Kitabı oku: «Zivilisation in der Sackgasse», sayfa 3

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VORTEILE DER SESSHAFTIGKEIT

Selbstverständlich erfolgte dieser Übergang nicht aus heiterem Himmel, von heute auf morgen. Jede Revolution hat ihre – teils lange – Vorgeschichte. Verglichen mit dem langen Zeitraum, in dem Menschen als Jäger und Sammler lebten, erfolgte der Prozess der Sesshaftigkeit allerdings doch recht schnell. Warum aber wurden Menschen dauerhaft sesshaft? Warum begannen sie Ackerbau und Viehzucht zu betreiben? Anfangs muss das eine sehr mühevolle Angelegenheit gewesen sein, Ernteerträge und Erträge aus der Viehzucht waren zunächst einmal wohl ziemlich mager. Seine Nutztiere werden immer wieder auch Raubtieren willkommene Beute gewesen sein (schließlich waren auch Bauern in historischer Zeit noch häufig mit „Raubzeug“ konfrontiert). Die Sesshaftigkeit muss dem Menschen zunächst mehr Nach- als Vorteile gebracht haben. Zur Frage, warum sich denn Menschen nach so langer Zeit des Herumwanderns an einzelnen Orten dauerhaft niederzulassen begannen, wurden schon verschiedene Theorien entwickelt.

Nun leuchtet es durchaus ein, dass Lebewesen, welcher Art auch immer, an einem Platz verweilen, an dem sie üppige Nahrungsressourcen vorfinden. Wenn sich in unseren Breiten im Winter irgendwo Vögel scharen, dann dürfen wir stillschweigend annehmen, dass das vorgefundene Futter ihnen einen Anreiz für ihre Ansammlung bietet. Wildschweine drängen heute immer wieder in Vororte von Großstädten beziehungsweise Stadtaußenbezirke vor, weil sie sich dort an Gartenfrüchten und Abfällen gütlich tun können. Zum Ärger von Haus- und Gartenbesitzern fallen sie über Mülleimer, Komposthaufen und Gemüsebeete her. Warum sollten sie es sich bei der Nahrungsbeschaffung schwer machen, wenn es auch einfach geht?! Hat aber der Mensch, als er sich ursprünglich an bestimmten Orten niederließ, dort auch üppige Nahrung vorgefunden, die ihn zum ständigen Verweilen einlud?

Man nimmt oft an, dass der durch klimatische Veränderungen verursachte Mangel an Jagdwild während der letzten Eiszeit den Menschen dazu gezwungen habe, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Der Mensch entdeckte Wildpflanzen, auf die Vogelschwärme ihn aufmerksam machten, als sie zur Reifezeit einfielen. Den Ernährungswert dieser Pflanzen lernte der Mensch bald zu schätzen und begann sie als Getreide zu domestizieren. Er lernte Techniken, das Getreide zu bewahren und ganzjährig zu nutzen. Dies aber hatte zur Voraussetzung, dass er an Ort und Stelle blieb, Siedlungen – wenngleich zunächst in einfachster Form – errichtete. Da aber auch andere Tiere, vor allem Rinder, Ziegen und Schafe, das Getreide als Nahrungsquelle schätzen, kamen sie ihm als „Ernteräuber“ in die Quere. Dasselbe gilt auch für Schweine, die zwar nicht unbedingt Gerste oder Weizen fressen, sich aber, wie gesagt, an vom Menschen produzierten Abfällen delektieren. Nun wäre es, so kann man weiter argumentieren, für den Menschen auf Dauer zu mühsam gewesen, sich alle diese Tiere vom Leib zu halten, um seine Nutzpflanzen zu schützen. Besser war es, die Tiere sozusagen ins Haus zu holen und sie ebenfalls zu nutzen. Welch enorme Bedeutung die genannten Tiere – heutzutage vor allem Rinder und Schweine – als Nahrungslieferanten im Lauf der Zeit erlangt haben, bedarf keiner besonderen Erwähnung.

