Kitabı oku: «Menschen mehr gerecht werden», sayfa 7
Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs erachtet die Psychiatrie als charakterisiert durch eine unaufhebbare „Spannung zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Ansätzen“ und sieht deshalb auf theoretischer wie praktischer Ebene den Bedarf philosophisch geschulter Wahrnehmung und Reflexion (vgl. Fuchs 2010, S. 240). Angesichts der Fortschritte, die das biologische Paradigma erzielt habe, warnt er vor „der Tendenz, psychische Krankheiten isoliert von den Beziehungen des Patienten zu seiner Umwelt zu betrachten und die Bedeutung des Subjekterlebens für die Krankheit zu vernachlässigen.“ (ebd., S. 235) Es sei deshalb wichtig, „auf konzeptueller Ebene Raum für andere Ursachenbegriffe zu schaffen, insbesondere für eine top-down-Kausalität, die nicht nur metaphorisch gemeint ist, also für eine reale Veränderung des biologischen Substrats im Zuge psychologischer und kultureller Prozesse. Solche (um-)strukturierenden Einflüsse auf das Gehirn sind etwa für psychotherapeutische Behandlungen inzwischen gut gesichert“ (ebd., S. 238). Wenn man „ursächliche bottom-up und top-down-Beziehungen“ zusammenfasse, gelange man „zum Begriff einer ‚zirkulären Kausalität‘, die basale und übergeordnete Systemebenen im Organismus kreisförmig miteinander verknüpft“, dies ermögliche ätiologische wie therapeutische integrative Konzepte, „ohne auf die Verlegenheitslösung einer ‚Multifaktorialität‘ auszuweichen“ (vgl. ebd.). Patienten brauchen auch auf der subjektiv erlebten Ebene Gesprächspartner für ihre Fragen:
Das Sich-Fremdwerden, die Selbstentfremdung rückt psychisches Kranksein schon von sich her in die Nähe der Philosophie. Beiden gemeinsam ist der „Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit“ […], die fragende und zweifelnde Haltung gegenüber der erfahrenen Wirklichkeit. Die existenziellen Fragen, die Patienten stellen, machen sie oft zu „Philosophen wider Willen“. (ebd., S. 239)92
Heinz Schott und Rainer Tölle äußern in ihrer Geschichte der Psychiatrie den Eindruck, dass in der gegenwärtigen Psychiatrie mit einer Anlehnung „an die Theoriebildung der Neurowissenschaften bzw. der Hirnforschung“ wie in anderen biomedizinischen Disziplinen Fragen „einer medizinischen Anthropologie weitgehend ausgeklammert werden.“ (vgl. Schott u. Tölle 2006, S. 508) Umso mehr fällt auf, dass R. Tölle und Klaus Windgassen in ihrem Lehrbuch Psychiatrie zumindest kurz eine „Anthropologische Grundlegung“ vorstellen, die eine Integration der verschiedenen psychiatrischen Aspekte (wie z. B. physiologische oder chemische Prozesse, Lernen, unbewusste Triebdynamik) und Arbeitsweisen versuche (vgl. Tölle u. Windgassen 2014, S. 11) f.). Zu den Grundzügen gehöre unter anderem: „Nicht die einzelne Störung, sondern die gesamte Erlebniswelt des Kranken steht im Mittelpunkt des Interesses, nicht das Abnorme und Kranke, sondern das Dasein des Patienten an sich. An Stelle der Subjekt-Objekt-Spaltung wird nach dem In-der-Welt-Sein des Patienten gefragt.“ (ebd., S. 11) Dazu gehöre dann auch die Religiosität:
Während die Psychiatrie von den philosophisch-anthropologischen Bemühungen profitierte, lässt sich Entsprechendes für die Beziehungen zwischen Psychiatrie und Theologie nicht feststellen. Von den Weltreligionen ist wenig Einfluss auf die Psychiatrie ausgegangen, und die Psychiatrie befasste sich wenig mit der Religiosität der Patienten. Die Gründe hierfür dürften sowohl in der medizinisch-positivistischen Einstellung der traditionellen Psychiatrie als auch in dem Unverständnis und der Abwehr liegen, mit denen Theologien und Kirchen auf die Triebthematik und die Religionskritik der Psychoanalyse reagierten. Die heutige klinische Psychiatrie versucht, die Religiosität des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachten. (ebd., S. 11) f.)93
Der Psychotherapeut Gerd Rudolf spricht in seinem Artikel Menschenbild und Psychotherapie vom Menschen als einem „Wesen, das sich seiner selbst und seiner jeweils aktuellen Situation bewusst wird; ein Lebewesen, das eine Sprache entwickelt, in der es sich mit seinesgleichen darüber verständigen kann.“ (Rudolf 2015a, S. 373) Daraus hätten sich die großen Fragen und Antwortversuche ergeben:
Seither stehen Menschen unvermeidbar auch vor der großen Aufgaben [sic] des Sichverstehens: Wie erkläre ich mir die Welt? Wer bin ich selbst? Woher kommen und wohin gehen wir? Als Ergebnis solcher Überlegungen entstanden philosophische und religiöse Systeme, kulturelle Formen des sozialen Zusammenlebens, aber auch wissenschaftliche und technologische Entwicklungen und künstlerische Gestaltungen. (ebd., S. 373 f.)
