Kitabı oku: «Mörder im Hansaviertel», sayfa 4
Drittes Kapitel
Donnerstag, 24. Juni, vormittags
Barbara Riedbiester hatte bereits Sodbrennen vom Kaffee, trotzdem machte sich die durchwachte Nacht in einem leichten Druck hinter den Schläfen und einer gewissen emotionalen Trägheit bemerkbar, die nur durch eine große Erschütterung oder durch Schlaf korrigiert werden konnte. An Schlaf war nicht zu denken: Seit einer halben Stunde zog sie mit Jonas Uplegger eine erste Zwischenbilanz. Nach wie vor hatte sich an der Feststellung der KTU nichts geändert, dass es keinerlei Einbruchspuren an dem Haus gäbe, die Opfer ihren Mördern also die Tür geöffnet haben mussten.
»Sie können auch den Schlüssel gehabt haben«, bemerkte Uplegger.
»Zwei Schlüssel«, brummte Barbara, deren Blick immer mal wieder auf ein Blatt Papier fiel. Sie hatte es nicht lassen können und sich einen Satz aus dem Kroatisch-Lehrbuch abgeschrieben: Večera je izvrsna. Fünf aufeinanderfolgende Konsonanten im Adverb – das war unglaublich! Und wie sie auf einer Übersicht der Kriminaltechnik gelesen hatte, hieß der Weißwein, dessen Flasche die Täter zum Folterwerkzeug umfunktioniert hatten, Žlahtina, stammte aus Vrbnik auf Krk und bot noch mehr Anlass für etwas, das Barbara in einer der zurückliegenden Stunden Sprachgrusel getauft hatte. »Allerdings«, überlegte sie, »könnten sie diese Schlüssel von Annalena Meissner haben. Entweder ist sie in die Tat involviert, was ich mir zwar nicht vorstellen kann, aber wir kennen ja die berühmten Pferde, die mit dem Rezept im Maul vor der Apotheke … Sie wissen schon!«
»Kotzen.«
»Oder reihern.«
»Pferde, die reihern? Klasse!«
Ohne auf die Bemerkung einzugehen, spann die Kommissarin den Gedanken fort: »Es können aber auch Personen aus dem Kollegen- oder Freundeskreis sein, die sich die Schlüssel beschafft haben und Duplikate anfertigen ließen. Wobei diese Art von Sicherheitsschlüssel nur bei der Firma dupliziert werden kann, die das Schloss eingebaut hat. Da sollten wir nachhaken.«
»Sie können auch einen Spezialisten haben, der so etwas illegal macht.«
»Ja, alles möglich.« Barbara notierte trotzdem auf ihrer Todo-Liste, sich um die Schlosserfirma zu kümmern. Darüber hinaus musste das Umfeld von Annalena Meissner durchleuchtet werden. »Was hat das Klinkenputzen ergeben?«
»Bisher wenig.« Uplegger blätterte sich durch die Aktennotizen von informellen Befragungen in der Nachbarschaft. »Die Leute, die im unmittelbar angrenzenden Haus in der Schliemannstraße wohnen, sind verreist. In den gegenüberliegenden Häusern hat man nur bemerkt, dass die Außenjalousien zur Straße heruntergelassen worden waren – wenn man überhaupt etwas bemerkt hat. Auf den in der Einfahrt stehenden Van hat niemand geachtet. Warum auch? Warum sollte so ein Wagen nicht in der Einfahrt stehen? Auf die Frage nach fremden Fahrzeugen in der Straße will eine Frau Hollmann am Sonntagabend den Kastenwagen einer Installationsfirma gesehen haben, allerdings drei Häuser weiter in Richtung Laurembergstraße.«
›Laurembergstraße‹, dachte Barbara. Lauremberg, das war auch ein Personenname, so wie Maßmann. Auch hier wusste sie nicht, welche Verdienste dieser Lauremberg auf dem Konto hatte. Allerdings glaubte sie, irgendwo gehört oder gelesen zu haben, dass es sich um einen Dichter handele.
