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Mexiko-City 1968

Der schwarze Anti-Rebell
1968 in Mexiko-City, als bei Protesten Menschen starben, als Smith und Carlos die Fäuste erhoben, stolzierte Olympiasieger George Foreman mit Stars and Stripes durch den Ring.

Von Hartmut Scherzer

Die weltweiten Demonstrationen der „68er“ flauten auch vor den Spielen der XIX. Olympiade nicht ab. Die wochenlangen Studentenunruhen in Mexiko-Stadt endeten in einem Blutbad am 2. Oktober 1968, zehn Tage vor der Eröffnung. Wie perfide: Mit einem Massaker sicherte die eigens geschaffene Eliteeinheit „Batallón Olimpico“ den olympischen Frieden. Auf der Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco starben Hunderte Menschen. Eine genaue Zahl der Getöteten existiert bis heute nicht. IOC-Präsident Avery Brundage, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, verließ sich in Zeiten des Aufruhrs auf das Wort der Regierung: „Wir haben die Zusicherung erhalten, dass die Wettbewerbe durch nichts gestört werden.“ Wie die Sicherheit hergestellt wurde, interessierte ihn offensichtlich nicht. Hauptsache: The games can start.


Die mexikanische Leichtathletin Enriqueta Basilio war die erste Frau in der olympischen Geschichte, die das Olympische Feuer entzündete: am 12. Oktober 1968 während der Eröffnungsfeier im Estadio Olímpico Universitario. Foto: picture-alliance / dpa

Die Proteste der „68er-Bewegung“ gegen den Krieg in Vietnam, gegen Rassismus nach der Ermordung Dr. Martin Luther Kings am 4. April 1968 und gegen all die anderen Ungerechtigkeiten dieser Welt blieben nicht außen vor. Die Auflehnung stieg stumm, in schwarzen Socken, mit gesenktem Haupt und gen Himmel gereckter Faust im schwarzen Handschuh auch aufs Medaillen-Podest des Estadio Olimpico. Während der Siegerehrung für den 200-Meter-Lauf, bei Hymne und Hissen der Flaggen, demonstrierten die amerikanischen Gold- und Bronzemedaillengewinner, Tommie Smith und John Carlos, „Black Power“. Die schwarzen Sprinter bekannten sich zur radikalen Form der ansonsten friedlichen Bürgerrechtsbewegung. Smith und Carlos wurden aus der Mannschaft und dem Dorf geworfen. Sie mussten innerhalb von 48 Stunden das Land verlassen.

Für die einen bedeutet die schweigende Empörung ein allzeitiges Athleten-Symbol für mutigen Widerstand. Für andere war die Demonstration von Mexiko respektlos, ja sogar Verrat. „Eines ist sicher: Das Bild bleibt unvergessen“, schrieb die „New York Times“ vier Jahrzehnte später zum „andauernden Disput“. Die Protest-Szene von Smith und Carlos steht als Denkmal in Lebensgröße auf dem Campus ihrer Universität San José State.

Zur patriotischen Gegendemonstration fühlte sich zehn Tage danach ein gewisser George Foreman berufen. Der neunzehnjährige Hüne aus Houston, Texas, hatte im Schwergewichtsfinale des Boxturniers den Russen Ionas Tschepulis nach Strich und Faden verprügelt. Dieser schwarze Olympiasieger stolzierte mit einem Stars-and-Stripes-Fähnchen in der rechten Pranke durch den Ring und verbeugte sich nach allen vier Seiten. Das Image vom „Uncle Tom“ störte Foreman nicht.

Im Gegenteil: „Ich liebe diese Fahne und diese Hymne“ – mit diesen Worten sollte der zweimalige Profiweltmeister ein halbes Jahrhundert später während der allgemeinen Diskussionen um den Kniefall des Football-Stars Colin Kaepernick sein patriotisches Bekenntnis wiederholen. Den gegen Rassismus und Polizeigewalt protestierenden Quarterback der San Francisco 49ers schimpfte der ehemalige Boxchampion und bekennende Donald-Trump-Anhänger einen „sore loser“. Der „schlechte Verlierer“ hatte in der National Football League (NFL) der Hymne und Fahne den Respekt verweigert, indem er während der traditionellen Zeremonie vor den Spielen auf einem Bein kniete.

