeten Digital-Autisten der jungen Generation. Hölzel meinte zwar gelegentlich, Barbara Riedbiester solle es machen, aber sie würde den Teufel tun. Außerdem würden weder der Chef der Kripo noch der Polizeipräsident je auf die Idee kommen, Hauptkommissarin Riedbiester könne die Mordkommission leiten. Das Einzige, was toll war an diesem Job, das war die Kohle: Mit diesem Geld könnte sie aus Sunset Orange eine Rakete machen, die arabische Clanbrüder vor Neid erblassen ließe.

Etwas abseits, die Arme vor der Brust verschränkt und in ein Gespräch mit Krüger vom KDD vertieft, stand die Neue. Ramona Brinkhart war aus Niedersachsen nach Mecklenburg gekommen: Sie war in einem Barbara vollkommen unbekannten Nordseebad namens Dangast zur Welt gekommen, hatte bis vor anderthalb Jahren bei der Zentralen Kriminalinspektion der Polizeidirektion Oldenburg gearbeitet, wollte aber unbedingt wieder in eine Stadt am Meer, also hatte sie sich um eine polizeiintern ausgeschriebene Stelle bei der Rostocker Kriminalpolizeiinspektion beworben. Sie hatte, oh Wunder, eine Wohnung in Warnemünde bezogen, in der Fritz-Reuter-Straße, war also so nahe am Meer wie in ihrer Kindheit und anscheinend wirklich glücklich. Natürlich gab es einen Wermutstropfen. Ihr Mann, ein Straßenbauingenieur, hatte noch keinen Job in Rostock oder Umgebung gefunden, und so pendelten die Eheleute an den Wochenenden zwischen Oldenburg und Warnemünde hin und her.

Barbara und Uplegger näherten sich der kleinen Gruppe, und die Kommissarin bat den Chef, sie kurz und knapp auf den Stand der Dinge zu bringen. Es war ein Ehepaar getötet worden, das wusste sie schon, ein Ehepaar namens Klaas. Und es war eindeutig ein Tötungsverbrechen. So war es schon vom KDD eingeschätzt worden, und das hatte sich inzwischen als korrekt erwiesen.

Gunnar Wendel deutete auf Breithaupt, der einen Blick aufs Klemmbrett warf, obwohl er die wichtigsten Umstände sicher im Kopf hatte.

»Dorothee und Michael Klaas, sie 53 und er 51, also zirka zwei Jahre jünger.«

Das hatte Barbara auch sofort ausrechnen können, aber sie schwieg.

»Sie sind im Keller ihres Wohnhauses getötet worden. Beide mit einem Kopfschuss. Ein paar Sofakissen wurden als Schalldämpfer benutzt. Sieht wie eine Hinrichtung aus.«

Ann-Kathrin Hölzel ergänzte: »Auf dem Boden neben den Geschädigten wurde eine Jagdflinte gefunden, die als mögliche Tatwaffe in Betracht kommt.«

»Eine Beretta Bockdoppelflinte, Modell 686«, sagte Wendel. »So ein Ding kostet mehr als 2000 Euro.«

»Kein Pappenstiel«, bemerkte Barbara.

»Die größte Besonderheit der Tat ist allerdings der Umstand, dass die Eheleute Klaas gefoltert wurden«, sagte Ann-Kathrin Hölzel.

Uplegger riss die Augen auf: »Was wurden sie?«

»Gefoltert.«

»Beide weisen Folterspuren auf«, sagte Krüger vom KDD, der sich gemeinsam mit Ramona Brinkhart zu der Gruppe gesellt hatte. »Sie wurden geschlagen. Außerdem wurden ihnen tiefe Ritzwunden zugefügt, wahrscheinlich mit einer zerschlagenen Weinflasche. Eine solche lag neben dem Mann.«

