Kitabı oku: «Das Auge des Feinschmeckers», sayfa 2
James Bond lässt grüßen
Die dunklen Häuser des Stadtteils Fountainbridge pfiffen auf gutes Aussehen, solange sie nur ihren Bewohnern eine sichere Zuflucht bieten konnten. Äußerlich ähnelten sie einer Ansammlung von Mini-Burgen, gebaut für die Stadtbewohner der Neuzeit. Besucher konnten durch die knappen Vorhöfe hindurch gut erspäht werden. Freilich mussten die Menschen des 21. Jahrhunderts weder eine Zugbrücke überqueren noch mit siedendem Pech rechnen. Die einzige heiße Essenz, die man ihnen offerierte, war eine gute Tasse Tee. Und obwohl man Sean Connery den Wegzug aus seinem Viertel nach Jahrzehnten noch übel nahm, käme auch er in diesen Genuss. Aus dem Guest House »Villa Buongiorno« trällerte eine Stimme unaufhörlich »I love you, I love you«. Der Papagei saß in einem Käfig und bewegte außer den künstlichen Stimmbändern rein gar nichts. Er würde sehr wahrscheinlich noch älter werden als ein leibhaftiges Tier. Sein Herz konnte nicht aussetzen, allenfalls die Batterie, die das integrierte Tonband antrieb. Die Dame seines Herzens, Maria Vitiello, schmunzelte und schüttelte den Kopf, während sie weiter die Kartoffeln schälte. Was für eine Zukunft hätte sie mit dem kleinen Stoff-Caruso auch haben können? Ihr Mann Alberto, den sie mitsamt seinem spitzbübischen Humor genießen konnte, seit sich die beiden als Jugendliche zufällig in Edinburgh getroffen hatten, schaltete das Band mit einem Grinsen ab und ging zur Haustür. An diesem Morgen bekam er Besuch von MacDonald, der sich aus dem Bus schwang, in die Leamington Terrace einbog und dabei ein wenig wie ein Seelöwe auf spontanem Landurlaub aussah, mit dem winzigen Unterschied, dass dieser keine glänzend polierten Schuhe tragen würde. Das Guest House offerierte den typischen Geruch von gebratenen Eiern mit Schinken. Tausende von herzhaften Frühstücken waren hier bereits serviert worden. »Ciao, Alberto, heute ist wieder ein herrlicher Tag, nicht wahr?«, rief er, sich des unerschöpflichen Erlebnisfundus des Hauses bedienend. In einer meteorologisch unerquicklichen Zeit hatte Alberto einst zwei reizende, ältere Damen aus den USA beherbergt. Dank ihrer extremen Kurzsichtigkeit merkten sie nicht, dass es Katzen hagelte und er begrüßte sie drei Tage hintereinander enthusiastisch mit demselben Satz. Heute war Alberto allerdings so in Gedanken, dass er das Zitat nicht erkannte. »Ciao, Angus. Wenn ich an die Evakuierung von gestern denke, geht’s mir in der Tat ausgesprochen gut.«
»Hattest du Bombenalarm?«
»Eher Heißmilchalarm. Ein Gast wollte sich Milch warm machen, im Wassererhitzer! Es hat drei Stunden gedauert, die Bescherung von der Decke zu kratzen. Kannst du dir das vorstellen?«
»Du meine Güte, der wollte wohl ›Under Milk Wood‹ von Dylan Thomas in die Tat umsetzen?«
»Es gibt Schlimmeres im Leben, zum Beispiel den Kommentar eines Kollegen. Er hat mich gefragt, worüber ich mich aufrege. Bei ihm hat letzten Monat ein Gast versucht, sich Baked Beans zu kochen, was der Wassererhitzer auch persönlich nahm. Er hat Fotos geschossen für die Versicherung. Wenn du jemandem gehörig Angst machen möchtest, leihe ich dir sie gerne aus. Vielleicht für Halloween? Auf Ideen kommen die Leute. Wie läuft es bei dir so?«
»Ich habe gestern Abend einen abscheulichen Imbiss serviert bekommen.«
»Das wundert mich gar nicht, Angus. Eure schottische Küche! Alles wird frittiert: Fisch, gekochte Eier, sogar Schokoriegel!«
»Es war beim Mexikaner«, erwiderte MacDonald, der sehr wohl wusste, dass Alberto nur Köche ernst nahm, die aus Italien stammten und eine professionelle Ausbildung absolviert hatten, so wie er.