In den Augen des Münchener Zoologen und Evolutionsbiologen Josef Reichholf greift diese Erklärung für das Sesshaft-Werden des Menschen allerdings zu kurz. Er bringt daher Alkohol ins Spiel. Aus dem Vergleich heutiger und aus der Geschichte überlieferter Kulturen wird erkennbar, dass überall – in geringem oder höherem Maße – Rauschmittel, darunter Alkohol, ihre Rolle spielen und spielten. Nach Reichholf war es nicht der Mangel an Jagdwild, der den Menschen zur Sesshaftigkeit veranlasste. Es war die Entdeckung, dass aus bestimmten Pflanzen alkoholische Getränke hergestellt werden können, deren gemeinschaftlicher Genuss soziale Beziehungen zu stärken und die friedliche Beilegung von Konflikten zu erleichtern vermag. Daher soll Getreide erst sukzessive für die Ernährung genutzt, ursprünglich aber für die Herstellung von Bier verwendet worden sein. Also, im Anfang war der Rausch. Der musste sich allerdings in Grenzen gehalten haben, weil eine dauerhaft alkoholisierte Gesellschaft nicht lebensfähig gewesen wäre.

Das Sesshaft-Werden des Menschen war sicher ein sehr verwickelter Vorgang, an dem mehrere Faktoren beteiligt waren; und warum nicht auch Bier und Wein?! Sicher aber muss die Sesshaftigkeit unserer Spezies schon bald Vorteile gebracht haben, weil sie sich andernfalls – nur mit Nachteilen verbunden – als Lebensweise nicht bewährt hätte. Nachteile werden in der Evolution mittel- bis langfristig nicht belohnt. Gegenüber den Nomaden und Halbnomaden können die Sesshaften in der Gesamtbilanz ein ökonomisches Plus verbuchen. Reichholf (2012, S. 283) schreibt dazu Folgendes:

Menschen, die sich von den Früchten des Feldes und ihrer eigenen Hände Arbeit ernähren, brauchen kaum ein Zehntel des Lebensraumes, den Wanderhirten benötigen. Menschengruppen, die sich von Jagen und Sammeln ernähren, nehmen etwa das Hundertfache von Ackerbauern pro Kopf an Fläche in Anspruch. Hieraus ergibt sich das Anwachsen der Weltbevölkerung ganz von selbst. Gesteigerte Produktion von Nahrung ermöglicht das Überleben von mehr Menschen.

Aber wie in der Evolution so oft erweisen sich auch hier Vorteile von heute als Nachteile von morgen. Die problematischen Spätfolgen der Sesshaftigkeit sind inzwischen spürbar. Sie zeigen sich in einer rasanten, ungebremsten Bevölkerungsvermehrung, einer Überproduktion von Nahrungsmitteln auf der einen Seite, Hungersnöten auf der anderen.

Zwischen den Siedlungen der ersten Ackerbauern und Viehzüchter und den heutigen Megastädten liegen Welten. Doch der Prozess der Urbanisierung war, einmal in Gang gebracht, anscheinend nicht zu bremsen. Er entwickelte eine Eigendynamik, die niemand vorhersehen konnte, die aber den Menschen nun in seinem Wesen zu entwurzeln droht. Das ist Gegenstand späterer Kapitel des vorliegenden Buches. Zuvor müssen wir uns noch einer weiteren Seite unseres Wesens zuwenden, die tief in der Evolutionsgeschichte unserer Gattung verankert ist.

2.
DAS GEBORENE KLEINGRUPPENWESEN

So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnt, so sehr hangt er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von anderen ab.