Darum kann er – auch im Blick auf Patienten – sagen:
Menschen sind sinnorientiert, d. h. ihre rationalen, emotionalen und selbstreflexiven Fähigkeiten erlauben es ihnen, weitreichende Sinnfragen aufzuwerfen und dafür philosophische, religiöse oder wissenschaftliche Antworten zu suchen. Freilich besteht das Risiko, die eigenen Sinnsysteme ideologisch absolut zu setzen und gegen fremde Überzeugungen zu Felde zu ziehen. (ebd., S. 375)
In seiner Monographie Wie Menschen sind. Eine Anthropologie aus psychotherapeutischer Sicht (Rudolf 2015b) findet sich auch ein Kapitel Der religiöse Mensch, darin u. a. die Themen Suche nach Sinn, religiöse Einstellungen, Religiosität und Spiritualität, das Angebot der Religionen (ebd., S. 120–146).
Religiosität gilt vielen als eine im Menschen natürlich verankerte Bereitschaft, sich auf eine Transzendenz auszurichten. Sie wird gewissermaßen als Bestandteil der menschlichen Natur, als Wesensmerkmal des Menschen gesehen. Das ist eine These, die wissenschaftlich weder bestätigt noch widerlegt werden kann. […] Wie man auch dazu stehen mag, es ist unübersehbar, dass religiöse Orientierung in der Geschichte der Menschen und ihrer kulturellen Entwicklung eine außerordentlich wichtige Rolle gespielt hat, sodass wir dieses Thema nicht übergehen dürfen. (ebd., S. 124)
Bei zeitgenössischer Spiritualität beobachtet er häufig Vorstellungen und Praktiken, „die historisch zum Aberglauben gerechnet wurden.“ (ebd., S. 144) Auf subjektiver, emotional-erlebbarer Ebene sieht er eine Gemeinsamkeit:
Das Gemeinsame von Religiosität und Spiritualität liegt wohl in der Tatsache, dass Menschen die gläubige Überzeugung entwickeln können, sich in der Beziehung zum Göttlichen zu erleben und dass diese Bezogenheit ihnen ein Gefühl der Sinnhaftigkeit und Geborgenheit vermittelt, auf das sie verzichten müssten, wenn sie ihre spirituelle oder religiöse Ausrichtung nicht mehr hätten. (ebd., S. 144) f.)
Peter D. Gilbert bietet für das Thema Spiritualität und psychische Gesundheit einen vorsichtigen Überblick und darin eine schöne Definition: „Spirituality relates to that dimension of ourselves as human beings which erects frameworks of meaning that provide a motivating force to our lives. Spirituality is associated with the pilgrimage of life; connection with other people and the natural world; a sense of the sacred; and a reaching out to something beyond ourselves.“ (Gilbert 2007, S. 595)
Der Psychiater und Theologe Christopher C. H. Cook (2004) schlägt in einem Überblicksartikel zu Suchterkrankungen eine Definition von Spiritualität vor, die das persönliche Innerste wie auch das ganz Andere anzielt:
Spirituality is a distinctive, potentially creative and universal dimension of human experience arising both within the inner subjective awareness of individuals and within communities, social groups and traditions. It may be experienced as relationship with that which is intimately “inner”, immanent and personal, within the self and others, and/or as relationship with that which is wholly “other”, transcendent and beyond the self. It is experienced as being of fundamental or ultimate importance and is thus concerned with matters of meaning and purpose in life, truth and values. (ebd., S. 548 f.)
