Kitabı oku: «Wie Splitter aus fernen Träumen», sayfa 3

Yazı tipi:

4.
Der Tote bin ich

Es war gerade sieben Uhr morgens, als Kortanor ins Zimmer platzte und mich aus ausnahmsweise schönen Träumen riss.

Er versuchte es so sanft wie möglich, aber ich war schon hellwach, als er noch in der Tür stand. Mein Schlaf war in letzter Zeit nicht sehr tief und ich wachte wieder bei jedem noch so leisen Geräusch auf.

Ich war natürlich ziemlich verärgert, denn ich hatte kaum drei Stunden geschlafen, weil ich noch bis in den frühen Morgen mit Julie geredet und geschmust hatte, wobei das erstere wesentlich unerfreulicher verlief als das zweite. Aber schließlich kam es nicht mehr sehr oft vor, dass wir zusammen in einem Bett lagen – ehrlich gesagt, dies war ein absoluter Ausnahmefall – und so war ich dementsprechend geladen.

Aber sicher war es kein geringfügiger Grund, der den Tromaden veranlasst hatte, mich aus dem Bett zu holen. Er sah auch recht zerknautscht aus.

Julie lag mit ihrem Kopf an meinem Rücken und hatte einen Arm halb um mich gelegt. Zum Glück hatte sie im Gegensatz zu mir einen wahrlichen Tiefschlaf und merkte nicht, wie ich vorsichtig aufstand.

Ich zog mir erst mal nichts an, weil es recht warm war und ich vorhatte, so schnell wie möglich mich wieder ins Bett und an Julie zu kuscheln.

»Also, was ist los, du tromadisches Trampeltier?« schnauzte ich Kortanor auf dem Flur an. »Haben die Rechten uns wieder die Wasserzufuhr gesperrt, sind Plünderer unterwegs oder was?«

»Nichts von allem, du Schlaumeier. Glaubst du, ich stehe gern so früh auf? Nur weil das blöde Videofon nicht aufhörte zu summen, musste ich aus dem Bett. Und dann will auch noch jemand dich sprechen.«

»Was, um diese Zeit? Soll in ein paar Stunden wieder anrufen!«

»Geht anscheinend nicht. Es ist einer von den Medikern aus dem Krankenhaus. Der Mann wollte mir die traurige Mitteilung machen, dass du gerade dort gestorben bist.«

Ich blieb stehen und packte ihn am Arm.

»Red keinen Quatsch! Was soll der Blödsinn? Schließlich stehe ich neben dir und bin ganz lebendig, wenn auch unausgeschlafen. Entweder du hast nur einen schlechten Traum gehabt oder der Typ ist sturztrunken.«

»Na, er hat mich jedenfalls ganz schön erschreckt und wirkte ziemlich nüchtern. Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob du hier bist, obwohl ich dich gestern Abend mit Julie habe ins Bett gehen sehen. Ich habe versucht, dem Typ das klarzumachen, aber er wollte sich unbedingt persönlich davon überzeugen, dass du noch lebst.«

»Ach, Scheiße! Die verwechseln mich eben mit irgendjemandem. Hatte der Tote nichts dabei, was auf seine Identität schließen lässt?«

»Mensch, Speedy, sprich selbst mit dem Mediker. Ich hatte wirklich keine Lust auf großartige Diskussionen um diese Zeit. Ich wusste ja eigentlich, dass du zuhause im Bett liegst, aber er ließ sich nicht abwimmeln, und irgendwann war es mir dann selbst nicht mehr geheuer.«

»Okay, ich rede mit ihm,« gab ich nach und machte die letzten Schritte zum Videofon, das direkt neben Kortanors Zimmer auf dem Flur stand. Nebenbei fragte ich mich mal wieder, wann diese grandiosen Wissenschaftler und Techniker den lange versprochenen Ambandkom entwickelt haben würden. So ein handliches Gerät zur Fernkommunikation wäre ein erheblicher Fortschritt.

Inzwischen war ich total munter, und der Mann hatte mich sowieso schon auf dem Bildschirm gesehen.

Kortanor blieb neben mir stehen. Anscheinend überwog nun seine Neugier die Müdigkeit.

Ich konnte auf dem Bildschirm erkennen, dass der Anrufer sich mit jemandem, der im Hintergrund nicht zu erkennen war, unterhielt. Jedenfalls hatte er das Gesicht abgewandt, und ich musste ihn erst darauf aufmerksam machen, dass sein Gesprächspartner jetzt anwesend war.