»War das Personal mexikanisch?«, fragte Alberto, denn diese Küche war ihm fast so sehr zuwider wie die der Yanks.
»Nein, vermutlich eher schottisch.«
»Aha! Was hattest du denn?«
»Zunächst so einen unangenehmen Geschmack im Mund ...« »Ich meinte, was du zu essen hattest.«
»Wenn ich das nur wüsste. Der Fleischgeschmack war derart fremdartig und widerwärtig, dass er mich noch immer tyrannisiert. Als ob ich ständig an einem Abfallhaufen schnuppern würde.«
»Puh, dann muss es schlimm gewesen sein, denn das schaffen normalerweise nur ranziger Knoblauch oder Kohlblätter, die das Zeitliche gesegnet haben.« Alberto stemmte die Arme in die Seiten, ein Zeichen für angestrengtes Sinnieren.
»Was überlegst du, mein Freund?«
»Nun«, erwiderte er amüsiert, »vielleicht haben sie dir eines dieser großen, garstigen Tiere serviert. Sie werden gerne für die Herstellung von Handtaschen benutzt.«
»Du meinst, Alligatorenfleisch. Nein, das war es keineswegs.«
»Woher willst du das wissen?«
»Nun, ich habe bereits ...« MacDonald brach ab, weil er nicht wollte, dass sein Freund einen falschen Eindruck von ihm bekam. Er wusste, wie tierlieb Alberto war.
»Sag bloß, du hast schon Krokodilfleisch gegessen. Raus damit«, rief Alberto, der keinerlei Probleme damit hatte, belustigt.
»Nun, äh, in Südafrika aß ich einmal ein Crocodile Carpaccio. Das war es jedenfalls nicht.«
»Ich glaube dir aufs Wort. Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Erde, der am Geschmack eines Huhns erkennen kann, auf welchem Bein es nachts geruht hat.«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Viel hängt auch davon ab, wie die Tiere gehalten werden. Heute ist das meist eine einzige Quälerei.«
»Was gibt es bei euch zum Lunch?«
»Nichts Besonderes, einen kleinen Salat, Pasta und dann etwas Fisch.«
»Die Pasta stellst du selbst her, wie ich annehme?«
»Aber natürlich, Angus. Zufällig bin ich in der Gastronomie tätig und weiß, wie es gemacht wird.«
»Apropos, kannst du mir vielleicht ein gutes italienisches Restaurant in der Stadt nennen?«
»Leider nicht. Die kennen hier noch nicht mal die typischen Gerichte. Das letzte Mal, als ich an einem dieser unwirtlichen Plätze mein Geld verschleuderte, musste ich dem Kellner erklären, dass ein mit Wasser verpanschter Reis noch kein Risotto ist.«
MacDonald schüttelte irritiert den Kopf: »Das Problem ist, dass in den meisten Fällen noch nicht einmal der Koch aus Italien kommt.«
»Und wenn, dann hat er garantiert in meiner Heimat am Betonmischer gestanden. Angus, verrate mir mal, wie du es hier aushältst, wo du dich auch noch beruflich Tag für Tag damit herumschlagen musst.«
»Das frage ich mich selbst häufig.«
»Wie lautet die Antwort?«
»Keine Ahnung.«
»Ich weiß nicht, ob es dich tröstet, aber Edinburgh hat in kulinarischer Sicht extreme Fortschritte gemacht. Früher war Olivenöl zum Beispiel Mangelware. Das hast du nur in Miniaturfläschchen bekommen, in der Apotheke!« Alberto zuckte die Schultern und schaute sehnsüchtig in Richtung seiner grünen Oase, was MacDonald nicht unbemerkt blieb. »Was macht der Garten?«
»Mir vor allen Dingen eine Menge Arbeit«, stöhnte Alberto, »aber Maria hilft er, sich zu entspannen.«
»Lass dich nicht aufhalten, sonst schießt noch der Salat.«
»Im Moment muss ich mir eher irgendetwas ausdenken, was die Füchse vertreibt.«
»Du hast Füchse im Garten?«
»Oh ja, die schleichen von The Meadows rüber. Wenn du willst, erlege ich dir heute Nacht einen. Ich mag sie nicht allzu sehr. Richten nur Schaden an. Komisch, dass die sich plötzlich so vermehrt haben. Ich frage mich, ob man die Biester essen kann.« »Das würde ich an deiner Stelle bleiben lassen. Füchse schmecken vermutlich noch schlechter als das Fleisch beim ›Texmex‹.«
»Wirst du die Sache mit dem Restaurant weiter verfolgen, Angus?«
»Darauf kannst du dich verlassen! Meine gesamte freie Zeit werde ich investieren.«
»Weißt du, wem das Lokal gehört?«, fragte Alberto abwesend, bereits mit einem Bein im Garten.