Im Sammelband Religion and Psychiatry. Beyond Boundaries der WPA (Verhagen et al. 2010) sagen die Herausgeber im Vorwort:
Religiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work. This point of view is the raison d’être of the WPA’s section on Religion, Spirituality and Psychiatry, and the main reason why this book was conceptualised under the section’s auspices. We hope that this volume will indeed stir up curiosity and interest in the interface between psychiatry and man’s tendency to provide life with a vertical transcendental dimension. (ebd., S. xvii)
Peter J. Verhagen bemerkt, dass religiöse bzw. spirituelle Erfahrungen und Deutungen nicht selten seien und eben nicht nur in außerordentlichen, sondern auch gewöhnlichen und alltäglichen Wahrnehmungen und Deutungen bestünden und bedeutsam seien: „Religious experiences can take ordinary forms […]. Religious experience, in other words, is a religious interpretation of ordinary, daily experiences, which are not at all rare. […] This ‚normality‘ of religious (and spiritual) experiences makes it likely that they do occur and have meaning in the lives of many psychiatric patients and their relatives as well.“ (Verhagen 2010, S. 552)
2.5 Religionssoziologische Aspekte
2.5.1 Religiosität und Spiritualität allgemein
Die Religionssoziologie untersucht empirisch unter anderem, inwiefern und wie Menschen sich als religiös bzw. spirituell einschätzen und verhalten. Angesichts eines starken Individualisierungsschubes in der Spätmoderne94 wurde Religion oft individueller, privater und schwerer erkennbar. Einflussreich wurde z. B. das Konzept der „unsichtbaren Religion“ von Thomas Luckmann95 und seine Unterscheidung von „kleinen, mittleren und großen Transzendenzen“ – wobei „Diesseitsreligionen“ auf mittleren und „Jenseitsreligionen“ auf großen Transzendenzerfahrungen basierten (vgl. Luckmann 1991, S. 166–171).96 Der Religionssoziologe Hubert Knoblauch greift diese Unterscheidungen auf und sieht Spiritualität als Ausdruck von Individualisierung und persönlicher Erfahrung hier verankert:
Diese Tendenz, persönliche Erfahrungen der Transzendenz zu machen und darüber zu kommunizieren, hängt alltagssprachlich mit einer Ersetzung des Begriffs des Religiösen durch den des Spirituellen zusammen. Der Begriff der Spiritualität (als subjektive Sonderform des Religiösen) eignet sich durchaus auch für die Soziologie, da er zum einen auf eine als transzendent erfahrene Wirklichkeit und zugleich auf eine Distanz zu institutionell definierten Vorstellungen des Religiösen hinweist. Dies gelingt ihm, zum anderen, gerade deswegen, weil er auf die Dimension der subjektiven Erfahrung der (großen) Transzendenz rekurriert. (Knoblauch 2004, S. 78)
Spiritualität scheine „ihre Begründung nicht im Sozialen, sondern im Subjekt selbst zu suchen. Sie bezeichnet die zunehmende Tendenz von Gesellschaftsmitgliedern, die eigene Transzendenzerfahrung als Quelle, Evidenz- und ‚Güte‘-kriterium der eigenen Religion anzusehen.“ (ebd.) Der Begriff Spiritualität werde häufig als in den eigenen Erfahrungen gründende Selbstbeschreibung verwendet und sei damit eine „Ethnokategorie der Handelnden“ (Knoblauch 2006, S. 91). Gegenüber einem inflationären Wortgebrauch durch einen ganz funktionalistischen Religionsbegriff äußert er sich jedoch skeptisch, denn dann könne „jede kulturelle Aktivität […] als religiös bezeichnet werden: Fußball, Musik etc.“ (vgl. ebd., S. 99). Er schlägt deshalb vor, als religiöse Erfahrungen solche Erfahrungen zu „bezeichnen, in denen große Transzendenzerfahrungen auf eine symbolisch außerweltliche Weise gedeutet werden“ (ebd., S. 100).
Ein empirischer Überblick zur Religiosität in den deutschsprachigen Ländern findet sich bei Stefan Huber (2011), basierend v. a. auf dem Religionsmonitor 2008. Es zeigt sich, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung für religiöse bzw. spirituelle Semantik ansprechbar ist, speziell auch in Krisensituationen wie Krankheit (vgl. unter Abschn. 4.5.1).