Als er sich umdrehte, wurden seine Augen riesengroß und es verschlug ihm erst mal die Sprache.

»Wie Sie sehen, muss eine Verwechslung vorliegen«, sprach ich ihn an. »Ich bin ich noch ganz lebendig und habe keinen größeren Wunsch, als so schnell wie möglich wieder ins Bett zu gehen.«

»Moment noch«, kriegte er endlich raus. Die grauen Augen in seinem jugendlichen Gesicht – ich schätzte ihn auf höchstens 23 – blickten immer noch skeptisch. Er fuhr sich mit der Hand durch seinen buntgefärbten Bürstenhaarschnitt.

»Kannst du mal die Fotos holen?« rief er nach hinten.

»Aber was soll das noch?« protestierte ich. »Sie können sich die Mühe doch sparen.«

»Dauert nicht lange«, beruhigte er mich. »Wenn meine Kollegin Sie nicht aus Ihren Tri-Di-Sendungen wiedererkannt hätte, wären wir auch gar nicht auf Sie gekommen.«

Mir wurde etwas ungemütlich. »Wusste gar nicht, dass ich so berühmt bin,« murmelte ich.

Ich hatte in der Tat mit Unterstützung von Lucky und Kortanor ein paar Sendungen über unsere Weltraumodyssee fabriziert. Ich hatte hauptsächlich Dokumentarmaterial Filme, Fotos usw. aus dem Computerarchiv der CHANGE benutzt, und es hatte mir viel Spaß gemacht. Ich war gerade dabei, weitere Sendungen vorzubereiten. Die CHANGE hatte zum Glück das Auseinanderbrechen der Raumstation einigermaßen unbeschadet überstanden. Nachdem wir dort damals zur Landung gezwungen worden waren, war sie natürlich von den Militärs und Wissenschaftlern durchsucht und geplündert worden. Doch die Backups des Archivs waren nach der späteren Bergung durch Kortanor eine unerschöpfliche Quelle für meine Dokumentationen gewesen.

»Tja, so viele galaktische Weltraumreisende gibt’s eben nicht,« flachste der Mediker zurück.

Inzwischen war seine Kollegin mit den Bildern gekommen. Er präsentierte mir eine Folge von drei Fotos, alles Porträts des Toten.

Diesmal war ich es, der erschrak. Gut, ich hatte mit einer Ähnlichkeit gerechnet, sogar mit einer verblüffenden Ähnlichkeit, aber dies hier war ohne jeden Zweifel ich selbst, der mich mit gebrochenen Augen anstarrte.

»Das ist doch nicht möglich«, entfuhr es mir.

»Er trägt sogar die Haare wie du und auch kleine Merkmale wie Falten und Pickel sind identisch«, stellte Kortanor neben mir fest. Er war wie immer die Ruhe selbst.

»Ihr Freund hat eine erstaunliche Beobachtungsgabe«, meinte der Mediker. »Sind Sie jetzt interessierter?«

»Und ob! Erzählen Sie mir die ganze Geschichte, wie Sie ihn aufgelesen haben und wie er gestorben ist und ...«

»Stopp! Ich mach Ihnen einen Vorschlag. Kommen Sie hierher, dann erfahren Sie alles. Gleichzeitig könnten wir Sie kurz durchchecken, um festzustellen, ob sich die Ähnlichkeit auf noch mehr als das äußere Erscheinungsbild erstreckt.«

Ich überlegte. Der Gedanke an Julie in meinem Bett ... Aber die Sache würde mir sowieso keine Ruhe lassen, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Warum passierte so etwas auch gerade heute?

»Okay, ich komme vorbei«, sagte ich schließlich zu. »Nur noch kurz eine Frage: was hatte der Tote denn an?«

»Er trug eine schwarze Cordjacke, Jeans und ein kariertes, rotes Hemd, alles Syntho-Material natürlich. Das ist alles, woran ich mich erinnere.«

»Aber das ist unglaublich! Genau die Sachen liegen bei mir im Zimmer!«

Allmählich wurde mir kalt, aber nicht weil ich hier nackt rumstand, sondern als Folge dieser Unterhaltung. Ich verabschiedete mich also und versprach, so schnell wie möglich zum Krankenhaus zu kommen.

Kortanor bot an, mich zu begleiten, aber ich lehnte ab.