Zwischen den Black-Power-Fäusten von Smith/Carlos am 16. Oktober 1968 und dem Kniefall Kaepernicks am 1. September 2016 führte George Foreman (Jahrgang 1949/10. Januar) im krassen Kontrast zu Muhammad Ali das nach dem „Größten“ außergewöhnlichste Leben eines Champions in der Geschichte des Schwergewichtsboxens. Der historische „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa (30. Oktober 1974), wo „Big George“ den Weltmeistertitel durch K.o. in der 8. Runde an Ali verlor, verkümmert in seiner bewegenden Biographie fast zur Randgeschichte. Nach seinem Übertritt zu den Profis hatte der Gigant mit seiner urwüchsigen Kraft alles umgehauen, am 22. Januar 1973 in Kingston, Jamaika, den Ali-Bezwinger Joe Frazier in den ersten beiden Runden sechsmal zu Boden geschlagen und war Weltmeister geworden.

Es ist der 17. März 1977. Unerträgliche Hitze hat das Roberto Clemente Coliseum in San Juan, Puerto Rico, in einen Backofen verwandelt. George Foreman verliert den Kampf, den sechsten seines Comebacks, gegen Jimmy Young über zwölf Runden einstimmig nach Punkten. Als der völlig erschöpfte Boxer in der Kabine, auf einer Pritsche liegend, nach Atem ringt, glaubt er, zu sterben. Foreman verfällt in Halluzinationen und behauptet anschließend: „Jesus Christus ist mir erschienen. Es hat mich zerrissen, kein Christ zu sein. Ich bin wirklich gestorben. Nach einigen Momenten kam das Leben in mir zurück.“

Aus dieser Sinnestäuschung heraus, die für ihn keine war, zieht der erst 28-Jährige eine radikale Konsequenz und überrascht die Sportwelt mit seinem sofortigen Rücktritt. Foreman gründet in einem Armenviertel von Houston eine Kirchengemeinde, „The Church of The Lord Jesus Christ“. Der Profiboxer wird Laienprediger (Christian Minister) und zieht in den folgenden zehn Jahren keinen Boxhandschuh mehr an. Die Rückkehr 1987 begründet er mit finanziellen Schwierigkeiten für seine Kirche und das von ihm gegründete Jugendzentrum. Er will Teenager davor bewahren, was auch ihm einst drohte: auf die schiefe Bahn zu geraten. „Big George“ ist noch „bigger“, wiegt bei einer Größe von 1,92 Meter massige 121 Kilo, als er am 9. März 1987 in den Ring zurückkehrt und in der Folge zwei Dutzend „tomato cans“ (Fallobst), wie die amerikanische Presse spottet, k.o. schlägt.

Einem imponiert der drollige Glatzkopf mit den schlagharten Fäusten und schlagfertigen Sprüchen: Donald Trump. Der New Yorker Immobilien-Mogul war ins Casino- und Boxgeschäft eingestiegen, „to make Atlantic City great“ – mit Mike Tyson als Attraktion für die Zocker im Trump Plaza Hotel and Casino. Als Tyson seinen Titel sensationell in Tokio verlor, Evander Holyfield inzwischen Champion wurde, Trumps geplanter WM-Kampf Holyfield-Tyson platzte, weil der Herausforderer wegen Vergewaltigung zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde, erfand der heutige amerikanische Präsident „The Battle of the Ages“: Evander Holyfield, 28 Jahre alt, gegen den 42-jährigen George Foreman. Datum: 19. April 1991. Ort: Das Convention Center direkt neben dem Trump Plaza in Atlantic City. Die garantierte Börse: 12,5 Millionen Dollar für Foreman. Donald Trump habe ihn damals vor dem Bankrott gerettet, erzählt der 71-Jährige in jeder Talkshow: „Dafür bin ich ihm ewig dankbar. Donald Trump ist ein guter Präsident.“