»Sie hat an einen Rohrbruch gedacht oder an etwas in dieser Richtung«, setzte Uplegger fort. »Jedenfalls hat sie sonst nichts von Bedeutung gesehen. Und ihr Mann auch nicht. Keiner in der Schliemannstraße. Aber es konnte noch nicht mit allen gesprochen werden. Einen Rohrbruch hat es nach derzeitigem Stand nirgends gegeben.«
»Sitzen die Leute an einem lauen Sonntagabend nicht in ihren Gärten?«
»Ja, aber die Gärten gehen alle nach hinten«, erwiderte Jonas Uplegger. »Mit anderen Worten: Von den an die Parkstraße grenzenden Grundstücken hätte man durchaus etwas sehen können. Und einige haben angegeben, ihnen sei aufgefallen, dass beinahe die ganze Nacht Licht in dem Haus gebrannt hat. In allen Räumen.«
»Trotz der im Erdgeschoss herabgelassenen Jalousien?«
»Man sah das Licht durch die Ritzen.«
»Ach?« Barbara klopfte mit ihrem Stift auf die Tischplatte. »So gute Beobachter, dass sie durch Ritzen fallendes Licht bemerken? Dann müssen sie auch die Schüsse gehört haben.«
»Alle bisher Befragten sagen ›Nein‹!«
»Okay.« Barbara fuhr sich mit dem Stift über die rechte Schläfe. »Wir müssen das nachstellen. Nicht heute und nicht morgen, aber bald. Sofakissen sind ja keine professionellen Schalldämpfer, und auch wenn die Tat im Keller verübt wurde … Ich kann mir nicht vorstellen, dass draußen wirklich nichts zu hören war.«
Die Öffnungszeiten der Galerie Art’s Art hatte Barbara Riedbiester über Google Maps in Erfahrung gebracht, und nach einem kurzen Anruf wusste sie, dass Dorothee Klaas eine Angestellte oder vielleicht auch nur eine Praktikantin beschäftigt hatte, die am Alten Markt auf Kundschaft wartete. Zunächst hatte die Kommissarin sie fernmündlich vorladen wollen, dann jedoch spontan beschlossen, die junge Frau namens Carola Sinzig aufzusuchen. Das war sowieso erforderlich, da die Galerie bis zur kriminaltechnischen Untersuchung geschlossen und versiegelt werden musste, also konnte Barbara die informelle Befragung, einen Blick auf Dorothees Klaas’ Arbeitsplatz und das Schließen der Kunsthandlung in einem Aufwasch erledigen.
Bevor Hauptkommissarin Barbara Riedbiester aufgebrochen war, hatten Ann-Kathrin Hölzel und Ramona Brinkhart in ihrem Büro vorbeigeschaut, und irgendwie war das Gespräch von den dienstlichen Obliegenheiten abgeglitten zu der Frage, welche berühmten Kroaten man kenne. Ramona Brinkhart war bekennender Fußballfan, wobei ihr Herz nicht für eine norddeutsche Mannschaft schlug, sondern für Borussia Dortmund. Sie brachte die meisten bekannten Kroaten ein, allesamt Fußballer wie Luka Modrić, Ivan Rakitić oder Mario Mandžukić, deren Namen schon an Barbara vorbeigeweht waren, wobei alle diese auf »ić« endenden Namen erneut einen leichten Sprachgrusel bei ihr auslösten. Auch berühmte Tennisspieler wie Goran Ivanišević und Ivan Ljubičić kamen hinzu, während die Bilanz auf der geistigen Ebene mit Null nicht eben glänzend ausfiel. Jonas Uplegger brachte wenigstens noch eine Künstlerin namens Marina Abramović ins Spiel, von der sonst niemand je gehört hatte. Sie sollte eine international renommierte Performance-Künstlerin sein, was Barbara Riedbiester zu der unqualifizierten Bemerkung veranlasst hatte, Performance sei ja auch nur eine Art von Sport, nämlich Turnsport. Uplegger hatte sie gegoogelt. Sie war Serbin. Nein, diese Kroaten waren wohl herausragend im Sport, aber auf intellektueller Ebene schien nicht viel zu laufen, wobei dieser Eindruck in der germanischen Ignoranz begründet sein durfte. Barbara, die gern von sich behauptete, sie sei der einzige komplett vorurteilsfreie Mensch der Welt, wusste, dass sie ein ganzes Paket Vorurteile mit sich herumschleppte. An der Spitze ihrer Charts stand die Auffassung, Berufskraftfahrer seien die dümmsten Männer der Nation.