Ich wollte lieber allein dorthin. Ich musste sowieso über ein paar Sachen nachdenken und konnte den Weg nutzen. Außerdem gab es in der letzten Zeit Probleme für Rush und mich mit dem Tromaden, so dass mich seine Anwesenheit eher stören würde.

»Du kannst aber Julie sagen, was passiert ist«, trug ich ihm auf. »Ich werde ihr zwar einen Zettel hinlegen, aber ich kann schließlich nicht alles so ausführlich aufschreiben. Sie hat bestimmt wieder einen tiefen Schlaf und wacht nicht auf, wenn ich mich anziehe. Und wecken möchte ich sie nicht, weil sie die beiden letzten Nächte Notdienst im Computerzentrum gemacht hat und kaum zum Schlafen gekommen ist.«

Ich ging wieder leise in mein Zimmer zurück. Auf dem Boden lagen meine Jeans und das rotkarierte Hemd. Eine Gänsehaut kroch mir den Rücken hinauf. Ich wandte mich rasch ab und zog mir andere Sachen an. Das Ganze war mir unheimlich genug. Doppelgänger gab es schon mal, aber hier sah es ja so aus, als würde ich mir selbst gegenüberstehen. Zu dumm, dass der Typ tot war, aber es mussten doch Spuren existieren, anhand derer seine Herkunft festzustellen war.

Spontan kam mir die Idee, ob ich es eventuell mit einem Androiden zu tun hatte, den die Regs noch vor der Revolution aus irgendeinem Grund mir nachgebildet hatten. Aber ich verwarf den Gedanken schnell wieder. Erstens hätten sie das im Krankenhaus bei ihren Untersuchungen bald herausgefunden, und zweitens war der Zeitraum von unserer Rückkehr ins Sonnensystem bis zum Ausbruch der Revolution einfach zu kurz, um so ein Projekt noch fertigstellen zu können. Außerdem konnte ich mir keinen vernünftigen Grund vorstellen, warum Lady Antrana ausgerechnet mich als Androiden hätte in Auftrag geben sollen. Und warum war der dann jetzt erst aufgetaucht?

Nein, es musste eine andere Lösung geben, die ich aber jetzt so nicht finden konnte.

Mal sehen, was sie mir im Krankenhaus noch erzählten, vielleicht kamen wir dann der Sache näher.

Ich schrieb noch schnell die Mitteilung an Julie, verabschiedete mich von Kortanor, der etwas brummig darüber war, dass ich ihn nicht dabei haben wollte, und verließ unsere Wohnung. Sie lag im vierten Stock eines ziemlich heruntergekommenen Hauses im nördlichen Teil von Neu-Ing. Die Bezeichnung Neu-Ing war eigentlich schon gar nicht mehr korrekt, aber Splitterland setzte sich nur langsam durch.

Seit gut einem Jahr wohnte ich jetzt hier zusammen mit Kortanor und Rush, dem Telepathen – also praktisch seit dem endgültigen Sieg über die Regs und ihr ganzes System.

Im Treppenhaus traf ich Rastor, der mit Tao-Ling unter uns wohnte. Wir hatten guten Kontakt mit den beiden Androiden, unternahmen häufig etwas zusammen und redeten oft über die anstehenden Probleme. Er begrüßte mich sehr herzlich, und wir gingen noch ein paar Meter zusammen. Dann musste er auf den Bus warten, der die Leute zur Ablösung in die Konzentratfabrik transportierte. Keine angenehme Arbeit und das, wo wir doch die Arbeit eigentlich abschaffen wollten. Aber was sollten wir machen? Die Realität diktierte uns einiges, was nicht in unserem Interesse lag, so auch das Nahrungsmittelproblem, für das es immer noch keine bessere Lösung gab, solange das Abkommen mit den Südlichen Inseln für frische Nahrungsmittel nicht unter Dach und Fach war. Und so mussten wir die fiesen Konzentrate weiter in uns reinschaufeln. Zumindest war es gelungen, dass sich die Menschen in der Fabrik regelmäßig abwechselten. Viele waren einsichtig genug, dass es ohne Konzentratnahrung nicht ging und sie bei der Produktion mithelfen mussten. Solange es nur einige Stunden Arbeit waren, ließ es sich aushalten. Es handelte sich auch meist um reine Überwachungsaufgaben der automatisierten Produktion. Die Anlage war aber recht anfällig für Verschleiß und andere Ausfälle, so dass es immer etwas zu tun gab.