Johann Gottfried Herder

Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Lebewesen. Keiner von uns will das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen sein, sondern irgendwo dazugehören, sich als Teil einer Gemeinschaft wissen. Einsamkeit, Verlassen-Sein empfinden die allermeisten Menschen als schlimm. Auch das gehört zu unserem alten Primatenerbe. Primaten sind im Allgemeinen gesellige Tiere, die zum Teil sehr komplexe, hierarchische Sozialstrukturen entwickeln. Der Mensch ist dabei keine Ausnahme. Allerdings lebte er die längste Zeit in relativ kleinen, überschaubaren Gruppen; er ist das geborene Kleingruppenwesen.

Dieser Umstand ist für das vorliegende Buch von besonderem Interesse. Auf das Leben in anonymen Massengesellschaften war der Mensch nicht vorbereitet. Nun aber sieht sich der steinzeitliche Jäger und Sammler, der mit einem kleinen Haufen ihm bekannter und vertrauter Individuen herumstreifte, täglich einer Masse von ihm unbekannten Artgenossen gegenüber, von denen er nichts weiß und meist auch nichts wissen will. Die Grundmuster unseres sozialen Verhaltens – Wir-Gefühl, Freund-Feind-Denken, Kooperation, Bevorzugung (Vetternwirtschaft) – wurden in Kleingruppen gestrickt und haben sich in Jahrmillionen bewährt. Seine kleine Gruppe war für den Einzelnen identitätsstiftend und vermittelte ihm ein Gefühl der Vertrautheit, das ihm in der Massengesellschaft abhandenkommt. Hier begegnet uns also eine Konfliktsituation, die sich in der Gegenwart immer mehr verschärft. Der amerikanische Evolutionsbiologe Richard Alexander hat treffend bemerkt, dass im jüngsten Abschnitt seiner Evolutionsgeschichte die den Menschen hauptsächlich prägende feindliche Macht die Gegenwart anderer Menschen sei (die auch immer mehr werden).

WIE VIELE MENSCHEN VERTRÄGT EIN MENSCH?

Der britische Maler und Verhaltensforscher Desmond Morris ließ in den späten 1960er Jahren mit seinem Buch Der nackte Affe aufhorchen. Der Mensch, so legte Morris ausführlich dar, sei immer noch ein Affe – wenngleich einer mit stark reduzierter Körperbehaarung –, dessen Verhaltensweisen in seiner Stammesgeschichte tief verwurzelt sind und auf Schritt und Tritt seine evolutionäre Vergangenheit erkennen lassen. Wer unsere „äffische“ Abkunft akzeptiert – und nur ideologische beziehungsweise religiöse Motive können heute jemanden daran hindern –, wird sich natürlich nicht daran stoßen. Im Gegenteil, es ist doch faszinierend zu sehen, welchen evolutiven Weg unsere Gattung eingeschlagen, zu welchen geistigen Höhenflügen sie sich emporgeschwungen, welche Fähigkeiten sie kraft ihres Gehirns erworben hat; darunter die Fähigkeit, über ihre eigene Herkunft, ihr Wesen und ihre mögliche Zukunft nachzudenken. Aber im Herzen lebt unsere Gattung noch in der Steinzeit. Der vielleicht beste Beweis dafür ist ihr soziales Verhalten. In seinem erwähnten Buch schrieb Morris Folgendes dazu:

Selbstverständlich haben wir unsere Stammesgeschichte nicht deshalb durchlaufen, um in riesigen Zusammenballungen Tausender und Abertausender von Individuen zu leben. Unser Verhalten ist darauf abgestellt, daß es in kleinen Stammesgruppen von vielleicht weniger als hundert Individuen funktioniert, bei denen jedes Stammesmitglied jedes andere persönlich kennt, wie es auch bei den Tier- und Menschenaffen der Fall ist. In einer Sozialstruktur dieses Typs regelt sich das Einreihen in die Rangordnung mit Leichtigkeit, und die Hierarchie wird stabil, wenn man einmal von dem allmählichen Wechsel absieht, wie er durch das Älterwerden und Sterben der Mitglieder eintritt. Ganz und gar anders und unvergleichlich stärker belastend ist die Situation in den Städten. Tag für Tag kommt der Städter mit zahllosen Fremden in Berührung – und das ist etwas für alle anderen Primaten-Arten Unerhörtes.