Empirische Zahlen zum Verständnis von Spiritualität und entsprechenden Selbsteinschätzungen im Vergleich von USA und Deutschland finden sich bei Barbara Keller et al., basierend u. a. auf dem Religionsmonitor 2008 sowie ALLBUS 2008 (als Überblick siehe Keller et al. 2013, S. 73) Tab. 1: Selbsteinschätzung als religiös bzw. spirituell; vgl. für konkrete Werte unten S. 257f). Für den neueren Religionsmonitor 2013 wäre als erste Übersicht etwa Detlef Pollack und Olaf Müller (2013) heranzuziehen. Ein aktueller religionssoziologischer Überblick findet sich auch bei Walter Schaupp (2014) im Abschnitt „Renaissance des Religiösen – Phänomene und Analysen“ (ebd., S. 17) f.).
Die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller beschreibt Spiritualität religionssoziologisch so:
Der zeitgenössische Spiritualitätstrend repräsentiert in weiten Teilen den modernen Typ abendländischer säkularisierter Religion […]. Spiritualität ist einerseits ein wesentlicher Bestandteil jeder religiösen Tradition und kann andererseits als Synonym für das moderne religiöse Feld dienen. Die moderne Spiritualität repräsentiert einen Typ von Religiosität, der antidogmatisch, antiinstitutionell, erfahrungsorientiert, plural, subjektiv und teilweise, aber nicht zwangsläufig privat ist. (Heller u. Heller 2014, S. 57)
Andererseits stellt sie sich stark gegen die Formulierung, alle Menschen seien spirituell, darin sieht sie eine unzulässige Vereinnahmung: In empirischen Untersuchung würden sich nicht alle als spirituell bzw. religiös bezeichnen, nicht jeder habe eine spirituelle Dimension, ca. ein Viertel der EuropäerInnen würde sich von Religiosität bzw. Spiritualität abgrenzen (vgl. ebd., S. 67) f.). Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei den von ihr herangezogenen Daten um empirisch erhobene Selbstzuschreibungen handelt, wo offen bleibt, warum die Personen sich so oder anders verstehen wollen.
Auf diese grundlegende Schwierigkeit in der empirischen Forschung macht auch die Religionspsychologin Ulrike Popp-Baier (2008, 2010) aufmerksam: Konzepte wie Glaube, Spiritualität oder Religiosität gehörten einerseits zur empirischen Ebene (und würden von Beteiligten sehr unterschiedlich verstanden und eingesetzt), andererseits zur systematischen Ebene, auf der Sozialforscher die Antworten mit eindeutigen Termini und Kategorien klassifizieren, einordnen etc. Kritisch bemerkt sie:
Ein inkonsistentes Changieren zwischen diesen Ebenen kann bisweilen »empirische« Ergebnisse zur Folge haben, die mehr an das Kaninchen erinnern, das man nur deshalb aus dem Hut zaubern kann, weil man es vorher selbst hineingesteckt hat. So ist z. B. eine Interpretation vieldeutiger Selbstbezeichnungen bzw. Selbstverständnisse wie »religiös« oder »spirituell« mit Hilfe eines der terminologisch eindeutig bestimmten Religionskonzepte aus der Literatur mehr als problematisch. (Popp-Baier 2008, S. 3)
In der Säkularisierungsdebatte solle man deshalb das Konzept Spiritualität besser nicht verwenden, da es eine so große Vielfalt an emischen Bedeutungen (wie Menschen den Begriff benützen) und Schwächen in den etischen Konzepten (den theoretischen Definitionen) von Spiritualität gebe – man möge eher erkunden, was Menschen meinen, wenn sie von Spiritualität sprechen (vgl. Popp-Baier 2010, S. 62).97 Um die Komplexität und Vielfalt persönlicher Orientierungen bewusst zu halten, könne der Begriff Spiritualität allerdings nützlich sein (vgl. ebd., S. 61).