Die Punktniederlage Foremans nach zwölf Runden wurde hymnischer gewürdigt als jeder seiner Siege. Zum „Volkshelden“ erklärte die Zeitung „Philadelphia Inquirer“ den „Oldie“, dessen nicht für möglich gehaltenes Durchstehvermögen Fernsehkommentatoren als „historisches Ereignis“ priesen. Auf der Pressekonferenz predigte der humorvolle Ring-Methusalem, ganz „Reverend“: „Ich habe aller Welt bewiesen, dass sich niemand zu schämen braucht, ein älterer Mensch zu sein.“ Alte Paare sollten „wieder Rock ‚n’ Roll tanzen“. Demonstrativ war Foreman in den Pausen stehen geblieben und verzichtete „auf das Vorrecht alter Leute, sich zu setzen“. Die beiden Schwellungen um beide Augen machten sein breites Gesicht noch breiter – und sein Grinsen. Er kündigte seinen Rückflug nach Houston noch in der Nacht an: „Ich muss mich auf die Sonntagspredigt vorbereiten. Aber ihr habt mich nicht zum letzten Mal im Ring gesehen. Ich werde zurückkehren.“

Und wie! Am 5. November 1994 schlägt Foreman in Las Vegas, uneinholbar nach Punkten zurückliegend, den WBA/IBF-Weltmeister Michael Moorer in der 10. Runde mit einem rechten Donnerschlag k.o. und wird zwanzig Jahre nach der Niederlage gegen Ali wieder Weltmeister. Mit 45 Jahren und 67 Tagen geht George Foreman als ältester Champion des Schwergewichts in die Geschichte ein. Durch ein Fehlurteil behält er am 22. April 1995 in Las Vegas gegen Axel Schulz den IBF-Titel, den er anschließend niederlegt. Foreman boxt noch dreimal, letztmals am 22. November 1997, und verliert in Atlantic City gegen Shannon Briggs nach Punkten. Da ist er fast 48 Jahre alt. Sein Kampfrekord zwischen 1969 und 1997: 76 Siege, davon 68 durch K.o., fünf Niederlagen, davon eine durch K.o.

Nach seinem endgültigen Rücktritt vom Ring wurde der populäre Boxer smarter Verkäufer. Vor allem verstand es der charmante Koloss glänzend, sich selbst zu verkaufen. Der fünfmal verheiratete (einmal mehr als Ali) Vater von zehn Kindern (eines mehr als Ali) verkaufte sein abwechslungsreiches Familienleben 2008 ans Fernsehen für eine sechsteilige Reality-Serie: „The Foreman Family“. Seine fünf Söhne heißen alle George. Mit seiner fünften Frau seit 1985, Mary Joan, hat er die fünf gemeinsamen Kinder, zwei Töchter und George IV, V und VI, großgezogen. Der von ihm vermarktete, fettabsaugende Foreman-Elektro-Grill soll seit 1996 an die 100 Millionen Mal verkauft worden sein. “I am a grillionaire”, rühmt sich der clevere Geschäftsmann. Und George Foreman verkauft Donald Trump: “President Trump is the most down-to-earth guy.”

Der Plattform „The Undefeated“ des einstigen Box- und Football-Kolumnisten der Zeitung „USA Today“, Jon Saraceno, sagte George Foreman in einem Interview zum 50. Jahrestag seines Olympiasiegs am 26. Oktober 2018 mit einem Lachen; „Ich würde es wieder tun. Nur würde ich dann zwei Fähnchen schwenken.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2020, Nr. 171, S. 36

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München 1972

Leuchten und Dunkelheit
Am Morgen will ich beschwingt über Ulrike Meyfarths Triumph schreiben. Da treffen die ersten Nachrichten von der Geiselnahme in München ein.

Von Steffen Haffner

Lang, lang her! Doch immer, wenn das Kürzel „München 1972“ auftaucht, läuft in meinem Kopf ein Film ab. Blenden wir zurück auf den 4. September. Gut eine Woche schon haben wir mit Olympia gelebt, haben bis jetzt unter einem konstant weißblauen Himmel die Spiele genossen. Es sollen heitere Spiele werden, ist das Diktum von Willi Daume, dem Vater der Münchner Spiele. Die Welt soll ein neues, unverkrampftes Deutschland erleben. Aus der Brache im Münchner Norden ist eine vielfältige Landschaft entstanden. Im zentral gelegenen Olympiapark haben sich schon vierzig Vogelarten eingenistet.

