Kitabı oku: «Menschen mehr gerecht werden», sayfa 8
In den Niederlanden erfragten Joantine Berghuijs, Cok Bakker und Jos Pieper in einem repräsentativen Bevölkerungssample (N = 4402) ohne Vorgaben das persönliche Verständnis von Spiritualität und untersuchten die gegebenen Beschreibungen mit einer Hauptkomponentenanalyse (vgl. Berghuijs et al. 2013, S. 377). Es fand sich eine große Bandbreite, aus der keine einheitliche Definition möglich war. In der Analyse ergaben sich acht Komponenten,113 von denen „Spiritualität als der transzendente Gott“, „Spiritualität als Innerlichkeit“ und „Spiritualität als Streben nach seelischer Gesundheit und Wohlbefinden“ die höchsten Werte aufwiesen (vgl. ebd., S. 386). Dieses weite Spektrum von Antwortmustern zeigt eine Überschneidung des Verständnisses von Spiritualität mit Konzepten aus Psychologie, Religion und Philosophie, die sich mit keiner Definition auflösen ließe (vgl. ebd., S. 392). Außerdem habe sich in der holländischen Bevölkerung das Konzept Spiritualität weithin von Religion getrennt (vgl. Zinnbauer et al. 1997), auch Bezugnahme auf das „Heilige“ (sacred im Sinne von Hill et al. 2000) sei nicht stark (Berghuijs et al. 2013, S. 392). Auffällig war der Einfluss des Bildungsniveaus: Personen mit niedrigerer Bildung distanzierten sich weit häufiger von Spiritualität bzw. konnten weniger damit anfangen als Personen mit höherer Bildung – so dass der Begriff scheinbar eher Sache einer „Elite“-Welt sei (vgl. ebd., S. 389).
Aus letzterem Grund hält Bernhard Grom den Begriff Spiritualität im deutschsprachigen Raum bei Befragungen oder in der Krankenbegleitung nur bedingt für geeignet: „Denn während Englischsprachige die Begriffe spiritual/spirituality nicht als Fremdwörter oder Fachbegriffe empfinden, dürften Deutschsprachige aus bildungsfernen Schichten die Vokabeln ‚spirituell/Spiritualität‘ kaum verstehen.“ (Grom 2009, S. 14)
Heinz Streib und Barbara Keller (2015) untersuchten die Semantik und Psychologie von „Spiritualität“ in Deutschland,114 u. a. in einer Online-Befragung mit 773 Teilnehmern. 740 von ihnen gaben eine Definition von „Spiritualität“ als freie Eintragung: Eine Hauptkomponentenanalyse der Inhalte erbrachte zehn semantische Komponenten (ebd., S. 40) f.).115 Es sei große Zurückhaltung angebracht, „das, was die Menschen auf der Straße ‚Spiritualität‘ nennen, auf einen Begriff bringen zu wollen.“ (ebd., S. 52)
2.6.3 Kritisches zum Konzept Spiritualität im Gesundheitsbereich
Neil Scheurich, Assistenzprofessor für Psychiatrie, hält in der Medizin die Verwendung philosophischer Werttheorie für umfassender und weniger tendenziös als den Begriff Spiritualität. Nicht jeder Mensch sei spirituell, aber jeder habe ein zugrundeliegendes (oft unbewusstes und unhinterfragtes) Wertesystem, das auch die – für die Medizin oft relevanten – tiefsten Anliegen (ultimate concerns) der Person beinhalte. Der philosophische Begriff Wert bedeute eine persönliche Bindung an das jeweils Intendierte und sei gegenüber dem unklareren Konzept Sinn (meaning) zu bevorzugen: Werte bezeichneten, was letztlich im Leben zähle (vgl. Scheurich 2003, S. 357) f.). Solch ein philosophisches Wertekonzept und eine entsprechende Anamnese sei sorgsam neutral gegenüber religiösen wie säkularen Weltanschauungen, während Spiritualität unweigerlich einen Einschlag Richtung übernatürlichem Glauben habe. Religiöser Glaube sei weder zu überhöhen noch abzuwerten, sondern schlicht unter den zahllosen persönlichen Werten einer Person einzuordnen (vgl. ebd., S. 356) f.). Eine säkulare Medizinphilosophie bedeute Neutralität, aber nicht Ignoranz gegenüber persönlichen Werten und Weltanschauungen: „It has been argued, convincingly I think, that respecting the full humanity of patients calls for some inquiry into their ultimate concerns, religious or otherwise.“ (ebd., S. 358)116