»Puh«, machte Barbara. »Wo sind die Auffindungszeugen?«

Die zwei Auffindungszeuginnen hatten sich in die Reihenhaushälfte zurückgezogen, die an das Grundstück der Familie Klaas grenzte. Als sich Hauptkommissarin Riedbiester zu ihnen auf den Weg machte, kannte sie ihre Namen; es handelte sich um eine sehr betagte Frau namens Hagemeister, die Besitzerin der Haushälfte, sowie eine gewisse Annalena Meissner, eine Frau mittleren Alters und nach eigenen Angaben die beste Freundin der geschädigten Dorothee Klaas. An der 1. Erweiterten Oberschule, die von Barbara in grauer Vorzeit besucht worden war und an der sie ein mäßiges Abitur hingeschustert hatte, hatte es damals eine Lehrerin namens Hagemeister gegeben, die Deutsch, Russisch und Latein unterrichtet hatte. Barbara hatte sie zwei Jahre in Deutsch gehabt und in der 11. sowie der 12. Klasse in Latein, ein sogenanntes wahlobligatorisches Fach, dass nur die Schüler ernstgenommen hatten, die Medizin studieren wollten. Nur an eine Grausamkeit der lateinischen Grammatik konnte sich Barbara noch erinnern, an den berühmt-berüchtigten Accusativus cum infinitivo, den nur Masochisten liebevoll AcI abkürzten. Aber diese Frau Hagemeister musste längst tot sein.

Barbara betätigte die Türglocke neben dem Namensschild. Es dauerte keine zwei Minuten, dann wurde die Tür geöffnet. Eine etwas gebeugte, grauhaarige Frau in einem dunkelblauen Hauskleid schaute sie mit sehr ernstem Gesichtsausdruck an.

Sie war es. Barbara erkannte sie sofort, trotz des fortgeschrittenen Alters. Das war ihre ehemalige Lehrerin.

Und auch sie schien Barbara zu erkennen. Davon sprach etwas in ihrem Mienenspiel, eine kaum merkliche Bewegung der Brauen, ein Fragezeichen im Blick.

»Frau Hagemeister!«, rief Barbara und verbarg die Überraschung nicht.

»Sie waren meine Schülerin«, konstatierte die Angesprochene mit einer leichten Unsicherheit in der Stimme. »Ach … Barbara? Sie heißen Barbara?«

Barbara nickte. »Sie haben ein gutes Gedächtnis, Frau Hagemeister!«

»Vor allem in Bezug auf lange Zurückliegendes. Aber so ist das im Alter. Sie sind wohl bei der Kriminalpolizei gelandet?«

»Gelandet? Das ist ein schönes Wort dafür«, erwiderte Barbara mit einem flüchtigen Lächeln. »Leider habe ich wenig Zeit für einen Plausch …«

»Ich verstehe. Bitte, kommen Sie herein!«

Die Kommissarin trat ein. Nachdem Liselotte Hagemeister die Tür geschlossen hatte, stellte Barbara sofort fest, dass es nicht nach alter Frau roch. Vielleicht wurde jenes charakteristische Aroma von den vermutlich indischen Wohlgerüchen überlagert, die durch eine halbgeöffnete Tür in die kleine Diele strömten.

Frau Hagemeister schob diese Tür weiter auf und lud ihren Gast mit einer Handbewegung zum Nähertreten ein.

Der Raum, den Barbara vor der Gastgeberin betrat, war unzweifelhaft das Wohnzimmer. Sie nahm die Einrichtung ganz schnell auf Kriminalistenart, also in Uhrzeigerrichtung wahr: links eine Schrankwand aus DDR-Produktion, vis-à-vis eine Fensterfront mit Tür zur Terrasse, rechts deckenhohe Bücherregale, im Zentrum eine Sitzgarnitur, die aus vier um einen Glastisch herum gruppierten Sesseln im Bauhausstil bestand, in einem dieser Sessel eine totenbleiche Frau. Sie hatte rotgeweinte Augen und hielt ein Taschentuch auf dem Schoß. Barbara schätzte sie auf Anfang 50.

»Guten A… guten Morgen«, grüßte sie. »Mein Name ist Riedbiester. Kriminalpolizei.«

»Ach, ja, Riedbiester«, flüsterte Frau Hagemeister in ihrem Rücken.

»Sie sind Frau Meissner?«

Die Frau machte Anstalten aufzustehen, sie war aber vom Schock zu sehr geschwächt und ließ sich wieder in den Sessel sinken.