Barbara, die sich vom Navi durch das Gewirr von Einbahnstraßen in der östlichen Altstadt dirigieren ließ, bog mit Schwung von der Gruben- in die Hartestraße. Es war dann noch die Frage aufgekommen, ob es überhaupt Kroaten in Rostock gäbe, denn keiner kannte einen. Sie hatte es auf sich genommen, dies rasch zu recherchieren, da sie schon einmal aus rein privatem Interesse hatte herausfinden wollen, wie viele Ausländer in Rostock lebten, also die tatsächliche, nicht die gefühlte Zahl. Bereits nach zwei, drei Minuten hatte sie ihren Kollegen die Daten von Ende 2017 verkünden können: 95 Kroaten waren mit Hauptwohnsitz in Rostock registriert. Das war nun wahrlich eine überschaubare Kohorte. Uplegger hatte es sich nicht nehmen lassen, diese Zahl in Prozenten auszudrücken, wobei er von 200000 Einwohnern ausging. Es waren weniger als 0,05 %. Mit anderen Worten: weniger als ein halbes Promille. Ob sich unter ihnen welche befanden, die man eigentlich kennen müsste, Sportler bei Hansa oder Empor? Niemand wusste es. Durch die Wollenweberstraße und den Amberg war Barbara Riedbiester in die Altschmiedestraße gelangt, wobei ihr wieder einmal bewusst wurde, was für schöne Namen das waren. In der Altschmiedestraße ungefähr in der Mitte zwischen Sackpfeife und Diebsstraße stellte sie ihren Wagen ab, denn hier befand sich die Galerie. ›Diebsstraße, Sackpfeife‹, dachte Barbara – man müsste sich eigentlich auch einmal mit den Rostocker Straßennamen und ihren Ursprüngen befassen, denn das war sicher interessant. Allerdings wusste sie dank der Polizeipsychologin und auch aus eigener Erfahrung, dass Vorsätze, in denen die Wörter »man« und »eigentlich« vorkamen, nie ausgeführt wurden.
Die Galerie Art’s Art hatte zwei große Schaufenster, auf die mit einer weißen Schablonenschrift die aktuellen Ausstellungen aufgetragen waren:
Pastor & Franke ›Das Schwanken der Utopien‹ 16.4.–19.9.
Vuk Kovačić Dubrovnik ›Aquarelle‹ 19.3.–19.9.
›Ländliche Miniaturen des 19. Jahrhunderts aus Pommern‹ 4.6.–10.10.
Dies war also die zuletzt eröffnete Ausstellung, und seit der Vernissage waren erst drei Wochen vergangen.
Der Name Pastor bereitete Barbara ein leichtes Unbehagen, aber sie war nicht gekommen, um sich der Kunst zu widmen. Sie blickte auf ihre Armbanduhr: Die Galerie hätte vor sieben Minuten geöffnet werden sollen, aber ein mit zittriger Handschrift verfasster Zettel an der Tür wies darauf hin, dass sie wegen einer Familienangelegenheit für einige Zeit geschlossen bleiben würde. ›Wegen einer Familienangelegenheit‹, dachte Barbara anerkennend, das hatte Sinzig geschickt formuliert. Man ahnte natürlich einen Krankheits- oder Todesfall, aber nicht, dass es die Inhaberin getroffen hatte. Pietät und Diskretion waren im Kunsthandel sicher unerlässlich.
Barbara drückte die Klinke, doch die Tür war verschlossen. Sie wollte schon an die Glasscheibe klopfen, aber sie war bereits bemerkt worden, und eine auffallend große und sehr schlanke Frau kam aus einem hinteren Raum an die Tür. Dass sie jung sein musste, hatte die Kommissarin bereits an ihrer Stimme erkannt. Sie trug eine Jeans mit kunstvoll eingearbeiteten Flecken und Rissen, flache schwarze Turnschuhe an den für eine Frau extrem großen Füßen und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift Art’s Art auf der Brust. Um den langen Hals hatte sie ein buntes Tuch geschlungen. Das Haar war blond und zu einem Zopf gebunden. Als sie aufschloss entdeckte Barbara die vom Weinen geröteten Augen. Die Tür wurde aufgetan. »Sie sind die Frau von der Kriminalpolizei?«
Barbara nickte.
»Ried…?«
»…biester.«
Carola Sinzig trat zur Seite, um die Hauptkommissarin einlassen zu können.
Diese betrat den ersten Raum, dessen Wände weiß gestrichen waren. Das Schwanken der Utopien stand neben der Tür zum nächsten Raum, dessen Wände in Zitronengelb erstrahlten. Mehr konnte Barbara nicht sehen.
»Es ist alles … es ist so …« Die junge Frau schluchzte.