Ähnlich plädiert der emeritierte Philosophieprofessor Trevor Hussey (2009, 2011) für eine „naturalistische Sicht“ in der Krankenpflege. Naturalismus verbinde eine metaphysische und eine epistemologische Behauptung: Es existiere nur die natürliche Welt und nichts Über- oder Nicht-Natürliches. Von der natürlichen Welt könnten wir nur durch Wissenschaft und Alltagsverstand Kenntnis erlangen (vgl. Hussey 2009, S. 72). Die Vokabel Spiritualität sei vage und nicht hilfreich und deshalb zu vermeiden: Wenn sie als Abkürzung für alle Erfahrungen, Gedanken und Aktivitäten gebraucht würde, die wertbezogen große persönliche Bedeutung hätten, sei die Gefahr eines – unnötigen – übernatürlichen Anklangs unvermeidlich (vgl. ebd., S. 74), 79). Die Vielfalt religiöser und spiritueller Annahmen (bei Patienten wie Pflegenden) sowie die Intensität, mit der diese häufig vertreten würden, bildeten ein Rezept für Missverständnisse, wenn beide Seiten eine Situation durch das gefärbte Glas ihres eigenen Glaubenssystems betrachten würden (vgl. ebd., S. 78). Glaubensvorstellungen anderer ließen sich jedoch – wie Märchen – verstehen, ohne ihrem Realitätsgehalt zustimmen zu müssen, und man könne sie als Aspekt des Natürlichen einordnen (vgl. Hussey 2011, S. 47), 50). Man müsse aber zu unterscheiden vermögen, wann eine Ansicht ernsten Schaden anrichten könnte (vgl. ebd., S. 50).
Auch der Pflegewissenschaftler John Paley (2008a, 2008b) votiert scharf für eine „atheistische“ bzw. „naturalistische“ Perspektive: Das Konzept Spiritualität sei nicht nur künstlich und unnötig, sondern auch verdunkelnd, es verdecke andere, evtl. effektivere Zugänge zur Unterstützung von belasteten Patienten, und verwirre Patienten wie klinisches Personal (vgl. Paley 2008a, S. 9). Die Literatur zu Spiritualität-in-der-Pflege habe oft einen nicht-naturalistischen Einschlag (bias), der weithin unhinterfragt bleibe – existentielle Fragen sollten aber in einem ausschließlich naturalistischen und wissenschaftlichen Rahmen erforscht werden (vgl. ebd., S. 14). Religiöser/spiritueller Glaube etwa stelle schlicht einen speziellen Fall von positiver Illusion dar, nachweisbare gesundheitsgünstige Wirkungen ließen sich naturalistisch erklären (vgl. ebd., S. 11).117 Paley meint, dass unter dem Begriff Spiritualität ganz verschiedene Dinge zusammengeworfen würden (vgl. Paley 2008b, S. 177), um äquivalent zur sogenannten Medikalisierung (wenn nicht-medizinische Probleme als medizinische behandelt werden) durch eine „Nursification“ den Pflegenden einen eigenen Einflussbereich zu sichern, indem aus unvermeidlichen Konsequenzen des Patientseins pflegerisch zu versorgende psycho-soziale Bedürfnisse und nun auch spirituelle Bedürfnisse (spiritual needs) gemacht würden (vgl. ebd., S. 180 f.).
2.7 Antworten auf die Kritik
2.7.1 Das Konzept Spiritualität im Gesundheitsbereich
Die Kritiker benennen Grenzen und Schwachpunkte eines weiten Spiritualitätsbegriffes sowie ethische und weltanschauliche Bedenken für seine Verwendung im Gesundheitsbereich. Sie wurden ausführlich vorgestellt, weil diese Punkte nicht übergangen werden sollen – im Gegenteil, sie helfen, wichtige Aspekte nicht zu übersehen. Entscheidend ist freilich, welche Konsequenzen für den konkreten Umgang man jeweils zieht. Möglicherweise ist das weite Konzept von Spiritualität als Öffnung eines Horizonts in einigen Kontexten ja doch nützlich, und das damit Gemeinte und Intendierte wäre trotz aller Definitionsprobleme ernst zu nehmen.