2.5.2 Empirische Sinnforschung
Ein beachtenswerter Blickwinkel kommt aus der empirischen Sinnforschung, die nach Lebenssinn und Lebensbedeutungen fragt. Eine allgemeine Definition findet sich bei Ursula M. Staudinger und Sigrun-Heide Filipp:
Lebenssinn lässt sich demnach umschreiben als die Bewertung des Lebens durch eine Person oder als die Bedeutung, die eine Person dem Leben zuschreibt. In dieser Definition ist sowohl enthalten, dass man im Leben einen bestimmten inhaltlichen Zweck verfolgt, wie beispielsweise materielle Sicherheit, als auch dass der Lebenssinn für eine Person darin bestehen kann, dass sie zufrieden mit ihrem Leben ist, egal ob und ggf. welche Inhalte sie in diesem Leben verfolgt. (Staudinger u. Filipp 2005, S. 752)
Lebenssinn ist nicht einfach vorhanden, sondern – in vielerlei Lebenssituationen – je neu zu suchen: „Lebenssinn ist nicht etwas einmal ‚Gefundenes‘, das wir dann besitzen, sondern Lebenssinn ist dynamisch. Lebenssinn muss in der Auseinandersetzung mit den jeweils gegebenen Lebensumständen immer wieder neu gefunden, besser gesagt, konstruiert werden.“ (ebd., S. 752 f.) Im englischen Sprachraum hat Roy F. Baumeister einflussreiche Beiträge zum Thema meaning of life veröffentlicht. Zusammen mit Kathleen D. Vohs bringt er auf den Punkt: „The essence of meaning is connection.“ (Baumeister u. Vohs 2005, S. 608)98 Verbindungen herstellen und wahrnehmen: das scheint für Sinn entscheidend, statt „sinnloser“ Fragmentierung. Viele Menschen haben ein Bedürfnis danach.99
Der Philosoph Winfried Löffler meint im Blick auf die diesbezügliche Empirie: „Ebenfalls empirischer Natur, aber in vielen Fällen wohl zu bejahen ist die Frage nach dem positiven Beitrag eines Lebenssinnes zur Erfahrung eines erträglichen oder gar gelingenden Lebens.“ (Löffler 2011, S. 1995) Doch er unterstreicht zu Recht, dass die Sinnfrage durchaus nicht immer gestellt wird:
Zahlreiche Menschen stellen sich die Sinnfrage nicht, oder sie leben de facto ohne oder mit einer Mehrzahl von höchsten, in sich sinnvollen Zielen ohne definierte Priorität, etwa: Gesundheit, Arbeitszufriedenheit, erfüllende Freizeitgestaltung, Wohlergehen der eigenen Kinder und Kindeskinder. Logisch gesehen ist gegen eine solche Lebensweise auch gar nichts einzuwenden: Solange man nie in die Situation gekommen ist, sich real oder gedanklich zwischen seinen verschiedenen – und zwar zwischen allen! – solchen höchsten Zielen entscheiden zu müssen, spricht nichts gegen die Annahme mehrerer höchster Ziele. (ebd.)100
In Krisen oder unter Belastungen kann jedoch die Frage nach den vorrangigen Zielen und Werten schnell sehr virulent werden!101
Im deutschsprachigen Raum hat sich für die empirische Sinnforschung besonders Tatjana Schnell (2008, 2009, 2010, 2011a, 2011b, 2016) einen Namen gemacht. Lebenssinn lässt sich meist nicht einfach nennen: „Individueller Lebenssinn ist somit eher dem Prozessals dem deklarativen Wissen zuzuordnen. Daher ist nicht zu erwarten, dass er bewusst und abrufbar vorliegt. Dennoch können Menschen im Allgemeinen eine Aussage darüber treffen, ob sie ihr Leben als sinnerfüllt oder sinnlos wahrnehmen.“ (Schnell 2009, S. 103) Lebenssinn konkretisiert sich in bzw. bildet sich aus verschiedenen Inhalten.102 Schnell operationalisierte in ihrem Modell Lebenssinn in verschiedenen Lebensbedeutungen. In einer repräsentativen deutschen Stichprobe103 fand sie einen beträchtlichen Anteil von
existentiell Indifferenten, die ca. ein Drittel der Gesellschaft ausmachen. Sie erfahren ihr Leben nicht als sinnerfüllt, leiden aber – nach ihrer Selbstauskunft – auch nicht darunter. Allerdings gibt es in ihrem Leben wenig, was ihnen bedeutsam erscheint. […] Auch, wenn sie keinen Sinn in ihrem Leben sehen und sich nicht als Teil eines größeren Ganzen verstehen, können sie doch ein zufriedenes Leben führen – ohne ausgeprägte Leidenschaften und ohne Bedürfnis, sich selbst und ihre Möglichkeiten weiter auszuloten. (Schnell 2008, S. 16)