»Schrecklich«, half Barbara. Sie überflog die schwankenden Utopien, wobei ihr zunächst nur zwei Riesenformate ins Auge fielen, die sich sofort als Werke der Schwaanerin Penelope Pastor zu erkennen gaben. Auf die ungrundierten Leinwände hatte die Künstlerin breite Streifen in knalligem Schwarz, Rot und Gold aufgetragen, einmal horizontal und einmal vertikal. Und sie hatte auch die Titel aufgebracht, die Buchstaben ebenfalls in den wechselnden Nationalfarben: Beyond Utopia I und Beyond Utopia II. Wahrscheinlich brauchte man englische Titel, um auf dem Kunstmarkt außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns Erfolg zu haben.
Die kleineren Formate ähnelten einem der Bilder, die Barbara Riedbiester im häuslichen Arbeitszimmer – dem Homeoffice – von Dorothee Klaas gesehen hatte. Auf blauem Hintergrund war mit Goldschrift ein Text aufgetragen. Nur einen vermochte sie zu lesen:
ICCIP
Social MEDIA Seriously HARMS Your Mental HEALTH. MEDIAHARMSHEALTH.
Andy Picci
Die Buchstaben aus dem Nachnamen des zitierten Künstlers in umgekehrter Reihenfolge an den Anfang zu setzen, schien eine Marotte dieses Herrn Franke zu sein. Sie war nicht sicher, ob sie von ihm schon mal gehört hatte.
»Wollen Sie sich zunächst umsehen?«, erkundigte sich Carola Sinzig.
»Nein, nein.« Barbara bekräftigte das Gesagte mit einem Kopfschütteln. »Ich muss Ihnen einige wichtige Fragen stellen …«
»Dann kommen Sie doch bitte mit!« Sie ging in den nächsten Raum, den zitronengelben.
Die Ermittlerin folgte. Hier hingen die Landschaften, alles Kleinformate in altmodischen Rahmen, mit Bauernhäusern, Äckern, weidenden Kühen – ein Ambiente zum Wohlfühlen. Jedenfalls für Barbara, die daran erkannte, dass sie auch altmodisch war.
Im gelben Raum gab es Sitzmöglichkeiten. An einem kleinen antiken Schreibtisch mit Intarsien schien die Aufsicht zu sitzen, denn es lagen nicht nur Papiere auf der Tischplatte, sondern dort stand auch ein aufgeklappter Laptop. Darüber hinaus gab es zwei kleine runde Tische, umgeben von je drei modernen grauen Ledersesseln. Auf den Tischen standen Vasen mit Papierblumensträußen, außerdem lag dort Material über die Galerie und die Ausstellungen.
Barbara setzte sich und nahm einen Flyer zur Hand, schaute jedoch auf Carola Sinzig, die in einem Sessel seitlich von ihr Platz nahm. »Ich würde Ihnen vorab ein paar Fragen zur Person stellen«, sagte die Kommissarin, öffnete ihre Handtasche und zog einen DIN-A5-Schreibblock heraus.
»Ja«, sagte ihr Gegenüber nur.
Barbara schlug den Notizblock auf. Stifte hatte sie in der Innentasche ihrer Kostümjacke, und zwar immer mehrere. »Sie heißen Carola Sinzig und sind wann geboren?«
»Müssen Sie mich nicht belehren?«
»Wie?«
»Im Fernsehen. Sie haben das Recht zu schweigen …«
»Ach, verstehe.« Barbara lächelte. »Sie meinen die Miranda Warning. ›You have the right to remain silent and refuse to answer questions. Anything you say may be used against you in a court of law.‹ Und so weiter? Die gibt es in Deutschland nicht.«
»Aber ich habe das doch in irgendeinem ›Tatort‹ oder ›Polizeiruf‹ gesehen!«
Barbara nickte. »Ich gucke nur sehr selten Krimis und ich lese auch kaum welche. Aber jedes Mal könnte ich mich darüber aufregen, dass die Fernsehautoren nicht recherchieren. Auch sie haben ihre Kenntnisse nur aus amerikanischen Serien. Nein, Frau Sinzig, dies ist eine sogenannte informatorische Befragung. Ich muss Sie nicht über Ihre Rechte und Pflichten belehren. Erst bei einer Zeugenvernehmung. Oder wenn Sie in den Beschuldigtenstatus wechseln.« In Barbaras Augen blitzte es gefährlich.
Sinzig sah es und wurde noch bleicher.