Die kanadische Pflegewissenschaftlerin Barbara Pesut (2010) antwortet auf die von Paley (2008a) und Hussey (2009) vorgetragene „naturalistische“ Kritik: Spiritualität habe eine Berechtigung für die Bereiche Sinn und Moral, in denen nicht alles durch (Natur-)Wissenschaft zu beantworten sei,118 man dürfe angesichts spiritueller Pluralität auch keine einzelne Ontologie, Denk- oder Glaubensweise (wie z. B. Naturalismus) vorschreiben (vgl. Pesut 2010, S. 21) f.). Man müsse für den Pflegebereich jenseits von weltanschaulicher Polemik fragen, wie die Grundwerte Respekt, Würde und Sensibilität sich konkretisieren ließen auch für spirituelle Themen: „common values of respect, dignity, and sensitivity need to be defined in relation to the complex contexts of practice where diverse claims about spirituality enter into the realm of care-giving encounters.“ (ebd., S. 22)
John Swinton und Stephen Pattison stimmen der Kritik an den Begriffen zunächst zu: Spiritualität oder Spiritual care würden in endlos unterschiedlicher und unklarer Weise benützt, sie hätten keinen Bezug zu festen Wesenheiten oder Objekten in Menschen oder in der Welt – aber trotz dieser Unschärfe sei die Sprache von Spiritualität im Gesundheitsbereich sinnvoll (vgl. Swinton u. Pattison 2010, S. 227). Sprachen seien – im Sinne Wittgensteins – nicht nur referentiell, sondern auch performativ und expressiv: deshalb sei es sinnvoll, ein „dünnes“, vages, funktionales Verständnis von Spiritualität im Kontext der Gesundheitssorge zu entwickeln (vgl. ebd.). Bei Krisen wie ernster Krankheit entstünden oft Spiritualitäts-, Sinn- oder Identitätsfragen – wie anfänglich oder undeutlich artikuliert auch immer: Äußerungen dieser Art sollten in ihrer Funktion und Richtung gehört und ernst genommen werden (vgl. ebd., S. 229). Eine Suche nach der „ursprünglichen“ Bedeutung von Spiritualität sei deshalb für den Gesundheitsbereich gar nicht nötig (vgl. ebd., S. 230). Viele Schlüsselbegriffe im Gesundheitswesen wie Ganzheit, Pflege oder Person würden ähnlich aufkommen, seien konstruiert und wandelbar – selbst alltägliche Worte wie „leadership, person, values, religion, art, love, and friendship are equally vague, contested, multi-, or poly-valent, but nonetheless important and necessary.“ (ebd., S. 230 f.) Eine sinnvolle Funktion von Sprache sei es ferner, jenseits der konkret beschreibbaren Dinge auch Grenzbereiche des Greifbaren zu bezeichnen (limit language)119 – das geschehe durch Spiritualität. Sie funktioniere tendenziell sogar als eine Weise, Abwesendes/Nicht-Vorhandenes (absences) mehr noch als Anwesendes (presences) zu benennen. Dazu könnten auch im säkularen biomedizinischen Ansatz teilweise vernachlässigte Fragen nach Sinn, Hoffnung, Bestimmung, Verbundenheit, Liebe, Gott … gehören, Dimensionen, die in der Krankheitserfahrung oft virulent würden und früher häufig in religiöser Sprache ausgedrückt wurden (vgl. ebd., S. 231 f.). Die Autoren empfehlen deshalb eine „dünne“ und vage Beschreibung von Spiritualität (anstatt von „dicht“ und reich),120 die eher durch klinischen Nutzen als durch konzeptuelle Klarheit bestimmt sei: Durch eine unscharfe Beschreibung könne man mehr sehen als man mit ganz engen Kategorien wahrnehmen würde, und so auf das achten, was Patienten im klinischen Umfeld oft fehle. Ein „dünnes“ Konzept brauche oft eine sehr dichte Antwort, die komplexes und nuanciertes Verstehen und Antworten beinhalte und auch interdisziplinäre Perspektiven nötig mache. Der Begriff Spiritualität könne als metaphorischer Container für ein ganzes Feld fungieren, als ein sensibilisierendes Konzept für existentielle Themen wie Sinn, Bestimmung (purpose), Bezogenheit (relationality), Hoffnung, Werte, Liebe, Gott, Transzendenz (vgl. ebd., S. 232–234).121