Ich bin Stammgast im Olympiastadion. Hier schlägt mit der Leichtathletik das Herz der Spiele. Unter dem luziden Zeltdach Günter Behnischs feiern täglich 80 000 Zuschauer ohne fanatische Töne das Fest Olympia. Das Publikum lässt die Irin Mary Peters, die Weitsprungsiegerin Heide Rosendahl im Fünfkampf auf Platz zwei verwiesen hatte, mit Sprechchören hochleben. Und den erfolgreichen DDR-Athleten wird so fair applaudiert, als wäre dies trotz aller politischer Spannungen selbstverständlich. Doch bei aller Fairness: Es gibt nichts Schöneres, als die „eigenen“, die bundesdeutschen Athleten siegen zu sehen. Und das war am Tag zuvor in einem ungewöhnlichen Maße gelungen. Hildegard Falck stürmte über die 800 Meter der Konkurrenz voraus. Der nur 1,76 Meter große Klaus Wolfermann schleuderte den Speer zwei Zentimeter weiter als der für die Sowjetunion startende Lette Janis Lusis, seines Zeichens Olympiasieger und Weltrekordler. Und der Geher Bernd Kannenberg erschien nach 50 Kilometern Hitzemarsch als Erster im Stadion. Die Arena erbebte in freudiger Erregung. Dreimal Gold in einer Stunde!

Heute verspricht das Programm keine (bundes-)deutschen Medaillen. Alle erwarten, dass „unsere“ Hochspringerinnen, zum Beispiel, nicht mit den Favoritinnen werden mithalten können. Die knapp zwanzigjährige Renate Gärtner, zweimalige deutsche Meisterin, steht für solides Mittelmaß. Von der siebzehnjährigen Ellen Mundinger, die vor einem Jahr hier in München den deutschen Titel gewann, sind auch keine Supersprünge zu erwarten. Und schon gar nicht von der Jüngsten, der sechzehnjährigen Ulrike Meyfarth. Die Gymnasiastin aus Wesseling bei Köln ragt allenfalls mit ihrer Länge von 1,86 Metern heraus.

14.20 zeigt die Uhr, als 23 Hochspringerinnen in das grelle Licht der Arena treten. Alle haben sie in der sogenannten Qualifikation die ominöse Querlatte mit einer Höhe von 1,76 Metern überwunden. Es gehört Mut dazu, die Hochsprunglatte anzuspringen wie einen Gegner. Und besonders verwegen ist es, rücklings einen Blindflug ins Ungewisse zu wagen. Unter jungen Mädchen ist dieser Fosbury-Flop, benannt nach dem Olympiasieger von 1968, populär geworden. Auch die deutschen Teenager Meyfarth und Mundinger springen auf diese Weise. Die Favoritinnen Jordanka Blagoewa aus Bulgarien, Rita Schmidt aus der DDR und die österreichische Weltrekordlerin Ilona Gusenbauer, alle schon über 20, halten sich nach wie vor an den bewährten Straddle- oder Tauchstil, bei dem der Körper sich in Querlage um die Latte dreht.

Nach drei Stunden Wettkampf haben fünfzehn Springerinnen 1,82 Meter, nach dreieinhalb Stunden sieben 1,85 Meter geschafft. Und zur allgemeinen Verwunderung ist als einzige Westdeutsche Ulrike Meyfarth noch dabei. 1,85 Meter – das ist bundesdeutscher Rekord. Was ist denn nur los mit der langen Rheinländerin? Der Beifall für sie zeigt: Die 80 000 werden neugierig. Die Höhe von 1,88 Meter wird aufgelegt. Die Spannung steigt. Dann beginnen die Ovationen. „Meyfarth! Meyfarth!“ Medaillenträume werden wach. Und tatsächlich: Die Sechzehnjährige überspringt die Höhe, hat Bronze sicher. Nach vier Stunden sind nur noch drei Springerinnen unter sich: Ilona Gusenbauer, Jordanka Blagoewa und – Ulrike Meyfarth. Unfassbar! Eben noch als Außenseiterin eine Randfigur, steht die Jüngste nun im Zentrum des Interesses – der Zuschauer im Stadion und vieler Millionen Fernsehzuschauer.