(Morris 1968, S. 276 f.)

Dass sich das Einreihen in die Rangordnung in kleinen Gruppen „mit Leichtigkeit“ einstellt, darf man bezweifeln. Vielmehr lernen wir beispielsweise aus Beobachtungen an Schimpansen, dass Macht- beziehungsweise Rangkämpfe praktisch ein „normaler“ Zustand sind, wobei die Tiere auch vor mancher Brutalität nicht zurückschrecken. Bei menschlichen (Klein-)Gruppen verhält es sich nicht anders, auch wenn dabei nicht notwendigerweise Kämpfe im buchstäblichen Sinn ausgetragen werden.

Aber Morris hatte natürlich Recht, dass die dem Menschen ursprünglich eigene Gesellschaftsform die Kleingruppe ist, eine Primär- oder Sympathiegruppe, deren Angehörige einander persönlich bekannt, meist miteinander verwandt oder verschwägert sind. Zwar ist die soziale Welt des heutigen Menschen etwas größer als die sozialen Welten seiner stammesgeschichtlichen Ahnen und der anderen rezenten Primaten, sie geht aber über hundertfünfzig bis zweihundert Individuen nicht hinaus. Doch nicht jedes dieser Individuen nimmt im Kopf des Einzelnen den gleichen Stellenwert ein. Die eigentliche Sympathiegruppe umfasst im Durchschnitt bloß elf Personen (die Fußballelf), wobei sich diese Zahl, wie der Leser für sich selbst nachvollziehen mag, aus der Zahl der nächsten Verwandten und einiger enger Freunde zusammensetzt. Jemand mit sehr großer Verwandtschaft pflegt meistens nicht zu jedem und jeder seiner Verwandten denselben intensiven Kontakt. Vettern oder Basen zweiten oder dritten Grades stehen uns kaum noch nahe, da pflegen wir eher noch enge Kontakte zu alten Schul- oder Studienfreunden, weil uns mit diesen ein längerer gemeinsamer Weg verbindet. Die Frage also, wie viele Menschen ein Mensch verträgt, ist damit schon ziemlich genau beantwortet.

Selbstverständlich kann die Zahl jener Menschen, denen wir flüchtig begegnen, mit denen wir aus beruflichen Gründen korrespondieren und so weiter hundertfünfzig oder zweihundert bei Weitem übersteigen. Das ist heutzutage, in urbanen Gesellschaften, auch häufig der Fall. Meine ausgedehnte Vorlesungs- und Vortragstätigkeit bringt mich mit unzähligen Menschen zusammen, doch in der Regel bleibt es bei kurzen und einmaligen Begegnungen, einer Plauderei beim Abendessen nach einer Vortragsveranstaltung oder in einer Hotelbar. Ich erinnere mich dabei an viele mir sympathische Menschen und würde mich über eine Wiederbegegnung freuen, aber es ist nun einmal nicht möglich, mit Tausenden Personen langfristig Bande der Sympathie zu unterhalten. Das ist freilich nicht zuletzt auch eine Frage der geografischen Nähe oder Ferne. Es ist eines, mit Leuten über Distanz zu korrespondieren, ein anderes, persönliche Kontakte zu pflegen. Wer meint, er habe Tausende Freunde in einem sozialen Netzwerk wie Facebook, verwendet nicht nur den Ausdruck „Freund“ inflationär, sondern verwechselt Virtualität mit Realität (wobei gerade diese Verwechslung erst den lockeren Gebrauch jenes Ausdrucks erlaubt).