„Eine Mehrheit von 61 % zählen zum Typ ‚hohe Sinnerfüllung, niedrige Sinnkrise‘, während 4% […] unter einer Sinnkrise leiden, aber keine Sinnerfüllung aufweisen.“ (ebd., S. 14) – Eine nützliche Unterscheidung hinsichtlich des Bezugs zu Transzendenz wird von Schnell (2011a) als horizontale bzw. vertikale Selbsttranszendenz formuliert.104 Ihre Ergebnisse zu „Religiosität und Spiritualität als Quellen der Sinnerfüllung“ fasst sie so zusammen: In Deutschland
ist der Bezug zu einer vertikalen, überweltlichen Selbsttranszendenz längst nicht verschwunden. Für fast die Hälfte aller Befragten nimmt der nicht-institutionalisierte Glaube an eine andere Wirklichkeit (Spiritualität) einen zentralen Platz in ihrem Selbst- und Weltverständnis ein; für über ein Drittel besitzt Explizite Religiosität eine hohe Zentralität. Beide Orientierungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit den höchsten Ausprägungen an Sinnerfüllung einhergehen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass bei beiden Lebensbedeutungen die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Bedeutungshaftigkeit und Orientiertheit in besonderem Maße unterstützt werden. (Schnell 2011b, S. 269)105
Religionssoziologische Daten zeigen also, dass für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung – bei weitem nicht für alle! – religiöse bzw. spirituelle Orientierungen und Lebensbedeutungen durchaus eine Rolle spielen.
2.6 Kritik am Konzept Spiritualität
Die Verwendung des Begriffs Spiritualität im oben beschriebenen weiten Sinne – sei es im Bereich der religionspsychologischen oder -soziologischen Forschung, sei es im Gesundheitsbereich – trifft auf vielfältige Kritik von verschiedenen Seiten.
2.6.1 Zu breite und unklare Verwendung des Begriffs
Für etliche Autoren ist der Begriff zu schwammig und breit, er werde unklar verwendet. Der kath. Theologe Erwin Möde beobachtet einen wissenschaftlichen und (kultur-)politischen „Erosionsdruck auf den christlich-metaphysischen Bedeutungsgehalt“ von Spiritualität, diese werde „akzeptier- und assimilierbar jenseits des dezidiert Religiösen“: „Die Zielorientierung solch ‚letzter Sinnbezüge‘ bleibt gewollt offen und ungesagt, um dadurch als Leerstelle und Projektionsfläche möglichst viele Interessen und Gestimmtheiten bündeln zu können. ‚Spiritualität‘ als ‚wertebewusste Existenzweise‘ wäre schließlich als passende Formel für Zivilreligion und Gesellschaft ebenso konsensfähig wie banal.“ (Möde 2007, S. 19) Der ev. reform. Theologe Frank Mathwig benennt angesichts heterogener Konnotationen des Spiritualitätsbegriffs auf andere Autoren zurückgreifend diesen polemisch als „Megatrend oder Megaflop?“ (R. Polak), „Containerbegriff“ (A. Giebel), zu den „Plastikwörtern“ gehörend (U. Pörksen) (vgl. Mathwig 2014, S. 26).
Die ev. Theologin Isolde Karle befürchtet einen empfindlichen Verlust:
Den größten Verlust, der mit einem vagen und unbestimmten Religions- oder Spiritualitätsbegriff einhergeht, sehe ich darin, dass er zu einer Entkonkretisierung und inhaltlichen Entleerung religiöser Sprache beiträgt. […] Religion ist in ihrer historisch gewachsenen Gestalt immer auf konkrete Inhalte, Rituale und Sozialformen bezogen und kommunikativ verfasst. Wird Religion abstrakt und vage definiert, wird sie entkörperlicht und entsinnlicht, formalisiert und schematisiert. Übrig bleibt ein fleischloses Gerippe, dem das Wesentliche verloren ging. (Karle 2010, S. 552)106
Dieses Anliegen ist durchaus berechtigt. Durch die Öffnung eines weiten Horizonts soll das konkrete Gute nicht im Allgemeinen aufgelöst werden.