1,90 Meter: Eine nach der anderen reißt die Latte. Die Hürde zum Glück scheint einfach zu hoch zu sein. Die Spannung knistert. Der zweite Versuch: Ulrike Meyfarth läuft entschlossen an und fliegt, beflügelt vom Aufwind der Begeisterung, über die Latte. Grenzenloser Jubel des staunenden Publikums. Neben uns erhebt sich feierlich Bruno Dechamps, der vornehm-zurückhaltende Mitherausgeber dieser Zeitung, und spendet mit leuchtendem Gesicht Beifall. Der dritte, der letzte Versuch: Alles wartet auf Jordanka Blagoewa. Die Bulgarin springt genauso hoch. Doch streift ihr Körper die Latte ganz leicht, sie vibriert und fällt doch noch herunter. Kurz darauf springt Ilona Gusenbauer entmutigt gegen die Latte. Die Spiele haben ihre Sensation: eine Sechzehnjährige ist Olympiasiegerin.

Ulrike Meyfarth schlägt die Hände vors Gesicht, das gleich darauf ein glückliches, erstauntes Lachen überzieht. Doch damit nicht genug, lässt sie die Latte auf 1,92 Meter legen: Ilona Gusenbauers Weltrekord. Und mit wunderbarer Leichtigkeit nimmt sie auch diese Hürde. Die chancenlos scheinende Außenseiterin ist Olympiasiegerin und Weltrekordlerin. Eine Berühmtheit, die noch nicht ahnt, dass Ruhm Lust und Last zugleich ist.

Am anderen Morgen sehen wir dem neuen Tag beschwingt entgegen. Ich werde gleich den Triumph Ulrike Meyfarths journalistisch nachfeiern. Doch schlimme Gerüchte stören unsere Hochstimmung: In der vergangenen Nacht sei die israelische Olympiamannschaft überfallen worden. Nein, bitte nicht! Beklommen laufe ich hinüber zum Pressezentrum. Hier reißt mich die schreckliche Wahrheit aus meinem olympischen Traum.

Palästinensische Terroristen der Gruppe „Schwarzer September“ sind in den frühen Morgenstunden in das Quartier der israelischen Olympiamannschaft eingedrungen. Sie haben einen Gewichtheber erschossen und einen Trainer der Ringer so schwer verletzt, dass er kurz darauf stirbt. Neun Athleten sind in der Gewalt der Geiselnehmer. Entsetzen breitet sich aus und erfasst die ganze Welt. Um 4.30 Uhr waren die Terroristen in Trainingsanzügen und mit Sporttaschen, vermutlich voller Waffen, über den Maschendrahtzaun geklettert, wie zwei Postbeamte, die Telefonleitungen überprüften, beobachtet hatten. Sie dachten, es wären Sportler, die den Zapfenstreich überschritten hätten. Das Olympische Dorf ist nicht allzu streng bewacht: ganz nach den Vorstellungen der Gastgeber, der Welt das Bild eines friedfertigen Deutschlands zu bieten. Eine verhängnisvolle Fehleinschätzung!

Im Foyer des Pressezentrums flimmern Live-Bilder vom Dressurreiten und vom Boxen über die Fernsehschirme. Daneben verliest Regierungssprecher Conrad Ahlers eine Erklärung zum Geiseldrama. Ich kann es kaum ertragen, dass im Schatten des Schreckens weiter Sport getrieben wird. Um 15.35 Uhr werden die Wettkämpfe endlich ausgesetzt. Für immer?

Gemeinsam mit zahlreichen anderen Reportern beobachte ich von einem Damm aus das Haus Connollystraße 31. Hier sind die israelischen Athletinnen und Athleten gefangen, zwischen Todesangst und verzweifelter Hoffnung. Als Sportler und Ordner getarnte Sicherheitskräfte gehen auf den umliegenden Dächern mit ihren Gewehren in Stellung. Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher verhandelt auf einem Balkon mit einem Mann mit breitkrempigem Hut, wohl dem Chef des Terrorkommandos. Genscher, Walther Tröger, der Bürgermeister des Olympischen Dorfs, und Münchens Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel haben sich, wie zu hören ist, zum Austausch mit den Geiseln angeboten. Vergebens!