Grundsätzlich gilt, dass die Intensität sozialer Interaktion mit zunehmender Zahl der interagierenden Personen abnimmt. Dieser in den Sozialwissenschaften und in der Psychologie (aus der Gruppendynamik) bekannte Umstand ist heute evolutionsbiologisch gut begründet. Er ergibt sich eben daraus, dass Menschen die längste Zeit ihrer Evolution mit stets wenigen ihnen vertrauten Menschen gelebt haben. Wenn die Mitgliederzahl einer beliebigen Gruppierung über eine bestimmte Größenordnung hinauswächst, dann sind die Beteiligten nicht mehr imstande, einen vertrauten, intimen Charakter sozialer Beziehungen miteinander zu pflegen. Sie wenden sich voneinander ab oder bilden innerhalb der größer werdenden Gruppe kleinere Gruppen von Individuen, die sich durch gegenseitige Sympathie, gemeinsame Interessen und so weiter auszeichnen und sich mithin gegenseitig anziehen. (Veranstalter großer Festmahlzeiten sind daher stets gut beraten zu überlegen, wer an der Festtafel neben wem sitzen soll.) Selbstverständlich knüpfen wir in Großstädten so manche flüchtige Bekanntschaft, treffen auf dem Weg zum Arbeitsplatz, auf Lebensmittelmärkten und so weiter immer wieder auf dieselben Leute, was aber nicht heißt, dass wir mit diesen Personen in engerem sozialen Kontakt stehen. Wir grüßen sie freundlich, wechseln vielleicht ein paar Worte mit ihnen und gehen dann unserer Wege. Aber kaum einen von ihnen werden wir spontan zu uns nach Hause zum Essen einladen. (Private Einladungen zum Essen haben schon einen recht intimen Charakter und bleiben daher in der Regel wiederum einer nur kleinen Gruppe von Personen vorbehalten.)

ICH UND DER REST DER WELT

Menschen sind, wie alle Tiere, Egoisten. Im strikt soziobiologischen Sinn bedeutet Egoismus jedes Verhalten, das die reproduktive Eignung, also den Fortpflanzungserfolg auf Kosten anderer erhöht. Voraussetzung für die erfolgreiche Reproduktion ist, klarerweise, das Erreichen des fortpflanzungsfähigen Alters. Um aber zumindest bis dahin am Leben zu bleiben, benötigt jedes Lebewesen Ressourcen: Raum und Nahrung. Damit sind Wettbewerb und Konflikte programmiert. Da die Natur kein Schlaraffenland ist und Ressourcen oft knapp sind, versuchen Tiere auf unterschiedlichste Weise, ihre Artgenossen auszutricksen, sie zu „belügen“ und zu „betrügen“. Der Mensch ist dabei keine Ausnahme. Allerdings zwingen ihn soziale beziehungsweise kulturelle Normen, die er sich selbst verordnet hat, dazu, auf andere Rücksicht zu nehmen und sie sogar zu unterstützen. Aber auch diese Normen haben einen tiefen biologischen Unterbau.

Schon einfache und oberflächliche Beobachtungen verdeutlichen, dass in der Tierwelt neben egoistischem auch kooperatives und altruistisches Verhalten vorkommt. Altruismus bedeutet, wieder im strengen Sinn der Soziobiologie, die Erhöhung des Fortpflanzungserfolgs anderer auf eigene Kosten. Wie passt das nun mit der Allgegenwart des Egoismus zusammen? Wie konnte sich in einer vom Egoismus beherrschten Welt uneigennütziges Verhalten entwickeln? Die Antwort ist einfach: weil sich solches Verhalten für den Einzelnen durchaus auszahlt. Das Individuum genießt in seiner Gruppe bestimmte Vorteile. Um sich diese aber dauerhaft zu sichern, ist es gezwungen, mit anderen zu kooperieren, die Hilfe, die es von anderen empfängt, bei Gelegenheit auch zurückzuzahlen. In tierischen Gesellschaften regeln sich diese Dinge ganz von selbst, ohne dass bestimmte „Gruppennormen“ vorgegeben wären. Wölfe etwa jagen im Rudel und arbeiten sozusagen zusammen, weil das jedem von ihnen mit höherer Wahrscheinlichkeit Nahrung sichert als die Jagd im Alleingang. Die Jagdgesellschaften prähistorischer Menschen kann man sich analog dazu vorstellen.