»Das wird bei Ihnen ja kaum der Fall sein …«
Carola Sinzig richtete sich auf. »Natürlich nicht.«
»Natürlich nicht«, wiederholte Barbara. »Seien Sie also so gut und sagen Sie mir bitte Ihr Geburtsdatum, Anschrift und Beruf.«
Etwas mehr als zweieinhalb Stunden hatte Jonas Uplegger am Telefon und in verschiedenen Datenbanken sowie über persönlichen Papieren verbracht und hatte nun ein ungefähres Bild der beiden Menschen, die im juristischen Kauderwelsch als »Geschädigte« bezeichnet wurden, wobei der Schaden bei Dorothee und Michael Klaas als kapital bezeichnet werden durfte. Vor allem war es darum gegangen, die nächsten Angehörigen zu ermitteln, denen durch die Polizei vor Ort die Todesnachricht zu überbringen war, außerdem waren die Verwandten natürlich auch für die Ermittlungen von Bedeutung. Uplegger warf einen Blick auf seine Liste. Zunächst waren da Dorothees Eltern, die als Rentner in Dömitz lebten, jener Kleinstadt an der Elbe, die jeder gute Mecklenburger kennen sollte, hatte doch der mecklenburgische Nationaldichter Fritz Reuter hier seine »Festungstid« verbracht. Beide Eltern waren dort geboren, auch Dorothee hatte in Dömitz das Licht der Welt erblickt. Eine Kommissarin Loewig von der Polizeistation, in deren Stimme ein enormes Mitgefühl mitschwang, hatte versprochen, die Eltern umgehend über ihren Verlust in Kenntnis zu setzen. Herrmann und Barbara Kopplow – so hießen sie – waren offenbar in der ganzen Stadt bekannt, da sie sich im kulturellen Leben zu engagieren schienen.
Uplegger machte eine Randnotiz auf der Liste. Die kriminalpolizeiliche Befragung der Eltern würde im Kriminalkommissariat Ludwigslust stattfinden, und er würde noch einen Fragenkatalog erstellen müssen, damit die Kollegen wüssten, was die Rostocker vor allem interessierte. Wobei die Eltern natürlich äußerst wichtige Zeugen waren, vielleicht würde er auch selbst zu ihnen fahren.
Uplegger schaute auf den Bildschirm seines PCs. Vom zuständigen Ortsamt hatte er sich die Meldeunterlagen übermitteln lassen, was ihm die Möglichkeit verschaffte, den ermordeten Eheleuten Klaas in die Augen zu sehen. Bei Dorothee betrachtete er ein zehn Jahre altes biometrisches Passfoto, das ihres Mannes war zwei Jahre jünger. Frau Klaas war seinerzeit 43 gewesen, sah aber etwas älter aus, weil sie sehr angespannt in die Kamera geblickt hatte und es ihr augenscheinlich schwergefallen war, auch nur das kleinste Lächeln hinzubekommen. Sie hatte ihr blondes Haar sehr kurz getragen und dadurch beinahe jungenhaft gewirkt; der Blick aus grünlich-blauen Augen war kühl und etwas besorgt. Das Auffälligste waren die ausgeprägten Falten um die Mundpartie, die man Marionetten- oder Merkelfalten nannte. In ihren Unterlagen hatte Uplegger noch weitere Aufnahmen jüngeren Datums gefunden. Die Frisur hatte sich nicht geändert, allerdings war das Haar komplett silbergrau – was es auch 2011 schon gewesen sein konnte –, das Blond ein Werk der Coiffure. Immer war der Blick kühl und streng. Nur einmal sah man ein Lächeln – es war so angestrengt und falsch, wie ein Lächeln nur sein konnte.