Im Transistorradio kommt die Nachricht, die Geiselnehmer forderten, dass 200 inhaftierte Palästinenser und die beiden RAF-Terroristen Andreas Baader und Ulrike Meinhof sofort freigelassen würden. Dazu freies Geleit. Die Regierungen in Tel Aviv und Bonn hätten die Forderung abgelehnt. Mittlerweile ist alles in Dunkelheit gehüllt. Nur einige Lampen tauchen das Haus der Geiseln in schummriges Licht. Gegen 22 Uhr rollt ein Bus der Bundeswehr in die Autoebene, auf die ich freien Blick habe. Die Spannung steigt. Was wird jetzt geschehen? Wird geschossen werden? Eine Gruppe von vierzehn Personen kommt durch einen Versorgungsschacht, eskortiert von einem Mann mit Maschinenpistole. Es müssen die neun Geiseln und fünf Terroristen sein. Alle steigen in den Bus, der gleich losfährt. Um 22.15 Uhr sind über dem Olympischen Dorf Helikopter zu sehen. In einem werden die israelischen Sportler sein. Unsere Hoffnungen begleiten sie. Und tatsächlich: Während der Taxifahrt hinüber zum Pressezentrum kommt im Radio die Nachricht: „Alle Geiseln sind befreit!“ Gott sei Dank!


Die Gedenkstätte „Einschnitt“ für die Opfer des Olympia-Attentats vom 5. September 1972 wurde nach langer Diskussion am 6. September 2017 im Münchner Olympiapark von Israels Staatspräsident Reuven Rivlin und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Beisein von Hinterbliebenen eröffnet. Foto: picture alliance / Sven Hoppe/dpa

Doch das Gefühl des Glücks währt nicht lange. Mein Kollege Thomas Meyer von der politischen Redaktion und andere Reporter, die vom Militärflughafen Fürstenfeldbruck zurückkehren, berichten, wie sie aus der großen Distanz der Absperrung das Geknatter automatischer Handfeuerwaffen und den Knall einer Explosion gehört hätten. Weit nach Mitternacht kommt in einer gespenstischen Pressekonferenz die grausame Wahrheit ans Licht: Alle Geiseln sind ums Leben gekommen. Elf junge Menschen aus Israel ermordet. Daume, Genscher, tausend Journalisten und viele Millionen in der ganzen Welt verfallen in eine Schockstarre des Schreckens.

Erst am anderen Tag wird das Ausmaß der gescheiterten, dilettantischen Befreiungsaktion offenbar. Und ein ausgebrannter Hubschrauber wird zum Symbol des Desasters. Nur wenige Stunden nach der nächtlichen Pressekonferenz verwandelt sich das Olympiastadion in eine Stätte der Trauer. Auf dem Rasen sind die Särge mit den Leichen der elf israelischen Sportler aufgebahrt. Es werden bewegende Reden gehalten. Shmuel Lalkin, der Chef de Mission der israelischen Mannschaft, verspricht nach Worten emotionaler Erschütterung: „Ich darf Ihnen hier versichern, dass die Sportler Israels … auch weiterhin an olympischen Wettkämpfen … teilnehmen werden.“ Dann sagt IOC-Präsident Avery Brundage den zukunftweisenden Satz: „The games must go on!“ Wir jungen Reporter empfinden diese Forderung im Angesicht der ermordeten Sportler als Zumutung.

Die Olympischen Spiele „danach“ wirken so leblos, als hätte ihnen jemand den Strom abgestellt. Nur einmal kehrt die Begeisterung zurück. Beim mitreißenden Duell in der Sprintstaffel zwischen den Schlussläuferinnen Heide Rosendahl und Renate Stecher, der zweifachen DDR-Olympiasiegerin, vergesse ich für ein paar Minuten den Albtraum.

Heute, fast ein halbes Jahrhundert danach, sind in mir die düsteren Bilder von München noch lebendig. Doch über die Szenen des Schreckens und der Trauer triumphiert in meiner Erinnerung das glückliche Lachen eines jungen Mädchens.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.07.2020, Nr. 30, S. 31

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