»Annalena Meissner«, bestätigte sie leise. Erneut rannen Tränen. »Ich bin eine Freundin von Dorothee.«

Barbara nickte. Auf dem Glastisch standen ein paar farbige Teelichter, die den Duft verbreiteten, den sie inzwischen ein wenig übelerregend fand.

»Wollen Sie sich nicht setzen?«, fragte Frau Hagemeister. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, vielen Dank!« Barbara nahm in einem der Sessel gegenüber der Freundin Platz. Frau Hagemeister schickte sich an, einen dritten Sessel zu okkupieren, doch die Hauptkommissarin sah sie mit aufgesetzt bedauernder Miene an. »Es ist natürlich sehr unhöflich von mir, aber ich muss mit jeder von Ihnen getrennt sprechen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Sie sich gegenseitig beeinflussen. Nicht absichtlich, natürlich. Aber ich kann mit Frau Meissner …«

»Nein, nein!« Frau Hagemeister machte eine abwehrende Geste. »Ich verstehe das. Sie finden mich in der Küche.« Ohne viel Federlesen verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Aber es war Barbara Riedbiester nicht entgangen, dass sie beleidigt war.

Zur Gruppe vor dem Haus hatte sich Dr. Joachim Geldschläger vom Rechtsmedizinischen Institut gesellt, der mit wichtiger Miene die Ergebnisse seiner Leichenschau referierte. Geldschläger war seit zwei Jahren Privatdozent, und Uplegger teilte Riedbiesters Meinung, dass er seitdem die Nase so hoch trage, es müsse in die Nasenlöcher hineinregnen. In Hinsicht auf ihre Behauptung, ein Privatdozent sei eigentlich kein richtiger Dozent, war er jedoch anderer Meinung.

Weitgehende Übereinstimmung bestand zwischen ihnen hingegen in Bezug auf den jungen Staatsanwalt Michael Bormann, der auch am Ort des Geschehens aufgetaucht war und sich an Kommissariatsleiter Gunnar Wendel geradezu anschmiegte: Bormann war ein Karrierist. Barbara fand, dass bereits seine Haartolle, die Schweinsäuglein und der fette Hals den rücksichtslosen Aufsteiger verrieten, Uplegger war nicht so radikal und vermochte auch keine Schweinsäuglein zu entdecken. Außerdem hielt er, auch hierin von seiner Kollegin abweichend, nicht alle Staatsanwälte für Karrieristen.

»Zunächst deuten zahlreiche Hämatome am Körper beider Personen auf Prellungen hin«, sagte Dr. Geldschläger. »Ich erlaube mir zu vermuten, dass sie die Treppe zum Keller hinuntergestoßen wurden – zumindest wäre es eine Möglichkeit. Dann wurden sie von den Tätern übel zugerichtet.«

»Wie viele Täter mindestens?«, wollte Wendel wissen.

»Mindestens zwei. Eher drei bis vier. Wenn es nur zwei waren, müssen sie sehr kräftig sein. – Weiter im Text: Sie wurden geschlagen. Die Täter haben einen Gegenstand benutzt, den sie im Haus vorgefunden haben. Das Ehepaar scheint ja Kunst gesammelt zu haben …« Der Privatdozent räusperte sich. »Das Schlaginstrument, wenn ich es so nennen darf, lag keine 80 Zentimeter von der weiblichen Leiche entfernt und hatte Blutanhaftungen. Es handelt sich um eine Skulptur.« Er räusperte sich abermals und zog einen Zettel aus der Jackentasche. »Eine 90 Zentimeter messende massive Bronzeskulptur mit dem Titel ›Diaphragmatisches Rumpfstück‹ von John Hengst-Brueback aus Ahrenshoop.« Nun seufzte er.

»Wie war noch mal der Titel?«, fragte KDD-Mann Krüger nicht ohne Süffisanz.

Geldschläger kam um eine Antwort herum, weil Staatsanwalt Bormann Krüger ins Wort fiel und wissen wollte, ob sich Dr. Geldschläger mit einheimischer Kunst auskenne.

»Nein«, entgegnete der Gerichtsmediziner pikiert. »Das stand alles auf der Bodenplatte der Skulptur. – Wollen wir jetzt eine Kunstdebatte führen oder darf ich fortfahren?«

»Bitte fortfahren!«, sagte Gunnar Wendel.