Aber auch die heutigen kleinen Menschengruppen sind gewissermaßen mit Jagdgesellschaften vergleichbar. Sie werden durch ein Band von Sympathie und gemeinsamen Interessen zusammengehalten, auch wenn sie nicht miteinander auf Beutefang gehen. Und manchmal bilden sie tatsächlich noch Jagdgesellschaften im buchstäblichen Wortsinn, die wiederum auch dem Knüpfen sozialer Bande dienen können. Auf den (ganzen) Rest der Welt zu pfeifen, kann sich ohnehin kaum jemand leisten, wenn er nicht in völliger Vereinsamung enden will. Aber wer will das schon!

Freilich ist heutzutage, in unserer Ellbogengesellschaft, ein Phänomen nicht zu übersehen, das im Gegensatz zum „gesunden“ als „pathologischer“ Egoismus bezeichnet werden kann. Der gesunde Egoist ist ein guter Sozialingenieur. Er weiß, dass er andere für die Realisierung seiner eigenen Vorhaben braucht, ab und an von anderen Hilfe in Anspruch nehmen muss, und ist daher im Allgemeinen seinerseits zuvorkommend und hilfsbereit. Er weiß, dass sich Freundlichkeit auszahlt, und folgt dem uralten Prinzip des Nehmens und Gebens. Zwar ist er mit sich selbst zufrieden, schöpft aber diese Zufriedenheit auch aus dem freundlichen und freundschaftlichen Umgang mit anderen. Insgesamt ein netter Kerl also, der aber durchaus seine persönlichen Ziele im Auge behält. Dem pathologischen Egoisten hingegen fehlt jedes Gespür für die Bedürfnisse der anderen, er glaubt, niemanden zu brauchen und daher auch niemandem seine Hilfe anbieten zu müssen. Nichts kennzeichnet den pathologischen Egoismus besser als der dumme Werbeslogan „Geiz ist geil“. Er spiegelt die Einstellung einer Gesellschaft wider, welche dabei ist, ihre eigenen Grundlagen zu zerstören.

Der Mensch ist also von Natur aus egoistisch; doch als vergesellschaftetes Lebewesen auch mit der Anlage zur Kooperation und gegenseitigen Hilfe ausgestattet. Wo diese Anlage nicht gefördert, sondern zerstört wird, dort läuft er Gefahr, altbewährte Mechanismen seiner sozialen Evolution auszuschalten und sich in eine Situation hineinzumanövrieren, die mittel- bis langfristig weder das Überleben des Individuums noch den Fortbestand von Sozietäten sichern kann (und seiner Art nicht gerecht wird). Unsere steinzeitlichen Vorfahren waren keine Engel, aber sie wussten „instinktiv“ um die Bedeutung von Gemeinschaft.

WIR UND DER REST DER WELT

Menschen waren also von Anfang an gut beraten, mit anderen zu kooperieren, einander zu helfen. Schon Friedrich Schiller (1759 bis 1805) sah – noch ohne jeden evolutionstheoretischen Hintergrund – die Sache erstaunlich klar:

Hunger und Blöße haben den Menschen zuerst zum Jäger, Fischer, Viehhirten, Ackermann und Baumeister gemacht. Wollust stiftete Familien, und Wehrlosigkeit der Einzelnen zog Horden zusammen. Hier schon die ersten Wurzeln geselliger Pflichten.

(Schiller 1885, S. 21)

Aber wie bereits betont wurde, haben sich alle Grundmuster unseres sozialen Verhaltens in Kleingruppen entwickelt. So funktionierte auch das Prinzip der Gegenseitigkeit zunächst nur in kleinen und gut überschaubaren sozialen Verbänden. Je fester die Angehörigen eines solchen Verbandes aneinandergekittet waren, desto besser konnten sie sich gegenüber anderen, mit ihnen konkurrierenden Gruppen behaupten. So entstand das Wir-Gefühl, das Gefühl der Gruppenidentität, das sowohl für das Individuum als auch für seine Gruppe von elementarer Bedeutung war – und bis heute geblieben ist.