Swinton (2012) weist darauf hin, dass Spiritualität im beschriebenen Sinne darauf ziele, im Gesundheitsbereich idiographisches Wissen122 um die einzelne Person als bedeutsame Dimension der Versorgung und legitime klinische Kategorie anzuerkennen – was in einer evidenzbasierten Kultur, die normalerweise nomothetischem Wissen123 Priorität einräume, einen Wandel der Sicht auf die Welt bedeute und damit nie eine einfache Aufgabe sei.124
In einem der Grundsatzreferate bei der Third International Conference of the British Association for the Study of Spirituality, Spirituality in a Challenging World schlug Swinton vor, angesichts einer legitimen Vielfalt von Spiritualitäts-Definitionen eher im Plural von Spiritualitäten zu denken: Je nach Kontext und Zweck würden Forscher und Praktiker als funktionale Konzepte entsprechende Definitionen konstruieren (vgl. Swinton 2014, S. 163). Für ein richtiges Verständnis von dem, was schwere Krankheit ist, hält er Beziehungs-, Identitäts- und/oder Spiritualitätsaspekte für wesentlich: Sie sei nicht nur eine biologische Fehlfunktion, sondern verändere die Welt und Identität von Patienten grundlegend, was nicht übergangen werden dürfe (vgl. ebd., S. 172).125
Das WPA Position Statement on Spirituality and Religion in Psychiatry (Moreira-Almeida et al. 2016) der World Psychiatric Association mahnt, trotz aller Definitionsfragen das Thema als relevant zu berücksichtigen (vgl. unten Abschn. 3.3.4).
Für Peter J. Verhagen sind Psychiatrie/Wissenschaft (science) und Religion keine Feinde, sie könnten Verbündete sein zum Wohl der Menschen im Einsatz gegen Unsinn und Aberglaube. Einsicht und Urteilsvermögen (discernment) gehörten nicht nur zu Wissenschaft, sondern auch zu den religiösen Traditionen, die Formen der Unterscheidung und Einordnung von Erfahrungen enthielten: „Discernment focuses on what is said to be true, valuable, and decisive in our lives and contributes to what meaning giving is. Spiritual discernment in that sense is a decisive intersubjective aid and a common strategy for knowing and judging developed in every spiritual tradition“ (Verhagen 2012, S. 357).126 Dass es in der Religion nicht irrational zugehen muss, besonders wenn eine bewährte Glaubensgemeinschaft dahinter steht, unterstreicht auch Walter Schaupp:
Da große und schon lang existierende Religionssysteme über einen reichen Erfahrungs- und Reflexionsschatz verfügen, gelingt es ihnen meist, dem Glauben ein hohes Maß an innerer Konsistenz und Ausgewogenheit und somit rationale Nachvollziehbarkeit zu geben. Daher kann die beschriebene Abkoppelung im Rahmen einer hoch individualisierten Form von Religiosität immer wieder zu irrational anmutenden Formen von Religiosität führen. (Schaupp 2014, S. 18)
Da darf und muss man genau hinschauen.
2.7.2 Religiöse/spirituelle Bedürfnisse
Auf Kritik war auch der Begriff spirituelle Bedürfnisse gestoßen (s. o. Paley S. 69). In der Tat wird Bedürfnis hier eher als eine Art pragmatische Kurzformel für die gemeinte Dimension und das für sie Nötige verwendet, vielleicht nicht in psychologisch theoretisch ganz striktem Sinne.127 Zunächst kam der Begriff vor allem im Palliativbereich häufiger vor (vgl. z. B. Kellehear 2000, Murray et al. 2004), dann im Gesundheitsbereich allgemein (vgl. Hodge u. Horvath 2011).