Die kath. Pastoraltheologin Doris Nauer beschreibt in ihrer Monographie zum Thema Spiritual Care in einem Unterkapitel „Das zugrundeliegende Spiritualitätsverständnis“ (Nauer 2015, S. 49–55). Als kritische Anfrage diskutiert sie dieses unter der Überschrift Verengter oder zu weiter Spiritualitätsbegriff? (ebd., S. 94–98): Der Begriff sei zu eng, wenn er „auf rein innerweltliche, sprich horizontale Inhalte begrenzt wird“ (ebd., S. 95), es verbiete „sich nahezu, im Spiritualitätsverständnis die vertikale Linie der Erfahrung von Transzendenz / Gott / Göttlichem zu vernachlässigen oder gar auszublenden.“ (ebd., S. 96) Wirklich weit wäre ein Spiritualitätsbegriff „erst dann, wenn ausdrücklich die außerweltlich-vertikale Perspektive, sprich der persönliche Bezug zum Transzendenten, Göttlichen, Heiligen, Numinosen und Geheimnsivollen mit ins Spiel kommt.“ (ebd., S. 95)
Nauer beruft sich öfters auf die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller, die Spiritualität nicht von Religion trennen will: In der Begriffsdebatte meint sie, „dass die Trennung von Spiritualität und Religion in eine Sackgasse führen muss. Spiritualität verdunstet, wenn sie sich nicht von anthropologischer Existenzialität unterscheidet.“ (Heller u. Heller 2014, S. 49) Der weite Begriff von Spiritualität sei offen, aber schwammig:
Die Begriffsoffenheit wird positiv auf die Personzentrierung im modernen Gesundheitswesen und die individuellen Ausprägungen selbstbestimmter Spiritualität bezogen. Das eigentliche Problem der terminologischen Unbestimmtheit besteht aber doch darin, dass Spiritualität teilweise so weit gefasst wird, dass darunter nur mehr eine vage Sinnsuche oder eine existenzielle Lebenseinstellung verstanden wird. (ebd., S. 50)
Für sie ist die religiöse Rückbindung wesentlich: „Spiritualität ist wohl als der eigentliche Kern jeder religiösen Tradition zu betrachten.“ (ebd., S. 51)
Sehr kritisch äußert sich auch der Psychoonkologe Pär Salander (2006, 2012). Die Wissenschaft benötige den Begriff Spiritualität nicht: Das Verhältnis zu Religion sei unklar, das Konzept selber unscharf und unnötig (vgl. Salander 2012, S. 20). Er vermutet z. B., dass die Antworten von Menschen auf Fragen nach dem Empfinden von „Sinn und Ziel“ (als Ausdruck von Spiritualität) meist ihr generelles Wohlbefinden (well-being) ausdrückten: „people experience life as meaningful / not meaningful and this is very close to saying ‚I’m feeling fine‘ / ‚I’m feeling bad‘.“ (ebd., S. 22)107 Spiritualität sei ein „Regenschirmbegriff“, mit dem Autoren verschiedene Themen unter ihren eigenen Schirm steckten (vgl. ebd., S. 26). Bisher als psychologische und psychosoziale bezeichnete Themen würden plötzlich als spirituell definiert (vgl. ebd., S. 24) f.), was durch diesen Begriff oft einen religiösen Touch bekomme (vgl. ebd., S. 23) und die Frage aufwerfe, ob das Konzept Spiritualität eine säkulare Weltsicht respektiere (vgl. ebd., S. 29). Dem Konzept fehle ein theoretisches Rationale, systematische Bedeutung und damit klare Abgrenzungen zu benachbarten Konzepten, Operationalisierungen seien außerdem oft vermischt mit Indikatoren von Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. ebd., S. 27). Zu bevorzugen sei die Erforschung und Beachtung existentieller Herausforderungen, mit denen alle Mensch umgehen müssten – Freiheit, Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Tod (Yalom 1980)108 –, was sie auf unterschiedliche Weise tun würden: Manche mit säkularer, manche mit religiöser/spiritueller Weltsicht (ebd., S. 28).
Ralph W. Hood stimmt Salander zu, dass vieles in der Forschung zu Spiritualität im Gesundheitsbereich eine Falschmeldung (hoax) sei, weil neue Begriffe für wohlbekannte existentielle Realitäten geschaffen würden (vgl. Hood 2012, S. 109).