Der Mensch will, worauf schon hingewiesen wurde, irgendwo dazugehören. In der Regel bietet ihm seine Familie die erste und langfristige Gelegenheit dazu, und später erweitert sich sein „sozialer Horizont“ um Freunde und Bekannte, deren Zahl jedoch stets begrenzt bleibt. Aber das Wir-Gefühl kann künstlich auf größere und sogar sehr große soziale Einheiten ausgedehnt werden, mitunter nur vorübergehend, in einer bestimmten Situation. Denken wir an internationale Sportveranstaltungen. Beispielsweise repräsentieren die Teilnehmer an Olympischen Spielen ihr jeweiliges Herkunftsland, und wenn sie einige Medaillen gewinnen, dann gewinnen sie diese für ihr Land, in dem sich dann alle am Sport Begeisterten darüber freuen und „Wir haben gewonnen!“ ausrufen – obwohl sie selbst ja am Wettbewerb gar nicht teilgenommen, sondern diesen bloß im Fernsehen mitverfolgt haben. Genauso verhält es sich bei der Ankündigung eines internationalen Fußballspiels, wenn es etwa heißt, Spanien spielt gegen Deutschland oder Frankreich gegen die Niederlande. Obwohl jeweils nur elf Personen auf jeder Seite um den Sieg ringen, sind Millionen anderer physisch völlig unbeteiligter Personen „dabei“ und brüllen vor Freude bei jedem Ball, den einer aus „ihrer“ Mannschaft ins Tor der gegnerischen Spieler befördert. Hier zählt das bloße Miterleben, und vollkommen irrationalen – tief in unserer Stammesgeschichte verwurzelten – Mechanismen ist es zu verdanken, dass diese Personen den Sieg oder die Niederlage „ihrer“ Mannschaft als Betroffene erleben.

Diese Mechanismen führen zur sozial und kulturell geförderten Bildung von Pseudofamilien, die sich aber auch schnell wieder auflösen können. Denn die durch das Wir-Gefühl zusammengeschweißten Personen, die sich über den Sieg „ihres“ Landes zum Beispiel bei einer Fußball-Weltmeisterschaft freuen, lassen in anderen Situationen, unter anderen Rahmenbedingungen, oft kein gutes Haar an „ihrem“ Land und „ihren“ Landsleuten.

Wenn sie mittel- bis langfristig aufrechterhalten werden, können Pseudofamilien aber katastrophale Auswirkungen zeitigen. Das ideologisch beziehungsweise religiös verstärkte Wir-Gefühl (die Grenzen zwischen Ideologie und Religion sind nicht leicht auszumachen) kann zu ungeheuren Gräueltaten führen. Geschichte und Gegenwart belegen das auf erdrückende Weise. Denn je stärker die Gruppenidentität – und sei es die Identifizierung mit einer Pseudofamilie – ausgeprägt ist, desto höher ist die Bereitschaft, andere, die also nicht „dazugehören“, nicht einfach bloß auszugrenzen, sondern zu verfolgen und auszurotten. Das Dritte Reich ist das bisher schrecklichste Exempel dafür, obwohl „im kleineren Maßstab“ viele andere Beispiele schnell zur Hand sind. Der Genozid, der Völkermord, begleitet die ganze Menschheitsgeschichte. Aus neuerer Zeit in Erinnerung sind die Abschlachtung der Tutsi durch die Hutu im afrikanischen Ruanda oder der zwischen den Völkern des ehemaligen Jugoslawien aufgestaute Hass, der zu Beginn der 1990er Jahre zu gleich mehreren Kriegen führte.