Eckhard Frick verwendet den Begriff zwar auch für die Beschreibung von Spiritual Care als „die gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe für die spirituellen Bedürfnisse, Wünsche und Ressourcen kranker Menschen“ (Frick 2014b, S. 56), sagt aber auch einschränkend: „Spiritualität kann nicht auf ein Bedürfnis reduziert werden, das gestillt werden kann wie Hunger, Durst oder Müdigkeit.“ (ebd., S. 62)128
Crystal L. Park et al. sprechen im genannten APA-Handbuch vom Bedürfnis nach einem Sinnsystem und unzähligen auf Sinn bezogenen Fragen: „humans possess a general need for a well-functioning meaning system that is motivated by myriad meaning-related demands“ (Park et al. 2013, S. 159). Religion schreiben sie dafür eine wichtige Rolle zu.129
Hans-Joachim Höhn steht aus theologischen Gründen einer Orientierung an subjektivistischen Bedürfnissen kritisch gegenüber: „Luthers Frage ‚Wie finde ich einen gnädigen Gott?‘ heißt nicht mehr: ‚Wie werde ich den Anforderungen Gottes gerecht, dass er mir gnädig wird?‘ Im Zentrum steht jetzt das Problem: ‚Wie finde ich einen Gott, der mir und meinen Bedürfnissen gerecht wird?‘“ (Höhn 2006, S. 6) Auch Jürgen Werbick meint, wenn auch das „unbedingt Angehende“ entgegen religionskritischem Verdacht wahres Menschsein nicht sabotierte, dürfte es dennoch nicht verzweckt werden (vgl. Werbick 2005, S. 69):
Insoweit Religion als Beziehung zu einer göttlichen Wirklichkeit verstanden werden darf, steht auch sie unter der Spannung, daß der Beziehungspartner Mensch sie als gut für sich selbst schätzen, in ihr seine Erfüllung – Identität, Friede, Freude, Trost, Lebens- und Hoffnungsperspektiven, Kontingenzbewältigung – suchen und doch zugleich die Beziehung zu Gott nicht einfachhin als Mittel zu diesem Zweck ansehen darf. (ebd., S. 68).130
Der Religionspsychologe Jacob A. v. Belzen meint ebenso, Religion habe ihr eigenes Recht, sie dürfe nicht instrumentalisiert oder gar pervertiert werden für geistige Gesundheit o. ä. (vgl. Belzen 2004, S. 299). Selbst Richard Sloan, der den Einbezug von Spiritualität in medizinischer Forschung und Behandlung vielfach kritisiert hat (vgl. unten S. 157), möchte Religion davor schützen, hier trivialisiert und untergeordnet zu werden (vgl. Sloan 2006, S. 264).
2.7.3 Atheistisch spirituell?
Es wurde kritisiert, das Konzept Spiritualität würde atheistische oder säkulare Weltanschauungen vereinnahmen und hätte unvermeidlich übernatürliche Anklänge. Andere dagegen wollen sich nicht absprechen lassen, spirituell zu sein, auch wenn sie an nichts Religiöses oder „Jenseitiges“ glauben. Wie immer, es kommt auf den gemeinten Sinn der Worte an … Wir versuchen, verschiedene Aspekte zu beleuchten (vgl. auch oben S. 51)f).
Oben wurde bereits die Umschreibung von Jacob v. Belzen für Spiritualität angeführt: Eine mehr oder weniger bewusste „Gestaltung der Bezogenheit auf Transzendenz“ (vgl. Belzen 1997, Sp. 210). Er vermutet deshalb, wahrscheinlich seien die meisten Menschen nicht spirituell, entgegen der Ansicht, jeder sei es, denn Massen von Menschen schienen überhaupt keine Form von Transzendenz anzuerkennen und keine Form von Hingabe daran zu praktizieren (vgl. Belzen 2004, S. 308).