Peter La Cour und Niels C. Hvidt plädieren dagegen dafür, die drei Bereiche existentieller Sinngebung (existential meaning-making) nicht künstlich zu trennen: In der realen Welt dächten viele Patienten über ihre Existenz in säkularen, spirituellen und religiösen Begriffen nach, und die Mehrheit tue dies vielschichtig simultan (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Diese drei Dimensionen/Ebenen würden sich im Geist und Herzen der meisten Menschen überlappen (vgl. ebd., S. 1298), keine davon sei von vornherein den anderen übergeordnet (vgl. ebd., S. 1294). Im Übrigen (unter Bezug auf Hall et al. 2008) existiere weder generische (allgemeine) Spiritualität noch generisches existenzielles Denken, diese seien immer in spezifischen kulturell-sprachlichen Kontexten verwurzelt (vgl. La Cour u. Hvidt 2010, S. 1293). Das Gegenteil von Glaube im Kontext von Sinnfindung sei Indifferenz: „In terms of meaning-making the opposite of a belief is not dis-belief, but existential indifference.“ (ebd., S. 1294) Auch das ist eine Möglichkeit, die man wählen kann …109
Heinz Streib und Ralph W. Hood halten in der Religionspsychologie das Konzept Spiritualität für unnötig, verwirrend und für eine Energieverschwendung, das bewährte Konzept Religion sei wissenschaftlich ausreichend (vgl. Streib u. Hood 2011, S. 449). Zusammenfassend formulieren sie drei Thesen: „Our first thesis says: Self-identified ‚spirituality‘ is (nothing but) religion. Our second thesis says: This ‚spirituality‘ is part of religion. The third thesis says: ‚spirituality‘ is privatized, experience-oriented religion.“ (ebd., S. 448)110 Es sei jedoch sinnvoll, das Verständnis von Spiritualität (als emischen Begriff) bei denen zu erforschen, die sich damit selbst identifizierten bzw. als „eher spirituell als religiös“ oder „spirituell, aber nicht religiös“ bezeichneten (vgl. ebd., S. 448 f.).111
2.6.2 In der Bevölkerung kein einheitliches Verständnis von Spiritualität
Viele Autoren bemerken kritisch, dass sich bei Befragungen in der Bevölkerung kein gemeinsames Verständnis von Spiritualität zeige. Daniel E. Hall, Keith G. Meador und Harold G. Koenig unterstreichen, dass eine generische Religiosität bzw. kontext-freie Spiritualität nicht existiere, sie stünden immer in einem Kontext von Kultur, Tradition etc. Es sei deshalb auch unmöglich, Religiosität oder Spiritualität ohne diesen jeweiligen spezifischen Kontext zu erforschen (vgl. Hall et al. 2008, S. 155). Die Autoren schlagen einen Vergleich mit Sprachen und Linguistik vor:
However, the recognition that people are all“spiritual” in their human search for meaning is like recognizing that all languages use similar patterns of grammar and syntax. There is much to learn from the study of linguistics, but the dry text of linguistic theory can never replace the living verse of Shakespeare. Language does not exist“in-general” because it is always encountered in particular forms (ebd.).
Insofern könne Spiritualität eine Art Linguistik für konkrete Formen von Glaube bzw. Praxis sein, aber keine universale Sprache des Glaubens (vgl. ebd., S. 156).
Peter La Cour, Najda H. Ausker und Niels C. Hvidt befragten in Dänemark 514 Erwachsene (Studierende, sowie Teilnehmer versch. Kurse) nach ihrem Verständnis von Spiritualität, indem sie bei 115 von Experten genannten Items ankreuzen sollten, was zu Spiritualität gehöre(vgl. La Cour et al. 2012, S. 66). Eine Faktorenanalyse der Antworten ergab kein gemeinsames Verständnis, sondern sechs Faktoren, die sich nicht aufeinander reduzieren ließen. Daher stellten sich Probleme, den Begriff Spiritualität in der Forschung oder im klinischen Setting zu verwenden, wenn existentielle oder religiöse Fragen angesprochen werden sollen – auf jeden Fall sollten einige erklärende Schlüsselworte angegeben werden (vgl. ebd., S. 77). Als solche schlagen die Autoren für Forschungszwecke folgendes vor: „A coherent use of the term spirituality in future research might therefore comprise spirituality understood as a context-bound experience of relatedness to a vertical transcendent reality.“ (ebd., S. 80)112