»Um das Ehepaar zu quälen, haben die Täter den Hals einer Weinflasche der Marke … tja …« Geldschläger blickte etwas unschlüssig auf seinen Zettel. »Schlah…tina? Also es schreibt sich am Anfang mit so einem Z mit einem umgekehrten Dach drauf …«

»Ein Hatschek«, platzte Uplegger heraus und hätte sich sofort auf die Lippen beißen mögen, denn Geldschläger konnte seit seinem universitären Aufstieg keine Menschen ertragen, die etwas wussten, was er nicht kannte.

»Meinetwegen so etwas«, sagte er aufgebracht. »Hatschek oder wie auch immer. Es scheint jedenfalls ein jugoslawischer Wein zu sein. – Jajaja, Herr Kollege, ich weiß: Jugoslawien gibt es nicht mehr. – Die Täter haben den Hals der Flasche abgeschlagen und den Geschädigten damit tiefe Ritzwunden beigebracht. Zu diesem Zweck haben sie beiden zunächst den Oberkörper entblößt. Die Details erfahren Sie aus meinem Bericht nach der Obduktion.«

»Der erste Eindruck war also richtig«, bemerkte Ann-Kathrin Hölzel.

»Welcher erste Eindruck?«

»Dass sie gefoltert wurden.«

»Kann man so sagen«, meinte Dr. Geldschläger und steckte seinen Zettel ein.

Annalena Meissner, die 54 Jahre alt war und im Labor des Instituts für Ostseefischerei arbeitete, war zutiefst verstört und wurde während des Gesprächs immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt. Barbara hatte ihr zugesichert, diese Erstbefragung diene nur einem ersten Eindruck und würde daher vielleicht eine Viertel-, höchstens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen; erst an einem der folgenden Tage müsse sie zu einer Vernehmung in der Ulmenstraße erscheinen.

Meissner hatte den Schlüssel zum Haus erhalten, um die Pflanzen zu gießen, aber auch, um den Briefkasten zu leeren, die Post auf der Flurgarderobe zu deponieren und allgemein nach dem Rechten zu schauen. Einmal in der Woche sollte sie den Rasen sprengen und sich auch um die Gartenpflanzen kümmern. Das war sozusagen ein Liebesdienst um Gotteslohn, allerdings brachten ihr die Klaas’sens immer einen Karton sehr guten Weins und ein riesiges Stück luftgetrockneten Schinken aus Istrien mit. Auch kümmerten sie sich um ihre Wohnung, wenn Annalena Urlaub machte. Allerdings gab es in dieser Hinsicht einen auffälligen Unterschied: Das Ehepaar verbrachte oft ein Vierteljahr an der Adria, während Meissner nie länger als drei Wochen verreiste.

»Und sie fahren immer nach Kroatien?«, erkundigte sich Barbara.

»Seit Jahren. Dorothee … sie hat damals noch im Kulturhistorischen Museum gearbeitet, bevor sie sich dann selbstständig machte.«

»Was macht sie denn beruflich?«

»Sie arbeitet als Kunsthistorikerin, Kunsthändlerin und Kuratorin. Freiberuflich. Wenn Sie Zeitung lesen, müssen Sie ihren Namen eigentlich kennen, denn gerade in der letzten Zeit war sie viel in der Presse. Sogar im Fernsehen. Im Nordmagazin habe ich sie mindestens zweimal gesehen.« Annalena Meissner kamen die Tränen und sie nestelte ein frisches Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, mit dem sie sich über die Augen fuhr. »Zum 55. Jubiläum der Städtepartnerschaft zwischen Rostock und Rijeka hat sie die Ausstellung in der Kunsthalle organisiert. Oder kuratiert, so heißt das wohl.«

Barbara wusste augenblicklich, wovon die Frau sprach, obwohl sie die Ausstellung nicht gesehen hatte und auch keinen Grund sah, diesen Mangel zu beheben. In der Ostsee-Zeitung hatte man Bilder gezeigt, auf deren Anblick sie gern verzichtete. »Der Titel ist ›Rostock 55 Rijeka‹, nicht wahr?«