Welche Art von Transzendenz ist aber gemeint? Gibt es Spiritualität ohne Transzendenzbezug? In ihrem Überblicksbeitrag Atheisten, Agnostiker und Apostaten im APA Handbuch berufen sich Heinz Streib und Constantin Klein auf die Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Transzendenz:
To understand atheism and agnosticism, it is important to realize that the symbolization of experiences of transcendence can occur in terms of vertical or of horizontal transcendence (cf. Hood et al., 2009): Vertical transcendence involves the symbolization of a heaven above with person-like beings; in horizontal transcendence, experiences of transcendence are symbolized as experience of the holy or something of ultimate concern, but within this world, such as Mother Earth in green spirituality (Kalton, 2000). (Streib u. Klein 2013, S. 715)
Unter Atheisten und Agnostikern fänden sich demnach Formen von Spiritualität, die vornehmlich mit horizontaler Transzendenz wie etwa der Bewahrung der Erde zu tun hätten (vgl. ebd.).131
Eine seriöse britische Website (http://atheistspirituality.net/), die momentan von Geoff Crocker ediert wird, bietet ein Forum für eine atheistische Weltsicht, die Aspekte von Leben, Werten und Tugenden jenseits von bloßem Materialismus sucht:
Why atheist spirituality? Some might feel that the concept of atheist spirituality is a contradiction in terms. But a lack of belief in God does not necessarily rule out a recognition of human spirituality. Atheism does not necessarily imply a reductionist view that everything in our experience is only physical. And even if it is, even if everything is ultimately shown to consist of physical elements, nevertheless, those physical elements are the building blocks of our metaphysical experience of ideas, of feelings, of truth, of goodness. We might not know, either now or even ever, how the physical generates the metaphysical, but we know for certain that it does. It is this metaphysical dimension which the site explores within an atheist position. (http://atheistspirituality.net/somedefinitions/) (Atheist Spirituality Website 2018)
Für den therapeutischen Umgang schlagen Livia M. D’Andrea und Johann Sprenger in ihrem Artikel Atheism and Nonspirituality as Diversity Issues in Counseling vor, Atheisten als – zumindest im US-amerikanischen Kulturbereich – Minderheitengruppe zu betrachten, die besonderer Rücksichtnahme bedürfe.132 „Note that nonbelief in God, gods, or universal forces does not include the belief that there is no good, no morality, no meaning to life, and no human goodness – just that there is no supreme being (Baggini, 2003).“ (D’Andrea u. Sprenger 2007, S. 152) „Nicht-Spiritualität“ sehen sie so: „Nonspirituality is defined as having no belief in any sort of higher power, life force, universal presence, or obligation to a spiritual soul or being.“ (ebd., S. 153) Atheistische und nicht-spirituelle Personen würden dazu tendieren, sich selbst dafür verantwortlich zu sehen, ihrem Leben einen Sinn zu geben (creating meaning) und dessen Ziel zu definieren (vgl. ebd.). Das verdiene Respekt und Ermutigung.
John R. Peteet weist darauf hin, dass die Bedeutung eines Schmerzes das Leiden definiere und dabei Weltanschauung und Leidenserfahrung einer Person sich gegenseitig beeinflussten. Atheisten, die mit Leiden konfrontiert werden, könnten dabei z. B. stolz sein auf ihre eigene Integrität, intellektuelle Ehrlichkeit oder stoische Haltung (vgl. Peteet 2001, S. 188). Auf jeden Fall wünschten Glaubende wie Nichtglaubende, dass sie in Fragen ihrer wichtigsten Werte und bei der Suche, diese auch im Leiden zu konsolidieren und integrieren, ernst genommen und begleitet würden – und zwar nicht nur als rein „psychologische“/„psychodynamische“ Bedürfnisse (vgl. ebd., S. 189–191).
Julie J. Exline et al. schließlich fanden bei Untersuchungen von Wut auf Gott die überraschende Erkenntnis, dass auch manche Atheisten und Agnostiker solche Gefühle und Gedanken berichteten, verglichen mit Glaubenden sogar in erhöhtem Ausmaß sowohl bezüglich der Häufigkeit über die Lebenszeit hinweg wie auch der Intensität:
Findings suggest that researchers and clinicians might miss important information if they restrict their work on anger toward God to religious affiliates and professed believers. Not only may some atheists and agnostics have anger toward God as part of their religious/ spiritual history, but some may still have anger focused on images of a hypothetical God. (Exline et al. 2011, S. 144)
Atheistische wie agnostische Haltungen weisen offenbar analog zu glaubenden Einstellungen eine große Vielfalt auf. Vereinnahmt werden soll niemand – das wäre gegen die Berufsethik. Übergangen werden in dem, was einem an Grundwerten und -orientierungen wichtig ist in der Auseinandersetzung mit der eigenen Erkrankung, sollte aber möglichst auch keiner.