Das Wir-Gefühl und die Ausgrenzung des Anderen oder auch nur des Andersdenkenden sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass noch jeder Tyrann, jeder Diktator Anhänger gefunden hat, die sich fanatisch für die „gemeinsame Sache“ begeistern können und zu jeder Bluttat bereit sind. Versager auf der ganzen Linie, Leute, die unter „normalen“ Umständen nichts zu vermelden haben, finden in einer auf ideologischem (religiösem) Fundament konstruierten Pseudofamilie ihren Anschluss und ihre „Bestimmung“. Dazu gehört kein Verstand, denn – in leichter Abwandlung eines ukrainischen Sprichworts – wo die Fahne weht, bleibt dieser ohnehin in der Trompete. Freilich ist das Wir-Gefühl an sich harmlos, die längste Zeit seiner Stammesgeschichte diente es dem Menschen sogar zum Überleben. Nicht unbedingt führte es zur Diskriminierung und zur Verfolgung anderer Gruppen, auch weil – unter steinzeitlichen Lebensbedingungen – die Gruppen großflächig verteilt waren und sich ihre Wege nicht allzu oft gekreuzt haben dürften. Der Soziobiologe Eckart Voland bemerkt pointiert und treffend Folgendes dazu:

Mit dem „Wir-Gefühl“ und seinen Begleiterscheinungen verhält es sich wie mit Hühneraugen. Normalerweise spielen sie keine Rolle … Aber wie alle biologischen Merkmale – auch die der Psyche – werden sie nicht wirklich überwunden, sondern die Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens ist eine Funktion der Umstände. Wehe, der Schuh drückt! Und wenn der Schuh drückt und das „Wir“ sichtbar wird, verstehen offensichtlich viele keinen Spaß. Das Spiel mit dem „Wir“ ist keineswegs so harmlos, wie man es gerne hätte, denn zur Wir-Psychologie gehört auch ein moralischer Imperativ von beeindruckender Schlichtheit: „Groupness geht vor fairness!“

(Voland 2007, S. 37 f.)

Also, die eigene Gruppe ist wichtiger als faires Verhalten gegenüber allen Leuten, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. Unter gegebenen ideologischen (religiösen) Rahmenbedingungen kann dieser Imperativ zu ungeheuren Exzessen führen – und hat auch immer wieder dazu geführt. Oder mit den Worten des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten William Allman gesagt:

Wenn immer mehr unbekannte Gesichter in einer Gesellschaft auftauchen und die magische „150-Personen-Schallmauer“ … durchbrochen wird, verfallen die Mitglieder dieser Gesellschaft in ein einfaches „Schubladendenken“ und urteilen nach Äußerlichkeiten (beispielsweise ökonomischem Status, Klassenzugehörigkeit oder Rasse), um Feind und Freund auseinanderzuhalten. Leider kann es innerhalb einer Gesellschaft immer wieder zu Reibereien und Dauerfeindlichkeiten zwischen Gruppen kommen, selbst wenn solche Situationen langfristig zu einem gravierenden Problem für die ganze Gesellschaft auswuchern.

(Allmann 1999, S. 333)

Die Ghettos unserer Millionenstädte sind auch nichts weiter als ein Ausdruck des Wir-Gefühls. Es ist kein Zufall, dass sich in einem klassischen Einwanderungsland wie den Vereinigten Staaten von Amerika Einwanderer aus dem jeweiligen Herkunftsland in den großen Städten in eigenen Bezirken oder Bezirksteilen zusammenballten (China Town, Little Italy und so weiter). Leute gleicher Herkunft bleiben gern beisammen. Wenn sie dann auch noch ein gemeinsamer tiefer religiöser Glaube verbindet, dann fällt die Abgrenzung von „den Anderen“ umso schärfer aus. Dieser triviale Umstand ist, wenn sie ihn denn überhaupt wahrhaben wollen, unseren Integrationspolitikern ein Dorn im Auge. Aber das wäre schon ein anderes Thema.

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