»Noch nicht, aber ich habe eine Idee, wen ich darauf ansprechen kann.«
Nachdem Alberto seinen Freund zur Tür gebracht hatte, zwang er seiner Frau ein Gespräch auf. So stellten sich für sie mitunter seine langen Monologe dar. »Maria, hörst du mir überhaupt zu? Ich weiß gar nicht, warum du ständig die Nase in deinen Blätterwald stecken musst. In der Zeitung steht doch nie etwas Neues.«
»Woher willst du das wissen? Du liest doch höchstens die Überschriften.«
»Genügt völlig.«
»Und doch ist dein bester Freund Journalist.«
»Erstens schreibt er nicht über Mord und Totschlag, sondern über la cucina. Und zweitens sehe ich es kommen, dass ich dem Herrn auch dieses Mal wieder aus der Patsche helfen muss.«
»Solange du dich nur aus der Schusslinie hältst.«
Alberto legte die Hand auf die Brust. »Keine Sorge, so schnell mache ich dich nicht zur Witwe.«
»Das hast du das letzte Mal auch gesagt.«
»Nun? Steht etwa ein Geist vor dir?« In Wahrheit musste er sich zu Hause mehr fürchten als auf der Straße, so viele Kriminalgeschichten las seine Gattin. Weil sie früher oder später auf dumme Ideen kommen könnte, schlief er bereits mit einem offenen Auge.
»Ein Intellektueller ist für mich jemand, der die Ouvertüre zu Wilhelm Tell anhören kann, ohne dabei an den ›Lone Ranger‹ zu denken.«
Billy Connolly, Kabarettist und Schauspieler aus Glasgow
Herr Doktor / Frau Doktor
Heute stand er an, der mehrfach verschobene Besuch bei seinem Arzt. Den letzten Anruf der Sprechstundenhilfe hatte er mit der lapidaren Äußerung »Ja, selbstverständlich, ich komme auf jeden Fall, selbst wenn der Primeur in den nächsten zwei Stunden ausgeliefert wird« beantwortet. »Nein, Primeur, nicht Premier!« MacDonald befand sich seit Jahren in Behandlung wegen eines mutmaßlichen Übergewichts, das sich aus geheimnisvollen Gründen nicht in den Griff kriegen ließ. Und das, obwohl er bereits beim Anblick seines Trimmrades im Schlafzimmer Schweißfontänen vergoss. Er bewunderte das blaue Harris Tweed-Jackett, das sich seinem Oberkörper gefällig anschmiegte. Wie nach der Einnahme einer Wunderdroge kehrte die gute Laune in seinen Leib zurück. Zwei Dutzend der sündhaft teuren, handgewebten Werke, die nicht zufällig Namen trugen wie Gemälde – Hebridean Blue, Autumn Gold, Heather Green oder Oatmeal –, besaß er. Alle nebeneinander gelegt hätten einen wunderschönen Regenbogen ergeben und wären einer Ausstellung würdig gewesen. Kritische Kommentare von Freunden schmetterte er, sich seiner Sünde ein bisschen bewusst, ungefällig ab: »Was soll das heißen, zu teuer? Essen muss ich beruflich. Golf ist mein einziges Hobby. Da wird nebenher noch ein kleiner Spaß gestattet sein. Ist es etwa meine Schuld, dass ich ins Turnschuhzeitalter hineingeboren wurde?« Das maßangefertigte Vergnügen setzte seine eigenen Kilos zwar sehr vorteilhaft in Szene. Aber was geschah, wenn noch mehr mexikanische Restaurants in Edinburgh eröffneten und ihn mit Aushungerung bedrohten? So weit würde er es nicht kommen lassen! Er zeigte dem fragenden Spieglein ohne zu zaudern auch die rechte Schulter und entfernte graziös ein Staubflöckchen. Da ihn keine weiteren dringlichen Angelegenheiten im Haus beschäftigten, machte er sich seufzend auf den Weg. Vielleicht würde ihn der Arztbesuch ja etwas ablenken von der allzu grausigen Erinnerung. Um der lockenden Versuchung zu entgehen, drückte er, sowie seine Stammbäckerei zu erblicken war, fest die Augen zu. Die Versuchung war unerbittlich. Sie ereilte ihn in Gestalt von Mrs Patterson, die ein Werbeplakat im Schaufenster anbrachte: »Hallo, Mister MacDonald, warum so eilig? Wollen Sie nicht vielleicht unser Angebot begutachten?