55 So auch Wolfgang Schoberth: „Menschsein wird sich selbst in mannigfaltiger Hinsicht fraglich; und jeder Versuch, eine Fragerichtung und eine Zugangsweise zur maßgeblichen zu machen, führt in unzulässige Reduktionen, die die anthropologische Theorie entweder letztlich irrelevant oder ideologisch machen. Die faktische Vielzahl anthropologischer Ansätze und Themenstellungen ist also nicht lediglich ein kontingentes Ergebnis der Wissenschafts- und Geistesgeschichte, sondern folgt aus der Vielzahl der Perspektiven, in denen Menschen sich selbst thematisch werden.“ (Schoberth 2006, S. 15)
56 Diese Komplexität begegnet auch innerhalb der Psychiatrie mit ihren vielfältigen Paradigmen, wie der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs bemerkt: „Denn die Vielfalt teils komplementärer, teils konkurrierender Ansätze macht nicht nur die Lebendigkeit und den Reichtum der Psychiatrie aus, sie entspricht auch ihrem Gegenstand, nämlich dem psychisch kranken Menschen in seiner ganzen Komplexität.“ (Fuchs 2010, S. 236)
57 Auf die Situation der Krankheit angewandt: „So aber kommt der Kranke in einem intensiven Sinn in die Situation des Menschen überhaupt: in ein Wissen der Erfahrung von sich selbst, dessen letzte Deutung ihm selber dunkel bleibt. Der Mensch erfährt sich als Geheimnis, als eine Frage, auf die er keine Antwort hat. Er erfährt das eigene Dasein als dunkel und antwortarm, nicht weil es wirklichkeitsleer wäre, weil nichts dahinter wäre, sondern weil sein Gehalt den Fragenden übersteigt.“ (Rahner 1966, S. 267)
58 Diese Offenheit könnte analog sein zur theologischen Betrachtung vom Menschen als Geheimnis: Es ist ökumenischer Konsens, dass der Mensch wesentlich „von seiner Beziehung zu Gott her“ zu sehen sei, dadurch bleibe er – so Gisbert Greshake – Geheimnis: „Wenn aber dies die tiefste Aussa ge über den Menschen ist, daß er vor dem unendl., unbegreifl. Gott steht, so folgt daraus, daß er selbst in seinem innersten Wesen unbegreiflich ist, ein Geheimnis, das über alle Definitionen hinaus ins Grenzlos- ‚Undefinierbare‘ verweist.“ (Greshake 1993, Sp. 730)
59 Orig.: Religion As a Cultural System (London: 1966).
60 Zur Nicht-Notwendigkeit und Freiheit von Religiosität siehe besonders auch Ingolf U. Dalferth (vgl. S. 37). – Der Philosoph Max Scheler (1874–1928) dagegen nahm in seiner Phänomenologie der Religion – ausgehend vom „Wertfühlen“ und seiner „materialen Wertlehre“ – eine „Absolutsphäre“ des „Seins und der Werte“ an, die jeder Mensch wesensnotwendig besitze (vgl. Scheler 1921, S. 560): „Da der religiöse Akt eine wesensnotwendige Mitgift der menschlichen geistigen Seele ist, kann gar nicht die Frage ergehen, ob er von einem Menschen vollzogen wird oder nicht. Es kann nur die Frage ergehen, ob er das ihm adaequate Objekt findet, das Ideenkorrelat, zu dem er wesensmäßig gehört, oder ob er auf ein Objekt zielt und es als heilig und göttlich, als absolutes Wertgut bejaht, das seinem Wesen widerstreitet, da es der Sphäre endlicher, kontingenter Güter angehört. Es besteht das Wesensgesetz: Jeder endliche Geist glaubt entweder an Gott oder an einen Götzen.“ (ebd., S. 559) Das wird man so heute nicht mehr ohne weiteres vertreten können. – Zu Scheler vgl. etwa bei Richard Schaeffler den Abschnitt „Das religiöse Apriori und die Sinnlogik der religiösen Akte: Max Schelers Ansatz zu einer Phänomenologie der Religion“ (Schaeffler 2002, S. 130–133).
61 „Anima intellectiva dicitur esse quasi quidam horizon et confinium corporeorum et incorporeorum.“ Dazu Fußnote 22: „»Die geistige Seele, so heißt es, ist etwas wie ein Horizont und eine Grenze zwischen Körperlichem und Unkörperlichem.« Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles II, 68, 1453b.“ (Welte 1969, S. 89)
Vgl. zu dieser Stellung zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit auch Karl Rahner im „Grundkurs“ über „die ganz eigentümliche Situation, die gerade das Wesen des Menschen auszeichnet: Insofern er seine geschichtliche Bedingtheit als solche erfährt, ist er schon in einem gewissen Sinne über sie hinaus und kann sie trotzdem nicht eigentlich verlassen. Dieses Gestelltsein zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit macht den Menschen aus und zeigt sich noch einmal dadurch, daß sich der Mensch gerade in seiner unendlichen Transzendenz, in seiner Freiheit als der sich Auferlegte und geschichtlich Bedingte erfährt.“ (Rahner 1976, S. 53)
62 Vgl. dazu im „Grundkurs des Glaubens“ die Einleitung sowie die Kapitel „Erster Gang: Der Hörer der Botschaft“ und „Zweiter Gang: Der Mensch vor dem absoluten Geheimnis“ (ebd., S. 13–96).