Ich selbst hatte eine ziemlich lange Wegstrecke vor mir, und so ohne etwas im Bauch war das keine besonders angenehme Vorstellung. Das Krankenhaus lag ziemlich im Zentrum, und ich war wahrscheinlich hauptsächlich auf meine Beine angewiesen. Die Dezentralisierung kam eben nur langsam voran, und Krankenhäuser im üblichen Sinn sollte es bald auch nicht mehr geben, aber wir waren noch nicht so weit.

Ich nahm mir zum wiederholten Mal vor, endlich mein Fahrrad zusammenzubauen, und so früh irgendwo eines auszuleihen war auch nicht drin. Es standen zwar überall noch Elektro-Autos herum, aber die meisten waren Wracks und waren nur noch nicht weggeschafft worden. Die restlichen, die noch funktionierten, wurden für Notfälle gebraucht. Busfahrten waren ziemlich chaotisch organisiert, wenn es sich nicht um dringende Routen wie die zur Konzentratfabrik oder zum Computerzentrum handelte. Und Gleiter standen auch nur sehr wenige zur Verfügung.

Draußen war es einigermaßen klar für hiesige Verhältnisse, die Sonne war natürlich nicht zu sehen, aber es wurde schon wieder kühler nach der unverhofften Wärme der letzten Tage. Ich hatte den Pullover angezogen, den ich auf Minadatar bekommen hatte und der sich so wunderbar jeder Witterung anpasste. Außerdem wurde er auch nicht schmutzig, ich hatte jedenfalls nie den Eindruck, als müsste er gewaschen werden. Vor diesem Gedanken scheute ich sowieso zurück, als ob ich ihn dadurch beschädigen würde.

Ich überlegte mir nochmal den Weg und fand heraus, dass ich auf jeden Fall durch das Öko-Gebiet musste. An sich lag auch Phönizia, das Frauenviertel, auf der direkten Strecke, aber das wollte ich doch lieber vermeiden, auch wenn ich einen Umweg in Kauf nehmen musste. Viele der dort lebenden Frauen sahen es nicht gern, wenn ein Mann ihr Gebiet durchquerte. Dummerweise hatten sie eine ziemlich zentrale Region gewählt, und deswegen nahmen viele Männer keine Rücksicht auf diese Abneigung. Ein Teil der Frauen überlegte deshalb, die Zone rigoros für Männer zu sperren, aber die Diskussionen darüber verliefen wohl recht kontrovers.

Ich erhielt solche Informationen regelmäßig von Flie, wenn wir uns besuchten, denn sie wohnte in Phönizia. Auch über die verschiedenen Nachrichtenblätter der Frauen erfuhr man einiges, während sie die Tri-Di-Sender nur sehr wenig nutzten.

Das Stadtviertel, das ich jetzt durchquerte, wurde allgemein Chaotenburg genannt, aber das sagte natürlich gar nichts aus. Es bestand zum großen Teil aus verwahrlosten, sehr alten Häusern, die meisten davon waren zu Reg-Zeiten zum Abbruch bestimmt gewesen. Einige waren auch wirklich kaum noch zu retten, aber in den meisten ließ sich nach teilweise recht aufwendigen Instandsetzungsarbeiten immer noch wesentlich besser wohnen als in den City-Hoch- und Tiefhäusern oder den wahnsinnigen Lebens- und Arbeitskomplexen, die jetzt sowieso keinen Zweck mehr erfüllten. Die ganze beschissene Architektur zu verändern, war bestimmt eine Arbeit von Jahrzehnten. Schließlich konnte nicht alles auf einmal abgerissen werden, die Menschen brauchten Unterkünfte, wenn man Obdachlosigkeit wie zu früheren Zeiten vermeiden wollte. Aber an einigen Stellen wurde schon mit ganz neuartigen Bauformen experimentiert, vor allem im Öko-Gebiet.

Die Entwicklung innerhalb des letzten Jahres darf nun aber nicht so verstanden werden, dass eine Reihe in sich abgeschlossener Stadtstaaten im Großraum Neu-Ing im Entstehen war. Im Gegenteil: mit Staaten hatte das alles recht wenig zu tun. Auch wenn sich einige Bezirke darum bemühten, so etwas wie Modelle aufzubauen als Vorbilder für alle übrigen, sei es nun über eine Rätedemokratie oder ein anarchistisches Prinzip. Das alles hatte jedenfalls keine Ähnlichkeit mehr mit früheren Regierungs- und Verwaltungsformen. Ich sah es eher als ein kleines Abbild der Stammes-Realität, wenn auch in sehr eingeschränktem Maß.