«, rief die freundliche Hüterin des Horts der Verführung. Es wäre ungemein unhöflich gewesen, einer netten Dame nicht zu antworten. Und Mrs Patterson war eine solche.
»Was haben Sie denn Schönes, meine Liebe?«
»Eine ganze Menge. Ich kann Ihnen die Chelsea Buns empfehlen. Allerdings sind die Scones heute auch wieder delikat, schauen Sie«, sagte sie und hob die süße Versuchung zum Beweis mit der Gebäck-Zange in die Luft, »sie schweben geradezu.«
»So, tun sie das? Wie immer glaube ich Ihnen aufs Wort. Gut, dass es noch Dinge gibt im Leben, auf die man sich verlassen kann. Packen Sie mir doch bitte von beiden je vier, nein, besser fünf ein, ja?« Schuldbewusst trug er die Tüte in möglichst großem Abstand neben sich her, so als ob sie ihm jemand aufgedrängt hätte. Leider lag die Arztpraxis im zweiten Obergeschoss, in einem Haus ohne Aufzug. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich Treppensteigen als Disziplin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Er versuchte, die Sprechstundenhilfe als unfreiwillige Helferin zu gewinnen und fragte sie demonstrativ laut: »Können Sie das bitte für mich aufbewahren? Es ist für meinen Wauwau.« Mrs Muir, der es keine besondere Mühe machte, die Umrisse der Kalorienbomben zu erspähen, fragte: »Sie besitzen einen Hund, Mister MacDonald. Was für eine Rasse ist es denn?«
»Ja, äh, das ist noch nicht so recht erforscht.«
»Jedenfalls scheint er aber ein ganz Süßer zu sein, nicht wahr?« MacDonald lief sehr rot an. Und gerade, als er wieder eine passable Gesichtsfarbe angenommen hatte, ereilte ihn der nächste Schreck. Die Tür des Sprechzimmers öffnete sich und in ihr stand eine fremde Person, bildhübsch und mit pechschwarzen Haaren, seiner Lieblingshaarfarbe bei Damen. »Mister MacDonald bitte«, sagte sie in einem Ton, der freundlich und fordernd zugleich klang und hervorragend zur kecken Nase und den Sommersprossen unter den Augen passte. »Mein Name ist Miller, Karen Miller. Ich habe die Praxis von meinem Vorgänger übernommen. Treten Sie bitte ein und nehmen Sie Platz.« Die Ärztin nahm nachdenklich die Brille vom Gesicht. Sie setzte die zarten Ellbogen auf den Tisch, verklammerte die Finger und sah zur Patientenakte auf der linken Seite des Schreibtisches. Als sie die Zahl in der Rubrik Blutdruck las, schüttelte sie heftig den Kopf, sah MacDonald bekümmert an und fragte dann: »Was wiegen Sie?«
»Ist ein Staatsgeheimnis. Es wird Ihnen aber ein Leichtes sein, mein Volumen zu berechnen, indem Sie Grundfläche mit Höhe multiplizieren und das Ergebnis durch drei teilen.«
»Bewegung ist das A und O.«
»Wissen Sie, Dr. Miller, ich habe nichts gegen Ihr Alphabet, aber es scheint mir zu wenig Buchstaben zu enthalten.«
»Sie wissen jedoch, wie ich es gemeint habe, oder?«
»Ich fürchte ja und gelobe baldige Besserung«, antwortete er und kreuzte die Finger hinter dem Rücken.