Aus einer in ihrem Schreibtisch sichergestellten Mappe hatte Uplegger den Lebensweg von Dorothee Klaas, geborene Kopplow, recht gut rekonstruieren können. Sie hatte ab 1974 die Polytechnische Oberschule in Dömitz besucht, die, wenig überraschend, den Namen Fritz Reuters getragen hatte. In der 9. Klasse war sie an die Goethe-Oberschule gewechselt, die Erweiterte Oberschule in Ludwigslust, wo sie 1986 ein Abitur mit Auszeichnung abgelegt hatte. Dorothee Kopplow war eine glänzende Schülerin gewesen. Und sie musste schon in jungen Jahren eine Sammlerin gewesen sein, denn sie hatte alles aufgehoben: die Zeugnisse seit der 1. Klasse, alle möglichen Urkunden, vor allem für gutes Lernen in der sozialistischen Schule und über den Erwerb des Abzeichens für gutes Wissen, ihre Pionierausweise und den Ausweis der FDJ, darüber hinaus auch sämtliche Studienunterlagen. Im Herbst 1986 hatte sie begonnen, Kunstgeschichte an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald zu studieren, wie sie damals noch hieß. Die politische Wende erlebte sie in Greifswald, wo sie ihr Studium 1991 mit einem Diplom abschloss. Ihre Diplomarbeit hatte sie über einen Mecklenburger Maler namens Carl Malchin geschrieben, von dem Uplegger schon etwas gehört oder auch gelesen hatte, ja womöglich hatte er sogar bereits Bilder von ihm gesehen. Der Titel der Arbeit lautete: »Der Einfluss der Freiluftmalerei der Schule von Barbizon auf das Werk von Carl Malchin (1838–1923)«. Ihr Betreuer war ein Professor Nikolaus Zaske gewesen, der offenbar 1990 in den Ruhestand getreten war, sich ihrer Arbeit jedoch noch bis zum Abschluss angenommen hatte. Überraschenderweise war sie nur mit einem »Ausreichend« beurteilt worden. Das verstand Uplegger nicht. Wie war es möglich, dass die hervorragende Schülerin und ausgezeichnete Studentin ihre Diplomarbeit beinahe verhauen hatte? Was war 1990 oder 1991 geschehen? Hatte es mit der Wende zu tun? War plötzlich politisches Engagement wichtiger geworden als das Studium? Oder war vielleicht die große Liebe in ihr Leben getreten? Solche Fragen beantworteten die nüchternen Dokumente nicht.
Barbara Riedbiester hatte sich von einem Vorurteil kurieren lassen müssen: Carola Sinzig war keineswegs eine ausgebeutete Praktikantin, sondern sie war fest angestellt, wenn es sich auch nur um eine halbe Stelle handelte. Aber genau eine solche Beschäftigung hatte sie haben wollen, nachdem sie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder Kulturgeschichte studiert hatte, in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war und an einer Doktorarbeit schrieb, für die sie Zeit brauchte. Barbara konnte sich nicht erinnern, schon einmal davon gehört zu haben, dass es im Ost-Frankfurt eine Universität gab. Als Carola Sinzig jedoch den Namen von deren ehemaliger Präsidentin, Gesine Schwan, ins Rennen warf, fiel ihr wieder ein, dass sie doch von ihr wusste. Der Name, so hatte Carola ihr erklärt, sei abgeleitet von dem lateinischen Viadrus, dem Namen der Oder und ihres Flussgottes; auch habe die erste Brandenburgische Landesuniversität, deren Betrieb Anfang des 19. Jahrhunderts eingestellt worden war, ebenfalls Viadrina geheißen.
Carola schrieb nun also über die Jakobswege in Nordeuropa eine Dissertation, ein Thema, das Barbara nicht vom Hocker riss, und arbeitete drei Tage in der Woche bei Art’s Art als eine Art Assistentin der Geschäftsleitung, wobei in diesem Fall die Geschäftsleitung aus nur einer Person bestand. Sie war also nicht bloß eine Aufsichtskraft, sondern erledigte anspruchs- und verantwortungsvolle Aufgaben, wie sie es ausdrückte. Praktikantinnen und Praktikanten wurden allerdings auch beschäftigt, oder Aushilfen, oft Oberschüler, die mit einem oder sogar keinem Euro einverstanden waren, da sie vor allem etwas lernen wollten.
Dorothee Klaas sei eine gute Arbeitgeberin, die ihr viel Entscheidungsfreiheit lasse, hatte Carola Sinzig behauptet. Sie habe sehr viel um die Ohren und lasse sich daher nur ab und zu in der Galerie blicken, aber jeden Donnerstagnachmittag gäbe es eine Dienstbesprechung mit allen Beschäftigten, wobei sie immer Kaffee und Kuchen spendiere. Carola sprach von ihrer Chefin noch in der Gegenwart, und Barbara korrigierte sie nicht.