Annalena Meissner nickte. »Es gibt auch eine Parallelausstellung in Rijeka. Die heißt ›Rijeka 55 Rostock‹. Dorothee präsentiert …« – ein kurzes Aufstöhnen – »Dorothee hat dort Künstler aus Mecklenburg-Vorpommern präsentiert. Und hier bei uns natürlich Künstler aus Rijeka. Wobei, es geht ja um eine Partnerschaft … also es hängen immer Werke von Gästen und Einheimischen zusammen in den Ausstellungen.«

»Verstehe. Ich muss Sie leider bitten, mir so genau wie möglich zu beschreiben, was heute Abend passiert ist. Aber zuvor möchte ich noch wissen, woher Sie Frau Klaas und natürlich auch ihren Mann kennen.«

Meissner nickte und wischte sich noch einmal über das Gesicht. »Wissen Sie, ich habe meine ganze Kindheit und Jugend in Reutershagen verbracht. Wir haben in der Kuphalstraße gewohnt, also direkt am Schwanenteich. Wie weit mag es zur Kunsthalle gewesen sein? Fünf-, sechshundert Meter? Aber, ich muss es zugeben, meine Eltern hatten einen sehr eingeschränkten Horizont. Obwohl mein Vater Ingenieur war und meine Mutter Ökonomie studiert hatte.«

Eigentlich war jetzt nicht die Zeit für Annalena Meissners Lebensgeschichte, doch Barbara schwieg in der Hoffnung, etwas Relevantes zu erfahren.

»Mein Vater hat auf der Neptunwerft gearbeitet, allerdings nicht für die Werft selbst, sondern für die dortige Außenstelle der Schiffswerft Rechlin. Sie haben Rettungsboote entworfen, Rettungsmittel für die Seefahrt überhaupt. Meine Mutter war im VEB Schiffselektronik, zuletzt war sie Abteilungsleiterin. Beides gehörte ja zum Kombinat Schiffbau und … Verzeihung, ich will nicht abschweifen.« Meissner klaubte ein weiteres Papiertaschentuch aus der Tasche, behielt es aber nur in der Hand. »Sie sind studierte Menschen … beide leben noch, im PflegeWohnPark Kühlungsborn … Ja, studierte Leute, aber ihre Interessen beschränkten sich auf Wohnung, Garten, Datsche und Lada. Dieses Auto, Sie wissen sicher? Und nach der Wende? Nur noch Reisen! ›Wir müssen ja was nachholen‹, haben sie gesagt und sind jedes Jahr an die spanischen Mittelmeerküsten gefahren, an Orte, an denen man Deutsch spricht. Sie wissen weniger über Spanien als ich, die ich nur einmal für eine Woche in Sevilla gewesen bin.«

Nun war sie doch wieder abgeschweift, was Barbara mit einem Zusammenziehen der Brauen quittierte.

Meissner begriff sofort. »Kurz und gut, ich bin nie in der Kunsthalle gewesen. Aber dann … Es ist Jahre her … Ich habe eine Bekannte, wir waren früher an der Heinrich-Schütz-Schule, und sie arbeitete damals im Rathaus. Unter diesem Oberbürgermeister, wissen Sie, für den sich Kultur auf Windjammerparaden, Bier und Bockwurst reduzierte. So hat das jedenfalls Dorothee ausgedrückt. Da wollte wohl die Stadtverwaltung aus der Kunsthalle ein Autohaus machen. Und da endlich habe ich mir gesagt: Das geht nicht! So kann man mit einer Kultureinrichtung nicht umgehen! Als gäbe es nicht genug Autohäuser. Warum werfen wir die Rostocker Filetstücke immer nur schmierigen Typen in den Rachen? Nee! Und ich bin Mitglied im Förderverein ›Freunde der Kunsthalle‹ geworden. Keinen Tag habe ich diesen Schritt bedauert.«

»Und dort …«, fragte die nun doch etwas enervierte Barbara, »dort haben Sie Frau Klaas kennengelernt?«

»Ja. Und später auch ihn. Also den Mann. Michael. Er ist inzwischen auch Mitglied.«

Der Chef der Spurensicherung, Manfred Pentzien, bat zu Tisch. So nannte er es, wenn er ausgewählten Mitarbeitern der Mordkommission gestattete, einen Tatort näher in Augenschein zu nehmen. Bisher war das Haus der Familie Klaas allein sein Reich gewesen, nun war er bereit, sein Herrschaftswissen zu teilen.