»Die meisten britischen Todesfälle sind auf Herz- und Kreislauferkrankungen zurückzuführen«, dozierte die Ärztin.
»Dann habe ich ja großes Glück gehabt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin Schotte, kein Brite.«
»Abgesehen davon ...«
»Ich weiß, ich soll nichts mehr essen.«
»... sollten Sie besonders kalorienreiche Kost meiden.«
»Das ist ungefähr so, als ob ich Ihnen riete, den Blutdruck Ihrer Patienten nur noch zur Hälfte zu messen.«
»Wenn Sie eines Tages tot umfallen, sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
»Aber nein, Frau Doktor, spätestens, wenn ich einen Schlaganfall habe und ein Jahr auf einen Krankenhausplatz warten muss, werde ich abspecken.«
»Kann ich mich darauf verlassen?«
»Besser nicht«, brummte MacDonald angesichts dieser schrecklichen Vorstellung. »Eine Sache wäre da noch, Frau Doktor.«
»Ja bitte«, sagte diese erwartungsvoll.
»Der Hinweis an der Eingangstür, soll ich den ernst nehmen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Da steht: Die Toilette ist kaputt. Bitte benutzen Sie das zweite Stockwerk. Nein, Scherz beiseite. Darf ich Sie etwas sehr Persönliches fragen?«
Dr. Miller sah mehr als interessiert aus: »Schießen Sie los.«
»Essen Sie hin und wieder etwas?«
»Weshalb möchten Sie das wissen?«
»Nun, ich würde gerne eine Kleinigkeit für Sie kochen, wenn Sie einverstanden sind.«
»Das ließe sich durchaus arrangieren. Rufen Sie mich Ende der Woche einfach einmal an, ja?«
»Mit dem größten Vergnügen«, sagte MacDonald. »Cheerio, einen unvergleichlichen Tag wünsche ich Ihnen noch.« Draußen vor der Tür beglückwünschte er sich gleichermaßen zu seinem ungewohnten Wagemut und dem Überraschungserfolg: »Respekt, das hast du schön gemacht.« Hin und wieder gefiel er sich darin, an so etwas wie eine Vorsehung zu glauben. Sicher war es kein Zufall, dass diese Begegnung heute in dieser Form stattgefunden hatte. Die Aussichten waren vielversprechend. Und morgen begannen auch noch die Dreharbeiten zu seiner neuen Kochsendung. Der Regisseur traf eine Menge Leute und konnte ihm vermutlich mit seiner Mexikaner-Recherche weiterhelfen. Allerdings war Robertson immer sehr auf die Sendung konzentriert. Die Frage musste deshalb gut getarnt, wie zufällig, im Gespräch auftauchen.