Auch waren die Viertel mit Ausnahme von Phönizia nicht exakt gegeneinander abgegrenzt. Es war also nicht ersichtlich, wo z.B. das Anarcho-Gebiet begann und der Öko-Bereich endete. Außerdem war eine weitestgehende Zusammenarbeit aller Regionen garantiert – ohne das wäre auch ein Überleben einzelner Bezirke vollkommen unmöglich, weil die Struktur von Neu-Ing einfach nicht dafür gebaut war, dass eigenständige Stadtteile nebeneinander existieren konnten.

Wir hatten ja schon alle zusammen die größten Schwierigkeiten, unser aller Überleben zu sichern. Insofern war es sowieso außerordentlich erstaunlich, dass das Experiment der autonomen Bezirke in Anfängen in Angriff genommen und realisiert worden war.

So konnte also jede/r dort wohnen, wo es ihr/ihm schien, als würden ihre/seine Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen am ehesten nachgekommen. Das verhinderte keine Grundsatzdiskussionen über das Verhältnis Natur und Technik, Patriarchat, Bedeutung von Politik überhaupt usw. Im Gegenteil, sie wurden viel offener und ehrlicher geführt, aber niemandem wurde eine bestimmte Lebensweise vorgeschrieben, abgesehen von den Zwängen, denen wir uns alle unterwerfen mussten.

Außer den ständigen Auseinandersetzungen über die Zusammenarbeit der Bezirke untereinander – von der Organisation der notwendigen Arbeiten bis zu kulturellen, medizinischen oder Verkehrsfragen – gab es hauptsächlich zwei Faktoren, die uns zu schaffen machten.

Zum einen gab es eine ganze Reihe von Banden, die sich in Wohnvierteln der ehemals Reichen herumtrieben, angeblich wertvolle Souvenirs aus der alten Zeit stahlen und leer stehende und zerstörte Villen und Häuser plünderten. Es gab dafür einen regelrechten Schwarzmarkt. Dort wurden diese Andenken gegen Lebensmittel und alles getauscht, was man wirklich zum Leben brauchte. Dabei handelte es sich meist um Menschen, die nach der Revolution nicht verstanden hatten, worum es ging und sich nicht an ein neues Leben gewöhnen konnten oder wollten. Sie lebten zwar auf unsere Kosten und beteiligten sich nicht an notwendigen Arbeiten, waren aber zum großen Teil harmlos, da es nur selten zu aggressiven Auseinandersetzungen kam.

Die Gruppen, die uns weitaus mehr zu schaffen machten, setzten sich hauptsächlich zusammen aus alten Militärs, Cops und dem Rest der kleinen Oberschicht, die dem alten Leben nachtrauerte, in dem sie andere für sich arbeiten lassen und in Saus und Braus leben konnte. Diese hatten durch die Revolution ihre Vorteile und Machtbefugnisse verloren und sehnten sich zurück nach den guten alten Zeiten. Sie waren gefährlicher und scheuten auch vor bewaffneten Auseinandersetzungen nicht zurück. In den meisten Bezirken wurde Jagd auf sie gemacht und sie wurden, wenn möglich, irgendwo eingesperrt. Das neue dezentralisierte Justizsystem agierte dann durchaus unterschiedlich: Während in dem einen Stadtteil Zwangsarbeit angeordnet wurde, hatten diese Gruppen in anderen Bezirken für bewaffnete schon mal mit lebenslangem Gefängnis zu rechnen. Anfangs waren sogar einige hingerichtet worden, als der Hass auf die alten Schergen noch sehr groß war. Inzwischen war man sich zumindest einig, dass die Todesstrafe kein Instrument einer wie auch immer gearteten Volksjustiz sein sollte.

Ein weiterer Faktor stellte ein kleines Gebiet dar, das von Leuten bewohnt wurde, die sich bemühten, ein System nach dem Muster der Südlichen Inseln zu errichten.