»Und Frau Klaas trat niemals arrogant auf?«, wollte sie wissen. »Nicht einmal gegenüber den Hilfskräften?«
»Nein.« Carola schüttelte vehement den Kopf. »Sie war sehr um aktives Teambuilding bemüht. Alle sollten sich wohlfühlen. Zufriedene Angestellte sind wichtig fürs Geschäft.«
»Noch wichtiger fürs Geschäft sind natürlich Kunden«, bemerkte Barbara. »Wie lief’s denn so?«
Carola Sinzigs Miene gefror zu Eis. »Darüber weiß ich nichts!«
»Aber wenn Sie hier Dienst hatten, haben sie doch bemerkt, wie viele Kunden kamen, oder?«
»Es gab natürlich gute und es gab schlechte Tage. Manchmal ließ sich überhaupt niemand sehen, aber das kommt vor in Galerien. Übrigens auch in Museen. Corona bedeutete natürlich auch einen herben Einbruch. Außerdem ist die Kunst, die Frau Klaas vertritt, nicht jedermanns Sache. Die vorpommerschen Landschaften sind auch eine Konzession an den Massengeschmack. Im Übrigen werden die Geschäfte nicht nur in der Galerie gemacht, sondern auch auf Auktionen und Kunstmessen. Glauben Sie mir, eine erfolgreiche Galeristin sitzt nicht den ganzen Tag in ihrer Galerie und lackiert sich die Nägel, sondern sie ist ständig auf Achse.«
»Wo war Frau Klaas vor allem unterwegs?«
»Sie hat ja einige hiesige Künstler vertreten …« Nun war doch der Sprung zum Perfekt gelungen.
»Unter anderem Penelope Pastor«, sagte Barbara mit etwas säuerlicher Miene.
»Sie kennen sie?«
»Ich hatte vor Jahren persönlich das Vergnügen.«
»Frau Klaas hat gern engen Kontakt zu den von ihr vertretenen Künstlern unterhalten und sie öfter mal in ihren Ateliers besucht. Sie war viel in Osteuropa und in Südosteuropa, weil sie sich auf dortige Künstler spezialisiert hatte. Polen, Ukraine, Slowakei und einige Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Sie war aber auch auf der Art Basel und der Art Cologne, der Brafa Art Fair in Brüssel und so weiter … Kunsthändler ist mehr als ein Fulltimejob, es ist eine Berufung.«
»Aber sie hat neben diesem Fulltimejob noch andere Fulltimejobs geschafft? Sie war doch auch Kuratorin und … da war noch was …«
»Sie hatte mal für zwei oder drei Jahre einen Lehrauftrag an der Uni. Für das Fach Kunst und Gestaltung – Lehramt an Grundschulen. Und sie hat für kunsthistorische und für allgemeine Kunstzeitschriften geschrieben. Zuletzt hat sie an einem Artikel über den kroatischen Künstler Vuk Kovačić gearbeitet, der in der Kunstzeitung erscheinen sollte. Sie hat ja Kroatisch gelernt und sogar überlegt, ob sie den Aufsatz nicht einer kroatischen Zeitung anbietet. Sie hatte sogar schon mit einer Redaktion in Split telefoniert. Ich glaube, die Zeitung heißt Slobodna Dalmacija.«
»Diesen Vuk Kova…?«
»Kovačić. Frau Klaas war begeistert von ihm. Manchmal hat sie ihn ›meinen großartigen Wolf‹ oder ›meinen großartigen Wolf Schmidtchen‹ genannt.«
»Wieso das?«
»Naja, Vuk bedeutet Wolf, und Kovač ist der Schmied, Kovačić also der Sohn des Schmieds oder der kleine Schmied. Oder eben Schmidtchen. Verstehen Sie?«
»Es ist selbst für eine Kriminalbeamtin nicht zu kompliziert«, entgegnete Barbara. »Sie stellen ihn gerade aus …«
»Wollen Sie seine Arbeiten sehen?«
»Vielleicht später. Wissen Sie eigentlich, woher die große Kroatienliebe des Ehepaares Klaas rührte?«
»In Andeutungen«, sagte Carola Sinzig. »Ich bin erst seit dreieinhalb Jahren hier, und diese wirklich große Liebe hält schon länger an. Wissen Sie, Frau Klaas ist …« – ein paar Tränen zeigten sich – »… sie war vor allem in Rostock sehr gut vernetzt. Im Kulturhistorischen Museum hat sie einige Zeit gearbeitet, aber sie ist auch in Vereinen und Förderkreisen und so. Ihr Network reichte bis ins Rathaus, bis an die Spitze. Ich weiß nicht genau, wann … es kann sieben oder acht oder neun Jahre her sein, da durfte sie den Oberbürgermeister auf einer Reise nach Rijeka begleiten. Das ist eine Partnerstadt …«
»Ich weiß.«
»Ist wohl eine alte Tradition, dass der Rostocker OB zum Karneval in Rijeka …«
»War das dann nicht dieser Oberbürgermeister, für den sich Kultur auf Windjammerparaden, Bier und Bockwurst reduzierte?«
»Wie bitte?!«
»Frau Klaas soll über den damaligen OB gesagt haben, für ihn reduziere sich Kultur auf Windjammerparaden, Bier und Bockwurst.«
Carola Sinzig lächelte. Es war das erste Mal an diesem für sie scheußlichen Tag. »Ja, das hat sie manchmal gesagt.«
»Nun ja, es stimmt aber nicht«, meinte Barbara. »Zumindest der Karneval kommt noch hinzu.«
Ramona Brinkhart hatte an Upleggers Tür geklopft und ihn gefragt, ob er keinen Hunger habe und sie in die Kantine begleiten wolle? Erst durch ihre Frage hatte er gespürt, dass ihm ein Bissen nicht schaden konnte, und so waren sie gemeinsam aufgebrochen.