»Ich stimme völlig überein ... die Kinder dieses Landes sind unser bestes und wertvollstes Rohmaterial.«
Duchess of Atholl, in einer Debatte des britischen Unterhauses, 17.12.1925
Die Qual der Wahl
»Leonard, ich sag’s dir jetzt noch ein Mal. Gutes Schuhwerk ist unabdingbar. Das war in der gesamten Geschichte der zivilisierten Welt schon immer so, sogar als dein Vater mich noch ärgerte, und es wird sich niemals ändern.« Wäre die dünne, steife Dame in ihrem Trenchcoat in zwei Hälften zerbrochen, hätte sie ihren Sohn wie ein sprechender Regenwurm unerbittlich von links und rechts weiter belehrt. In einem Stück fuhr sie fort: »Er zählte nicht zu den klügsten Menschen. Dennoch hat er gewusst, dass man bei Schuhen nicht knausert. Wir hungern eine Woche, aber an den Tretern wird nicht gespart. Du musst wissen, dass ich es nur gut mit dir meine.« Ihr dünnes, schlohweißes Haar, auf beiden Seiten strategisch verteilt, unterstrich das Verdikt für all die Menschen in Hush Puppies, welche die Armut für bare Münze nahmen. Den Angesprochenen, promovierter Akademiker und in guter Stellung, bewahrten seine 44 Lebensjahre nicht vor der Schande der Zurechtweisung durch seine Mutter. Er putzte seine rahmenlose Brille und sagte nichts. Man hätte annehmen dürfen, dass er sich im Laufe des Lebens an diese Form des Purgatoriums gewöhnt hatte, doch die Vermutung würde jeden Lügendetektor zum Schmoren bringen. Tief in seinem Innern ärgerte er sich immer wieder aufs Neue. Was dachte sie sich bloß dabei, ihn vor der Schuhverkäuferin so zurechtzustutzen? Schließlich war er ein angesehener Wissenschaftler und kein Krimineller. Die Schuhe, die er trug, waren völlig in Ordnung. Zugegeben, er müsste sie bei Gelegenheit zum Schuster bringen, um die Löcher flicken zu lassen. Aber wann um alles in der Welt sollte er sich mit derart profanen Dingen abgeben? Er war dem Erkenntnisgewinn und der Nachwelt verpflichtet, keinesfalls aber einer Frau, die ihm gegenüber sehr undankbar war und sich Mutter schimpfte. All das ging ihm durch den Kopf, dessen unordentliches Haar Zeugnis von den Qualen ablegte, verließ aber niemals als artikulierte Rede sein Inneres. Und so erklangen stattdessen die Laute: »Ja, Mutter, ich denke, du hast recht.« Stolz, im ungleichen Kampf der Klügere geblieben zu sein, justierte er seine Brille. Wenn er jetzt durchhielt, konnte er in ungefähr einer Stunde im Institut sein und dort einen glücklichen Nachmittag verbringen, ohne Häme und Zurechtweisungen. »Ich bin froh, dass du das eingesehen hast, mein Sohn.« Dr. Hyckill band sich die durchlöcherten Treter auf und zog das Paar Business-Schuhe an. »Jetzt geh schon ein paar Schritte auf und ab, sei so nett.« Unter dem Blick der matronenhaften Verkäuferin wandelte er hin und her, wie die Pinguine, die im Edinburgher Zoo täglich um 14.15 Uhr den Pflegern in einem sich schlängelnden Halbkreis folgten, dabei aber wesentlich mehr Spaß hatten als ihr klägliches, menschliches Double. »Wie fühlen sie sich an? Nun sag doch etwas bitte.« In erneuter Agonie versunken, prallte die Frage an ihm ab. »Wir nehmen das Paar, meine Liebe. Machen Sie uns bitte die Rechnung fertig. Bestimmt findet mein Sohn irgendwann zu unserer schönen, englischen Sprache zurück. Ich gebe die Hoffnung jedenfalls nicht auf.« Die Tradition wollte es, dass er seine Mutter nach dem Einkauf nach Hause fuhr. Missmutig öffnete er der alten Dame die Tür des buckligen, auffallend roten Morris, Modell Minor 2000, und wartete, bis sie eingestiegen war. Das Auto war innen noch schmutziger als außen, worüber Mrs Hyckill pikiert die Nase rümpfte. Auf der Rückbank lag ein Gemenge von Aktenordnern und Schokoladepapierchen. »Leonard, wann wirst du endlich deinen Wagen besser pflegen? Und fahr bitte langsamer. Im Gegensatz zu dir möchte ich noch eine Weile am Leben bleiben.«
»Das wundert mich.«
»Wie bitte?«, fragte Frau Hyckill senior.