Sie nannten dieses Gebilde Volksdemokratie. Sie besaßen ein gewähltes Parlament, eine Regierung, die ganze althergebrachte Bürokratie, einen Verwaltungsapparat und eine Staatswirtschaft. Sie hatten auch als einzige Region das Geld beibehalten, und Arbeit hatte den alten einkommenssichernden und moralisch-ethischen Wert behalten. Das ganze erinnerte mich immer etwas an die ehemalige Geld-Stadt in der anderen Erdrealität. Die Volksdemokratie hätte uns übrige wohl nur ein müdes Lächeln gekostet, da sie keinen ernst zu nehmenden Machtfaktor darstellte, wenn ihre Bedeutung nicht in ihrer Beziehung zu der Regierung der Südlichen Inseln gelegen hätte.

Die dortigen Machthaber der sogenannten Revolutionsregierung hatten von Anfang an die Entwicklung in Neu-Ing mit Misstrauen beobachtet. Denn was sie nicht verstanden, konnte ihnen ja vielleicht gefährlich werden. Es war ein offenes Geheimnis, dass dort immer wieder Planspiele durchgeführt wurden, wie sie militärisch gegen uns vorgehen konnten. Wir gaben ihnen zwar keinen Anlass zum Eingreifen, aber allein die Existenz dieses veränderten Neu-Ing konnte Grund genug sein. Was sie hauptsächlich zurückhielt, war wohl das nicht einschätzbare Risiko. Die merkwürdigen Ereignisse während der Revolution in Neu-Ing ließen sie jedenfalls abwarten. Vorerst beschränkten sie sich also darauf, uns ökonomisch unter Druck zu setzen. Wir waren auf Lebensmittellieferungen von den Inseln angewiesen, und sie versuchten darüber, uns dazu zu zwingen, unser System dem ihren anzupassen. Deshalb nahmen wir es so wenig wie möglich in Anspruch und die Verhandlungen zogen sich immer wieder in die Länge.

Der einzige offizielle Nachrichten- und Warenaustausch mit den Inseln lief also über die Volksdemokratie, die allein von der Revolutionsregierung als anerkannte Vertretung von Splitterland – wie wir uns selbst nannten – behandelt wurde.

Natürlich versuchten wir, diesem Druck so gut es ging zu entgehen, und dachten nicht daran, unsere Struktur zu ändern. Aber so waren wir in größerem Umfang als uns lieb war weiter auf Syntho-Nahrung, Konzentrate und Algenprodukte angewiesen.

Es war äußerst unangenehm, dass wir immer über die Volksdemokraten verhandeln mussten, die oft merkwürdige Einfälle hatten, um unsere Nerven zu strapazieren. So schickten sie Leute von uns zurück, weil sie sie nicht als Abgesandte akzeptierten, wollten anfangs nur Wertgegenstände im Austausch annehmen oder verlangten bestimmte Sendezeiten im Tri-Di, Büros und Stände in anderen Stadtteilen usw.

Einiges davon mussten wir wohl oder übel hinnehmen, um überhaupt mit den Südlichen Inseln in Kontakt zu bleiben, andere Forderungen waren einfach lächerlich. Sollten sie sich doch ihre Büros und Stände nehmen, es standen ja genug Räume leer, weil sie für nichts Verwendung fanden, da wir sie weder als Wohn- oder Lagerräume noch als Koordinationsbüros, Ateliers oder sonst irgendetwas benutzen konnten. Doch bei den Volksdemokraten war das nicht so einfach. Sie wollten dann offizielle Papiere und Abmachungen, und so wurden oft völlig sinnlose Debatten geführt, ohne dass sich die Standpunkte einander annähern konnten. Ich war einmal bei so einem Treffen dabei gewesen, und das war nun wirklich in Arbeit ausgeartet.

Immer wenn ich wie jetzt in unserer Chaotenburg herumlief, konnte ich mich nicht sattsehen an den vielfältigen Formen und dem Leben, das diese Gegend angenommen hatte. Der Ideenreichtum der Leute war wirklich unbegrenzt, obwohl doch so viel in der Reg-Zeit kaputt gemacht worden war. Aber jetzt kam eben die ganze unterdrückte Kreativität wieder zum Vorscheinen: aus Supermärkten waren Ausstellungsräume geworden, Schulen waren zu Verteilungszentren umfunktioniert – ich kam gerade an einem vorbei, über die jemand in großen Leuchtbuchstaben Wahnsinns-Discount gesprüht hatte -, eine ehemalige Bank war mit Zetteln und Inschriften übersät in eine Art Info-Büro verwandelt worden und das Gerichtsgebäude eignete sich hervorragend für Kinder zum Cowboy- und Indianerspielen (bzw. spielten die ja heutzutage eher Cops gegen Sensos oder so etwas in der Art).