63 Ein kurzer Seitenblick in die Philosophie des 19. Jahrhunderts: Albert Franz schreibt unter dem Titel „Der Mensch als Wesen der Transzendenz“ über die Spätphilosophie F. W. J. Schellings: „Wie auch immer seine Synthese im einzelnen beurteilt werden mag: Daß mit ‚Transzendenz‘ der Nerv sowohl des philosophischen Denkens als auch jeden religiösen Vollzuges berührt wird und daß es gerade hierbei um die Existenz des Menschen, und zwar des konkreten Menschen, von Grund auf geht, dies kann nach Schelling nicht bezweifelt werden.“ (Franz 1992, S. 263)
Für den Begriff Transzendenz vgl. auch Richard Schaeffler über Probleme im verbreiteten traditionellen Verständnis (das Transzendente als „jenseits“ unserer Erkenntnis und damit relativ definiert, in Bezug auf unser Erkenntnisvermögen; Religion werde dann als Verhältnis zu einer Wirklichkeit verstanden, die unserer Alltagserfahrung unzugänglich bleibe und damit auf die Sphäre „übernatürlicher“ Ereignisse eingeschränkt), wogegen in einem transzendentalen Verständnis Transzendenz als Möglichkeitsgrund von Akten des Subjekts betrachtet werde(vgl. Schaeffler 2002, S. 208f).
64 Für religionspsychologische Untersuchungen anwendbar sind auch die Analysen des menschlichen Bewusstseins (human consciousness) des Philosophen Bernard J. F. Lonergan, vgl. v. a. die Werke „Insight“ (Lonergan 1957) / dt.: „Die Einsicht“ (Lonergan 1995) sowie „Method in theology“ (Lonergan 1972) / dt.: „Methode in der Theologie“ (Lonergan 1991). – Vgl. etwa die zusammenfassenden Darstellungen bei Daniel A. Helminiak im Blick auf eine Konzeption von Religionspsychologie, die die menschliche Seite religiöser und spiritueller Phänomene untersucht (Helminiak 2006, S. 208–212, 2008, S. 170)–172). „The human spirit is a structured, open-ended, dynamic dimension of the mind. The human spirit is inherently self-transcending, geared to reach ever beyond itself. It is oriented to the universe of being, to all that there is to be known and loved, to reality.“ (Helminiak 2006, S. 211)
65 Baier greift teilweise auf die berühmte anthropologische Definition von Spiritualität bei Hans Urs v. Balthasar zurück, eine der ersten, die einen „weiten“ Begriff zu erfassen suchte: „Vom gleichen allgemeinen Bewußtsein her ist positiv der Begriffsinhalt annähernd zu bestimmen als je praktische oder existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“ (Balthasar 1967, S. 247) – Zentral ist ihm die Geistigkeit des Menschen, der Begriff Spiritualität stellt den spiritus, den Geist in die Mitte, mit großer Weite: „Und doch braucht diese Weite keine entscheidungslose Verschwommenheit zu sein, sofern im Wort eine – wenigstens eine! – klare Grundentscheidung immer schon mitgesagt ist: daß der Mensch sich als Geist versteht und durch Geist definiert – und nicht durch Materie, nicht durch Leib, nicht durch Trieb. Geist aber eröffnet eindeutig, wenn auch geheimnisvoll, die Totalität des Seins, und zwar als absolute Totalität (da der Begriff des relativen Seins nur von einem Punkt aus gebildet werden kann, der die Relativität überblickt, anders gesagt, da der Wahrheitsanspruch des Geistes Absolutheit notwendig impliziert). Damit liegen die Dimensionen menschlicher Spiritualität grundsätzlich für uns offen.“ (ebd., S. 248) Erstveröffentlichung des Beitrags in Concilium 1 (1965), S. 715–722 ( = Balthasar 1967, S. 247– 263).