»Ich habe nichts gesagt, Mutter. Es ist nur, dass man in diesen Zeiten nie weiß, wer einen verfolgt.«
»Da hast du aber etwas Wahres gesagt, Leo. Wenn du mir die Einkäufe ins Haus getragen hast, kannst du dich deiner Beschäftigung widmen. Was war es noch mal, was du betreibst?«
»Ich arbeite an ...«
»Gut, aber wozu das alles?«
»Wie bitte?«
»Warum machst du nicht eine Arbeit, die jeder versteht?«
»Es ist in der Tat ein sehr delikater Zustand für dich. Ich werde mich umgehend um einen anderen Job kümmern. Wie wäre es mit Arzt oder Immobilienmakler? Ich glaube, die besitzen enorme Vorteile, zumindest, wenn in der Nachbarschaft über sie referiert werden soll.«
»Arzt, oh ja, oder Beamter im gehobenen Dienst, wie es dein Vater war.«
»Hast du ihm jemals gesagt, dass du seinen Job für respektabel hieltst?«
»Was tut denn das zur Sache?«
»Nichts, gar nichts.«
»Also bitte. Jetzt fahr schon los und komme bitte nicht so spät nach Hause, hörst du. Sonst muss das Mädchen wieder dein Abendessen aufwärmen.«
»Ist gut, Mutter. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«
Bevor sie ihre Frage ausstieß, fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. »Wer war denn die nette junge Frau, mit der du vor Kurzem gesehen wurdest?«
»Wie bitte?«
»Du hast völlig richtig gehört. Eine liebe Freundin von mir hat dich beobachtet. Ich habe ein Recht zu wissen, wer die Dame ist.«
»Findest du?«
»Aber Leonard! Ich bin deine Mutter. Von allen Menschen auf der Welt würde ich mich am meisten freuen, wenn du eine Verlobte hättest.«
»Deine Bekannte hat sich geirrt. So etwas kommt vor.«
»Wie schön wäre es, dich bald vor dem Traualtar zu sehen. Doch solche Ereignisse wollen vorbereitet werden. Am besten begleitest du mich am Sonntag zum Gottesdienst.«
»Ich habe leider keine Zeit.«
»So lange schon warst du nicht mehr dabei. Der Pfarrer fragt immer nach dir. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Früher konntest du es nie erwarten, das Haus Gottes zu betreten.«
»Damals war ich ein unschuldiges Kind und kannte die Welt noch nicht.«
»Und was bist du heute? Etwa ein Sünder?«
»Ich weiß kaum noch, was ich bin und was nicht. Es ist alles so anstrengend geworden.«
»Aber deiner Beschäftigung bist du doch immer gerne nachgegangen?«
»Ursprünglich schon, das stimmt.«
»Du weißt, dass du nicht arbeiten musst. Wir sind versorgt.«
»Natürlich.«
»Ich werde das Mädchen anweisen, uns heute Abend etwas Schönes zu kochen. Hast du einen besonderen Wunsch?«
»Vielleicht etwas Vegetarisches?«
»Bitte was?«
»Ich überlasse es dir, Mutter.«
»Eine schöne Suppe?«
»Ja.«
»Und Fisch?«
»Gerne.«
»Was denn nun?«
»Mutter, ich muss jetzt wirklich gehen.« Die bohrende Fragerei entnervte ihn immer wieder aufs Neue. Wenn es nach ihm ginge, würde jeden Tag das gleiche Gericht auf den Tisch kommen! So wie er jeden Tag die gleiche Kleidung trug: einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Man musste sich auf das wirklich Wichtige im Leben konzentrieren: die Forschung.
»Sir, ich stehe über allen nationalen Vorurteilen und muss Ihnen sagen, ich ziehe meinen Hut vor der Überlegenheit der Schotten in puncto Suppen. Schildkrötensuppe und Mulligatawny ausgenommen. Ein langjähriger Freund von mir führt diesen Sachverhalt auf die lange und innige Verbundenheit mit den Franzosen zurück, die berühmt sind für ihre Suppen.«
Dr. Redgill, in den »Annals of the Cleikum Club«, zitiert in F. Marian McNeills »The Scots Kitchen«