Einiges war allerdings wirklich in Schutt und Asche gelegt worden, die Cop-Station zum Beispiel, und die Kaserne wurde gerade abgerissen. Dort sollte so etwas wie ein Park entstehen oder besser gesagt: ein Platz, wo die Natur irgendwann einmal wuchern konnte, aber solche Projekte standen natürlich alle noch in den Startlöchern.

Genauso ging es den Ökos, die verzweifelt versuchten, mit tausend Tricks irgendwo Gemüse heranzuziehen oder Getreide auszusäen. Es kam noch nicht viel dabei heraus, aber ich bewunderte ihre Ausdauer und ihren Optimismus genauso wie ihre Recycling-Projekte und Energiegewinnungssysteme. Nachdem Lucky einmal in einer meiner Sendungen über die Symbiosegemeinschaft gesprochen hatte, waren Anfragen gekommen, ob man von da nicht vielleicht Unterstützung für einen ökologischen Umbau bekommen konnte. Auch das wurde noch heftig diskutiert.

All das gehörte außerdem zu den Versuchen, uns so weit wie möglich zu dezentralisieren und unabhängig von den Südlichen Inseln zu machen. Dazu kam das Vorhaben, die Plankton und Algenverwertung vor der Küste wieder in Schwung zu bringen, das hauptsächlich von den Anarchos betrieben wurde. Ohne die Konzentrat- und Synthofabriken wäre das allerdings bei weitem nicht ausreichend gewesen, und so ernährten sich alle weiterhin hauptsächlich von sog. Proteinsuppen und -keksen.

Ich schaute kurz in das Verteilzentrum und schnappte mir eine Packung nach nichts schmeckender Kekse, die in der Lebensmittelecke ganz verloren zwischen Dosen und Konzentratpackungen herumlag. Richtigen Hunger würde ich wohl erst später kriegen, Hauptsache es gab im Krankenhaus eine Tasse Kafe für mich.

Die Abschaffung des Geldes und das Einrichten dieser Verteilzentren war übrigens ziemlich schnell erfolgt, nachdem in den ehemaligen Supermärkten, Warenhochhäusern und Konsumstellen nur noch Ramsch herumlag. Alles, was Leute nicht mehr brauchen konnten, anderen vielleicht aber von Nutzen war, kam ebenso hierher wie alle über den Eigenbedarf hergestellten Produkte und die Warenlieferungen von den Südlichen Inseln.

Geld hatte dabei schon bald kaum noch einen Wert gehabt, da es die übliche Arbeit nicht mehr gab, nach der es bemessen wurde, und niemand mehr Lohn oder anderes Einkommen in irgendeiner Form erhielt. Erstaunlicherweise hatte das nicht zu größeren Schwierigkeiten geführt, und auch die Einrichtung der Verteilzentren verursachte nur anfangs Probleme, als einige Leute, die von allem nicht genug bekommen konnten, sich mit etlichen Paar Schuhen, Stereoanlagen oder einem Haufen Möbel eindeckten, bis sie merkten, dass sie das alles nicht brauchten. Die meisten verteilten das dann weiter bzw. brachten es zurück. So regelte sich das relativ schnell im Lauf der Zeit.

Anders wäre es ja auch gar nicht möglich gewesen, so etwas wie Splitterland auf die Beine zu stellen. Wären die Leute noch in alten Vorstellungen verhaftet gewesen, wäre es auch niemals zu einer Revolution unter den Vorzeichen von Abschaffung von Arbeit und Herrschaft gekommen. Klar, in der Praxis sah das dann alles noch wieder anders aus. Was jahrzehntelang ansozialisiert worden war, ließ sich nicht auf einmal über Bord werfen, aber der Wille und die Energie waren doch bei fast allen vorhanden, so dass wir uns auch durch die widrigen Umstände nicht entmutigen ließen.

Bei weitem mehr Mühe verursachte das Organisieren und Aufteilen der unangenehmen Arbeiten, und in Folge davon kam es teilweise zu verheerenden Wasser- und Stromausfällen und Nahrungsmittelknappheit – besonders bei uns Chaoten, die wir so wenig wie möglich organisieren wollten. Die einen verschliefen, die anderen hatten keine Lust auf gar nichts, wieder andere vergaßen Ersatz zu besorgen, wenn sie keine Zeit hatten. Im Grunde hatten wir Glück, dass es nicht zu größeren Unfällen kam, und das hatten wir auch noch der abgelehnten Supertechnik zu verdanken, die im Gefahrenfall automatisch alles stilllegte.