Ramona hatte sich ein paar Gedanken gemacht oder Google bemüht und konnte noch jemanden auf die imaginäre Liste prominenter Kroaten setzen, nämlich die Vizepräsidentin für Demokratie und Demografie der Europäischen Kommission namens Dubravka Šuica. »Sie ist bei ihrer Anhörung im EU-Parlament Ende 2019 nach ihrem Vermögen gefragt worden, das damals mehr als fünf Millionen Euro betrug. Die Antwort ist sie laut LobbyControl schuldig geblieben. Aber es scheint durchaus berechtigt, zu fragen, wie eine ehemalige Lehrerin und spätere Bürgermeisterin von Dubrovnik zu mehreren Häusern, teuren Autos und einer Jacht kommt, oder?«
»Im Prinzip ja, und man kann einiges vermuten«, meinte Uplegger, »aber das geht ja vor allem die Kroaten etwas an.«
»Korruption ist anscheinend ein ziemliches Problem dort«, sagte Brinkhart, während sie just die Kantine betraten. »Auf dem Index von Transparency International rangiert Kroatien zwischen Kuba und São Tomé und Príncipe auf Rang 63.«
»Hochverehrte Kollegin Brinkhart!« Uplegger blieb stehen und drohte mit erhobenem Zeigefinger. »Sie wollen doch nicht unterstellen, unsere geliebte Panzer-Uschi habe sich eine korrupte Vizepräsidentin ins Boot geholt?«
Ramona Brinkhart hob beide Hände zur Abwehr: »Das würde ich nie wagen. Die EU-Kommission besteht aus Engeln – unter der Führung des Erzengels Ursula.«
»Brav«, lobte Uplegger, »so klappt es auch mit der Karriere.«
In der Schlange an der Theke berichtete er seiner Kollegin, der er mit Sympathie zugetan war, von seinen Resultaten. Nach ihrem Diplom hatte Dorothee Klaas zunächst etliche Bewerbungen geschrieben. Uplegger hatte sie tatsächlich gezählt und war auf 73 gekommen.
»Dunnerlittchen!«, rief Brinkhart.
»Sie hat sich wirklich überall beworben, unter anderem bei vielen Museen, vom kleinen Heimatmuseum bis zum Städel in Frankfurt, aber auch bei Behörden, die jemanden für die Kulturarbeit suchten, ja sogar bei zwei sozialen Einrichtungen in Lübeck und in Offenbach. Mir scheint, dass ein Kunstgeschichtsstudium seinerzeit etwas war wie eine bessere Taxifahrerausbildung. Vielleicht ist es immer noch so.« Uplegger hob die Arme. »Davon habe ich keine Ahnung. Dann versuchte sie es mit Praktika. Sie hat es auch wieder an vielen Adressen versucht, auch an ersten wie dem Louvre oder der National Gallery in London. Das klappte schließlich, wenn auch in Österreich. Zunächst war sie ein Jahr in Linz, dann am Museum Schloss Ambras in Innsbruck. Das hat sie von Linz aus gedeichselt. Bis 1994 schlug sie sich dann mit Halb- und Viertelstellen herum, dann lernte sie bei einem Besuch ihrer Eltern in Dömitz Michael Klaas kennen – er hat dort eine Pause auf einer Radtour auf dem Elberadweg eingelegt, und vom blauen Himmel fiel Liebe. Sie ist zu ihm nach Rostock gezogen und bekam 1997 eine befristete Stelle am Kulturhistorischen Museum. Sie hat an ihren Netzwerken gestrickt und so weiter und so fort … Doch das ist gar nicht das Thema. Was mich umtreibt: 2001 haben sie das Haus in der Schliemannstraße gekauft. Woher hatten sie das Geld?«
»Haben Sie keinen Kredit …?«
»Das schon. Aber ohne Eigenmittel geht es nicht.«
»Vielleicht hat er die Kohle mitgebracht«, schlug Brinkhart vor.