Es war Uplegger, der den Chef Gunnar Wendel ins Haus begleitete. Zunächst betraten sie einen Flur, der mit den üblichen Möbeln zum Aufbewahren von Garderobe und Schuhen aussah wie die meisten Flure der Welt. Ungewöhnlich war die weiße Wandgarderobe, die aus einzelnen braunen Sticks bestand, die man vorklappen konnte, um Kleidungsstücke aufzuhängen. Im Kontrast zu diesem modernen Stück stand das barocke Tischchen, dessen Schublade herausgerissen worden war. Der Inhalt lag auf dem Boden zerstreut und bestand aus mehreren Schlüsselbunden, einem Paar roter Lederhandschuhe für Damen, ein paar Quittungen und Werbebriefen. Über dem Tischchen hingen zwei Stiche, die ältere Ansichten der See- und Hansestadt Rostock zeigten. Im Schuhregal, das auch neueren Datums war, standen die Schuhe so ordentlich aufgereiht, als erwarte man jederzeit die Stubenrevision eines Oberfeldwebels. Im Schirmständer befanden sich keine Schirme, sondern drei Paar Fußballschuhe unterschiedlicher Größe, doch auf jeden Fall für ein Kind bestimmt. Die Schuhe hatten einiges durchgemacht, von dem Kind wusste Uplegger noch nichts.

»Hatten sie Kinder?«, erkundigte er sich. Seine Frage war an beide Chefs gerichtet.

»Mindestens eins, denn die Mansarde ist eindeutig ein Kinderzimmer«, erwiderte Pentzien. »Ein Jungenzimmer, wenn es politisch korrekt ist, es so zu nennen. Ohne Gendersternchen und so. Hansa-Plakate an den Wänden, ein Hansa-Wimpel steht im Regal und ein Hansa-Schal hängt am Fensterknauf.«

»Es könnte ja auch ein Mädchen sein, das sich für Fußball interessiert«, meinte Uplegger.

»Mädchen haben mehr Bücher«, behauptete Pentzien.

»Sie haben drei Kinder«, ließ Gunnar Wendel verlauten. »Eine Tochter, zwei Söhne. Der älteste Sohn und die Tochter sind meines Wissens schon aus dem Haus. Es muss das Zimmer des Jüngsten sein.«

»Voilà!« Pentzien stieß eine Tür auf und wies in einen Raum, der hell erleuchtet war, weil seine Leute alle Lampen eingeschaltet hatten. Seine Geste gemahnte an einen Immobilienmakler.

Was Uplegger neben der unbeschreiblichen Unordnung und neben der jungen Frau im weißen Overall als Erstes auffiel, waren die teuren Möbel im Bauhausstil. Zweifellos handelte es sich um Repliken, aber auch diese waren teuer. Da Upleggers verstorbene Ehefrau als Designerin ihr Geld verdient hatte, kannte er sich ein wenig aus und erkannte das nougatfarbene Sofa und die beiden dazu passenden Sessel als Werke von Le Corbusier. Für die drei Stücke hatte man bestimmt mehrere Tausender hinblättern müssen. Im Übrigen war das große, zum Garten hin gelegene Zimmer minimalistisch eingerichtet, vermutlich damit die drei Gemälde an den weißen Wänden den Raumeindruck bestimmen konnten. Doch alles, was es sonst noch gab, hatte zumindest einmal an der Wand des Bauhauses gelehnt – der Esstisch mit den sechs Armlehnstühlen, die niedrigen kommodenartigen Schränke, die beiden schlanken Bücherregale. Auf einer der Kommoden stand ein großer Flachbildfernseher, daneben ein Hi-Fi-Tower von Bose. ›Von wem auch sonst‹, dachte Uplegger und ein leises Neidgefühl krampfte sein Herz zusammen. So einen Tower hätte auch er gern sein Eigen genannt.

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