Sobald sich aber durch die freie Zeit und die neue Lebensweise Kreativität und Tatendrang der Menschen zu entfalten begannen, wurden auch die miesen Arbeiten immer weniger notwendig. So begannen z.B. immer mehr Leute zu Tischlern oder zu Schreinern, und die entsetzliche Plastikmöbelfabrik konnte bald stillgelegt werden. Holz gab es genug in unbesiedelten Teilen der Erde, die außerdem frei von Radioaktivität waren, und ebenso Leute, die Spaß daran hatten, Bäume zu fällen und den Transport zu übernehmen. Wirtschaftlichkeit spielte ja dabei keine Rolle mehr.

Und es bestand auch keine ökologische Gefahr, da nicht mehr wie in früheren Zeiten üblich völlig überflüssige Teile hergestellt wurden oder sich ein Vorrat ansammelte, der dann in irgendwelchen Lagerhallen vergammelte oder wegen Unmodernität eingestampft wurde. Im Gegenteil: es wurden eher mehr Bäume angepflanzt als gefällt wurden.

Ich könnte an dieser Stelle noch lange so weitermachen, erzählen, was sich wie verändert hatte, und das wäre alles auch sicher sehr interessant, aber es würde wahrscheinlich ein ganzes Buch füllen. Solche Abhandlungen werden aber anderweitig vorbereitet, und so begnüge ich mich damit, wichtige Aspekte unseres neuen Lebens dann und wann einzuschieben.

Nachdem ich auch den Öko-Bezirk hinter mir gelassen hatte, wurde mir der Fußmarsch langsam zu viel. Als ich schon ernsthaft überlegte, Phönizia doch zu durchqueren, hörte ich hinter mir das unverwechselbare Geräusch eines Luftkissenfahrzeugs.

Ich hatte Glück: Es war ein Bus, der ebenfalls einen Umweg um Phönizia machte und kreuz und quer durch die Stadt fuhr. Angesichts der frühen Morgenstunde saßen nur ein paar Leute drin, die sich angeregt unterhielten. Ich wunderte mich schon, dass sich der Fahrer bzw. die Fahrerin so früh aufgerafft hatte, als ich bemerkte, dass es ein Automatik-Bus war, dem irgendjemand ein Kurs einprogrammiert hatte. Man konnte ihn an jeder Stelle zum Halten bringen, auch von draußen reagierte er auf Zuruf. Praktisch und bequem, dachte ich, genau das, was ich jetzt brauchte.

Wir kamen sogar ziemlich nahe am Krankenhaus vorbei und ich stoppte den Bus. Hier in City-Nähe sah die Gegend noch ziemlich unbeleckt aus, obwohl hier während der Revolution schwere Kämpfe stattgefunden hatten. Aber die hohen Wohnblocks reizten niemanden, und so war es wie ausgestorben. Kein Kindergeschrei, keine Farbsprühereien, nur hässliche ausgebrannte Lücken und Ruinen dort, wo gekämpft worden war.

Das Krankenhaus selbst war ein riesiger Komplex, der aber nur noch wenig genutzt wurde. Ich strebte nun schon recht hungrig dem Eingang zu. Es herrschte kaum Betrieb, keine Robot-Krankenwagen sausten herum, alles lag ruhig und friedlich da.

Der junge Mediker erwartete mich selbst am Eingang. Er hatte sich in der weitläufigen Wartehalle in einen Sessel gefläzt, las in einer Zeitschrift und rauchte eine Zigarette (an Tabakprodukten hatte es ebenso wie an Alkohol bisher bezeichnenderweise noch nie einen Engpass gegeben).

»Hallo«, begrüßte er mich. »Endlich lohnt sich also mal eine Nachtschicht für mich. Sonst passiert ja nie etwas.«

»Wir werden sehen. Wenn Sie vielleicht erst mal einen Kafe haben, bin ich auch etwas munterer.«

»Oh, ich hatte angenommen, Sie haben unterwegs irgendwo gefrühstückt, aber ich glaube, bei uns ist auch noch einiges übrig.«

Ich folgte ihm also in den Fahrstuhl, der uns in den 6. Stock brachte, und in einen Raum mit großen Fenstern, der wohl früher eher als Krankenzimmer für Luxuspatienten gedient hatte.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺218,49

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
262 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783862871841
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre