Kitabı oku: «Tollkirschen und Brombeereis», sayfa 2

Yazı tipi:

2.

Mein Tag ist verplant. Jede Stunde, jede Minute. Ich muss immer etwas zu tun haben, damit ich nicht so viel nachdenke. Nachzudenken bewirkt nur, dass die Bilder zurückkommen. Der dunkle Raum. Die Taschenlampe. Die Decke.

Daher habe ich mir für jeden Nachmittag einen Stundenplan angefertigt. Oberste Priorität hat die Schule. Die Abschlussprüfungen habe ich verpasst, aber ich darf die zweiten Termine wahrnehmen, die für kranke oder entführte Schüler vorgesehen sind. Dafür lerne ich mit Rosi, und, man höre und staune, zwei meiner Lehrer helfen mir dabei, den versäumten Stoff nachzuholen. Also habe ich eigentlich genug zu tun, doch manchmal hat mein Plan trotzdem Lücken, in die ich erst kurz vorher was reinschreibe. Zum Beispiel: Tine besuchen.

Ich besuche Tine immer, wenn ich zu aufgewühlt bin, um zu pauken, mit Rosi Spaß zu haben oder mich mit Sonja über Bücher und Filme zu unterhalten. Manchmal brauche ich jemanden, der gar nichts sagt. Tine singt nämlich ununterbrochen. Wir haben die Zeit, als ihr verrückter Freund uns eingesperrt hat, damit verbracht, uns die Seele aus dem Leib zu singen. Seitdem kann ich Musik kaum noch ertragen, doch bei Tine ist es genau umgekehrt: Sie ist quasi abhängig davon. Mittlerweile kann sie sämtliche ihrer Casting Crowns-, Kutless- und Jeremy Camp-CDs auswendig.

»Miriam!« Gerade als ich mich auf mein Rad schwinge, öffnet meine Mutter die Tür und ruft mir nach.

Sie sagt nur meinen Namen. Mehr braucht es gar nicht, und schon fährt mir die Angst bis in die Zehen – ihre Angst. Ich bin mit meinen Albträumen zurückgekehrt; meine Mutter hat ihre eigenen bösen Träume.

Seit meiner Rettung will sie immerzu wissen, wo ich bin. Selbst wenn ich zu Hause bin, schaut sie jede Viertelstunde ins Zimmer, um zu überprüfen, ob ich noch lebe.

Tatsache ist: Ich hab keine Lust, sie über jeden meiner Schritte zu informieren. Ich bin siebzehn Jahre alt, und wenn ich am helllichten Tag in der Stadt rumfahre, muss ich ihr nicht Bescheid sagen, finde ich.

»Miriam«, sagt sie noch einmal, diesmal etwas leiser, und wenn ich in ihr Gesicht blicken würde, könnte ich ihre Angst sehen, die sich dort eingenistet hat, während ich vermisst wurde.

Aber ich schaue weg. Ich will nicht, dass sie dieses neue Gesicht hat, ich will nicht immerzu gefragt werden, ich will nicht, dass sie mit ihrer Angst an mir klebt.

Ich will mein altes Leben zurück.

Können wir nicht wenigstens zu Hause so tun, als wäre nie etwas geschehen?

Also antworte ich ihr nicht, und daher kann sie mich nicht davon abhalten, in die abgewrackteste, schmutzigste und gefährlichste Ecke der Stadt zu fahren. Ich ignoriere die Jungs, die über den Bürgersteig schlendern und mir nachpfeifen. Ignoriere die räudige Katze, die mir um die Beine streicht. Schließe mein Rad ab und klingle unten an der Sprechanlage.

Es rauscht darin, bevor ich Tines Stimme höre: »Mama?«

»Nein, ich bin’s. Tante Messie.«

Wenn ich könnte, wäre ich ihre Mutter. Denn ich weiß, wie sehr sie sich wünscht, ihre Familie käme sie besuchen. Weil ich jedoch keine Wunder wirken kann, drücke ich die Tür auf, sobald der Summer ertönt, und renne die Stufen hinauf. Es sind vier Stockwerke, und ich poltere keuchend durch die offene Wohnungstür und falle Tine um den Hals.

»Da bist du ja.« Sie weint ein bisschen, wie immer, wenn sie mich sieht, weil ich sie an die dunkle Zeit erinnere. Vielleicht aber auch bloß, weil sie schwanger ist und ihre Hormone verrückt spielen. Vielleicht auch von beidem etwas.

»Messie.« Sie drückt mich so fest, dass mir fast die Luft wegbleibt.

»Wie geht’s?«, frage ich. »Euch beiden?«

Stolz tätschelt Tine ihren prallen Bauch. Es sieht so absurd aus, die hagere Tine mit diesem halben Volleyball von Babybauch. Er scheint einfach an ihrem Körper befestigt zu sein, wie eine Attrappe. Sie ist zwar erst im vierten oder fünften Monat, aber sie stöhnt beim Gehen, als wäre er groß wie ein Kürbis. Ich finde ja, dass sie ein wenig übertreibt, aber das würde ich ihr natürlich nie sagen.

»Alles bestens.« Sie ächzt, während sie in die Küche schlurft. »Setz dich. Du siehst aus, als brauchtest du was zu trinken.«

Draußen ist es schwül, aber hier in der Wohnung ist es sogar noch wärmer als draußen. Tine lüftet selten, weil sie so schnell friert. Auf dem Balkon sitzt Ronny, Bastians älterer Bruder, und raucht. Er winkt mir zu, kommt aber nicht rein. Tine erlaubt keinen Rauch in der Nähe ihrer empfindlichen Schwangerennase.

»Deine Eltern waren nicht da?« Ich bin immer so subtil.

»Nein«, seufzt sie.

»Ich werde meinen Vater bitten, noch mal mit ihnen zu reden. Das ist nicht in Ordnung.«

Tines Eltern sind bei uns in der Kirchengemeinde. Sie sind eifrige Gottesdienstbesucher und sehr streng, was ihre moralischen Vorstellungen betrifft. Natürlich haben sie gelitten, als Tine verschwunden war, aber ich glaube, sie waren nicht ganz zufrieden, als sie wieder aufgetaucht ist. Lebendig und schwanger. Vielleicht könnten sie besser damit umgehen, wenn ihre Tochter vergewaltigt worden wäre, denn dann könnten sie sie bedauern und zu trösten versuchen. Tine hat sich jedoch ganz freiwillig mit Finn eingelassen, der am Anfang so nett schien und sich am Ende als völlig abgedreht herausgestellt hat. Also ist sie – in den Augen mancher Leute – selbst schuld an allem.

Das haben ihre Eltern zwar nie direkt gesagt, aber es hat durchaus seine Gründe, warum Tine nicht nach Hause zurückgekehrt ist, sondern vom Krankenhaus hierher in diese Lottersiedlung, in der vor allem Ausländer wohnen und in der anständige Gottesdienstbesucher sich schlagartig unwohl fühlen.

Zum Glück haben sowohl Bastian als auch sein Bruder einen gewissen Ruf in der Gegend, und daher lassen die Gangs auch Bastis Freundin in Ruhe.

»Wenn die Kleine erst da ist«, Tine blinzelt eine Träne weg, »dann kommen sie bestimmt, um ihre Enkelin zu sehen.«

Ich nehme mir vor, nie im Leben schwanger zu werden, wenn man davon pausenlos heulen muss.

»Habt ihr euch denn jetzt auf einen Namen geeinigt?«, frage ich, um sie auf schöne Gedanken zu bringen. »Basti will sie nicht im Ernst Joy nennen, oder?«

Nur zur Erklärung: Basti ist nicht der Vater von Tines Kind. Er war bloß vorher schon, vor der Geschichte mit Finn, in sie verschossen. Basti gehörte zu Daniels Helfern und war dabei, als wir gerettet wurden. Ich vermute stark, er ist der Hauptgrund, warum ihre Eltern sich hier nicht blicken lassen.

»Was hast du gegen den Namen?« Schnaufend lässt Tine sich in einen Sessel fallen. Weil ich nicht sofort antworte, beginnt sie zu summen. Ob sie es selbst überhaupt merkt? Diesmal ist es eins der Lieder aus unserer Dunkelheit.

Ich wünschte, sie würde damit aufhören.

»Joy«, sage ich, um irgendetwas zu sagen, »das klingt nicht mal wie ein richtiger Name. Hör doch mal: Dschoi. Stell dir vor, man würde es Dscheu schreiben, mit eu. Dann würde garantiert niemand sein Kind so nennen.«

Tine lacht. Das ist gut, und ich bin unwillkürlich stolz darauf, sie zum Lachen gebracht zu haben.

»Sie bekommt viele Namen«, sagt sie. »Den meiner Mutter. Und den von Bastians Mutter. Und noch einen nur für sie allein.«

»Joy Ingrid Petra?«, rate ich.

Da lacht sie noch lauter. Ich habe keine Ahnung, wie der Name von Bastians Mutter lauten könnte, und obwohl ich eigentlich wissen sollte, wie Tines Mutter heißt, will es mir partout nicht einfallen.

»Joy Gerlinde Monika?«

»Lass dich überraschen.« Sie lächelt geheimnisvoll, und dann summt sie wieder.

Ich erinnere sie nicht daran, dass sie mir was zu trinken angeboten hat, sondern lehne mich einfach zurück und höre mir das Lied an. Falls ich gehofft habe, dass ich mich dadurch besser fühle, habe ich mich getäuscht.

»Was ist los, Miriam? Erzähl schon.«

Rosi war in der Umkleide dabei. Eine Freundin, die alles mit einem teilt, müsste doch reichen? Aber als ich es Tine erzähle, ist es noch ein Stück anders. Wir sind wie siamesische Zwillinge. Von ihr getrennt zu sein, fühlt sich an wie eine Amputation. Oder vielleicht ist der Schmerz, den ich fühle, auch die Trennung von Daniel. Ich weiß es nicht. Die Symptome sind alles, was ich habe, aber was mir fehlt, könnte ich nicht sagen. Unsere Matratze im Dunkeln und unsere Lieder und die Spiele und die Witze, mit deren Hilfe wir die Finsternis weggelacht haben.

Auf dem Balkon steht Ronny auf und lehnt sich über die Brüstung. Was er wohl darüber denkt, dass Bastian kurz entschlossen bei ihm eingezogen ist, dazu noch mit einer schwangeren und ziemlich pingeligen Freundin? Vorher waren die Kästen leer und Ronny hat sie als Aschenbecher benutzt. Jetzt wachsen dort Blumen. Ein kleines, rotes Plastikwindrad steckt zwischen rosa-weiß blühenden Geranien. Meistens, wenn ich hier bin, dreht es sich wie wild im Kreis. Heute nicht. Die Luft draußen steht.

Wie seltsam, dass alles zum Stillstand gekommen ist. Mein ganzes Leben. Als würden wir in einer Art Warteschleife festhängen. Ich muss die Dinge in Ordnung bringen, solange die Welt stillhält. In dieser Blase kann mir die Vergangenheit nichts anhaben und die Zukunft mich nicht schrecken. Bevor alles weitergeht, müssen drei Dinge stimmen: Erstens, ich muss Daniel wieder an meiner Seite haben. Zweitens, ich muss lernen zu schlafen. Drittens, meine Füße müssen den Boden berühren.

Das tun sie nämlich nicht, erstaunlicherweise. Ich schwebe. In der dickflüssigen Luft in meiner Sommerseifenblase gibt es keinen festen Grund.

Ich weiß, das hört sich verrückt an.

Tine ist die Einzige, die sich meine verrückten Gedanken nicht nur anhören, sondern sie sogar verstehen würde. Bei ihr muss ich gar nicht alles aussprechen, denn sie weiß, wie ich mich fühle. Wir haben dasselbe durchgemacht, das schmiedet zusammen. Trotzdem ist es seltsam, weil sie so ganz anders damit umgeht als ich. Ich kann nicht stillsitzen und renne pausenlos durch die Gegend, während ich das Gefühl habe, dass ich fliege und nicht anhalten kann und demnächst irgendwo dagegenknalle. Sie jedoch hockt hier in Ronnys und Bastians Wohnung und singt.

»Wenn er gehen will, musst du ihn gehen lassen«, sagt Tine streng.

»Du verstehst das nicht. Das ist nicht so einfach.«

»Doch«, sagt sie. »Denn das ist genau das, was ich mit Finn erlebt habe. Ich wollte weg, weil meine Gefühle sich geändert hatten, und er wollte mich nicht lassen. Du darfst dich nicht an ihm festklammern. Lass ihn los, Messie.«

»Aber Daniels Gefühle haben sich nicht geändert«, protestiere ich. »Das ist der Unterschied, verstehst du nicht? Er liebt mich. Er glaubt leider, dass ich in Tom verliebt bin, aber das bin ich gar nicht. Ich will Daniel und er will mich, wenn er es nur zugeben würde. Es ist nicht aus!«

»Genauso hat Finn auch immer gesprochen. Dass es nicht aus sein kann, weil wir füreinander bestimmt sind. Er und ich, bis in alle Ewigkeit. Wenn ich mir nicht sicher war, dann hat er für mich mit geglaubt, dass ich ihn liebe.«

»Ich bin nicht wie Finn!«

Vielleicht habe ich Joy Regine Anita erschreckt, denn Tine verzieht das Gesicht und tätschelt ihren Bauch.

»Dann muss ich jetzt los«, sage ich.

Sie nickt. Tine brauche ich nicht zu erklären, dass ich nicht stillhalten kann. Sie summt ihr Lied, und ich springe auf und renne aus der Wohnung, renne fast Basti über den Haufen, der gerade die Stufen hochsteigt.

»He, wohin so schnell?«, ruft er mir verdutzt nach.

»Bin spät dran. Bis zum nächsten Mal!«

Ich bin nicht wie Finn. Das ist absurd. Mit Daniel und mir, das ist etwas anderes. Er liebt mich. Er liebt mich immer noch. Ich kann es fühlen, tief in meinem Herzen.

Es wird wieder in Ordnung kommen, dafür sorge ich.

»Gute Nacht, Miriam«, sagt meine Mutter.

Jeden Abend sitzt sie an meiner Bettkante und betet mit mir, wie früher, als ich klein war.

Sie ist mitten im Satz, als Silas den Kopf zur Tür reinsteckt und ruft: »Schlaf gut!«

Dann kommt er auf bloßen Füßen, schon in seinem Spiderman-Schlafanzug, angewuselt und drückt mich, wobei ich ihn nicht küssen darf, wie ich sehr gut weiß. Silas ist zehn und achtet genau darauf, dass ihn ja niemand küsst.

»Träum was Schönes!«, wünscht er mir.

»Du auch«, sage ich und zause ihm einmal durchs Haar.

Zufrieden flitzt er wieder davon, und ich höre, wie er Tabitas Zimmertür aufreißt und schreit: »Schlaf gut! Träum was Schönes!«, und wie sie zurückschreit: »Kannst du nicht anklopfen, du Doofmann?!«

Meine Mutter wartet ein Weilchen, bis alles wieder ruhig ist, dann seufzt sie und sagt: »Jetzt habe ich den Faden verloren. Na, auch egal. Jedenfalls danke für alles, amen.«

Ich bete nicht, das überlasse ich ihr. Und wie immer kann ich nicht ertragen, dass sie Gott dankt.

Das ist auch verrückt, oder? Im Bunker habe ich gebetet und gesungen und Gottes Nähe gespürt. Dann hat er uns gerettet. Tine und ich sind nach Hause gekommen. Müsste ich jetzt nicht froh und dankbar sein und allen erzählen, wie gut Gott ist? Mein Vater erzählt so gerne Geschichten von Leuten, die Gott gerettet hat. Das sind seine Lieblingsgeschichten. Wie jemand in Lebensgefahr geraten ist und auf wundersame Weise alles zum Guten gewendet wurde. Christen, die in muslimischen oder atheistischen Ländern verfolgt werden, sich verstecken müssen und bewahrt werden. Unfälle, die beinahe passieren oder auch total übel verlaufen – und jemand überlebt ganz knapp. Oder Heilungen, über die die Ärzte nur verwirrt den Kopf schütteln können.

Also, wenn das, was Tine und mir passiert ist, kein Wunder ist, was dann? Meine Zweifel müssten wie weggeblasen sein. Warum springe ich nicht durch die Gegend und preise Gott?

Weil mein Glaube plötzlich wie tot ist. Komisch, nicht? Ich senke den Kopf, wenn meine Eltern beten. Oder wenn Leute aus der Gemeinde auf mich zustürzen und mir die Hand auf die Schulter legen und mit bewegter Stimme aufrufen: »Gott tut heute noch Wunder!«

Ich widerspreche nicht, aber ich selbst kann das nicht fühlen. In meiner Seifenblase gibt es keinen Gott. Stattdessen denke ich so ketzerische Gedanken wie: Wenn Gott so ein großes Wunder tun kann und dafür gesorgt hat, dass wir gerettet worden sind – warum hat er dann nicht gleich verhindert, dass das Ganze passiert ist? Finn ist doch überzeugter Christ. Konnte der Heilige Geist ihm nicht etwas deutlicher mitteilen, dass es eine ganz schlechte Idee ist, ein Mädchen zu entführen? Und einem zweiten brutal auf den Kopf zu hauen?

Dann wäre Michael nicht gestorben. Wie kann ich glücklich weiterleben, obwohl jemand für mein Wunder sterben musste?

»Miriam?«, fragt meine Mutter und streicht mir das Haar aus der Stirn.

Auf einmal wünsche ich mir schrecklich, ich könnte jemand anders sein. Nicht Miriam. Nicht Messie. Sondern eine Fremde, der das alles nicht passiert ist. Die nicht mit Tine in der Dunkelheit gefangen war. Ein fremdes Mädchen, das keine anderen Sorgen hat als die, ob ihr Lieblingsnagellack eingetrocknet ist. Ich sehne mich so sehr danach, diese Fremde zu sein, dass ich fast keine Luft mehr bekomme.

Diese Fremde wäre immer gut gelaunt und ihr Freund würde sie nie verlassen, weil es nie, nie eine andere für ihn gibt.

»Miriam«, sagt meine Mutter nochmal.

»Ja?«

Sie will mir etwas sagen und bringt es nicht über die Lippen, und da frage ich mich, ob vielleicht auch meine Mutter lieber jemand anders wäre. Eine Frau, deren Tochter nicht verschwunden war.

»Hab dich lieb«, flüstert sie endlich, gibt mir einen Kuss auf die Wange und geht zur Tür. »Soll ich das Licht ...?«

»Lass es brennen, bitte«, sage ich wie jeden Abend.

Eine Weile beobachte ich den gelblichen Kegel oben an der Decke. Die buntgemusterten Vorhänge und die Fotos an der Wand, meine Poster und den Ast, an dem meine Halsketten hängen. Alles ist, wie es sein sollte, so wie immer.

Der Wecker hakt eine Minute nach der anderen ab.

Ich kann nicht schlafen, weil ich die Augen nicht zumachen will. Wenn ich sie schließe, könnte das Zimmer verschwinden und sich in einen dunklen Bunkerraum verwandeln. Aus meinem Bett würde eine muffige Matratze, und neben mir liegt Tine und kuschelt sich an mich, während ich auf das leise Tropfen horche, das aus einer der Ecken kommt.

Ich kann nicht schlafen.

Wie jede Nacht seit meiner Rückkehr stehe ich schließlich auf und tappe rüber zu Tabitas Zimmer. Sie hat ihre Nachttischleuchte angelassen, damit ich den Weg finde, und sie beschwert sich nie, dass es ihr zu hell ist. Verschlafen murmelt sie etwas, als ich die Decke anhebe und zu ihr ins Bett krieche.

»Morgen besuche ich Daniel«, sage ich.

»Mmmh.«

»Ich hab seinen Hausschlüssel.«

»Ist gut«, grummelt sie.

Ihr Körper strahlt eine beruhigende Wärme aus. Wenn das Zimmer verschwindet und die kalten, feuchten Wände des Bunkers zurückkommen, bin ich nicht allein.

Manchmal denke ich über den Tod nach.

Seltsamerweise stelle ich mir nie vor, dass er dunkel ist. Dunkel ist es hier, dunkel sind die Nächte, und es ist auch dunkel in mir. Manchmal komme ich mir vor, als wäre ich blind, und alles um mich herum ist schwarz. Ich taste mich durch diese Schwärze. Jeder einzelne Tag kommt mir vor wie ein Hindernislauf. Überall sind Stolperfallen. Netze. Fallstricke. Abgründe. Ein falsches Wort, ein falscher Blick, und ich würde abstürzen.

Und dann denke ich: Angenommen, ich lasse es zu. Ich lasse mich fallen.

Würde es nicht hell sein?

Würde Gott nicht seine Arme ausbreiten und ich wäre da, bei ihm?

Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist da nichts auf der anderen Seite. Kein Licht. Aber auch kein Kummer, keine Tränen, keine Erinnerungen.

Es ist mir gleich.

Das überrascht mich am meisten: dass es mir egal ist.


3.

Am nächsten Tag ziehe ich mich an und schreibe meinen Stundenplan für den Tag.

Zuerst: zu Daniel fahren.

Danach: zur Schule.

Nachmittags: Hausaufgaben, schreibe ich. Vorbereitung für die Englisch-Prüfung. Gespräch mit Daniel?

In mir brodelt ein kleines, beinahe hoffnungsvolles Gefühl, als hätte ich sprudelnde Kohlensäure in den Adern.

Ich bin so kribbelig, dass ich keinen Hunger habe.

»Du musst mehr essen«, sagt meine Mutter. Ich spüre ihren besorgten Blick und bedecke den verräterischen Plan mit der Handfläche.

Es stimmt, ich bin ganz schön dünn geworden. Was kann ich dafür, dass ich keinen Appetit habe? Außerdem brauche ich nicht mehr. In mir ist so eine Unruhe, eine rastlose Energie. Am liebsten würde ich ihr sagen, dass sie damit aufhören soll, sich Sorgen zu machen. Ich bin nicht magersüchtig. Ich brauche halt nicht mehr so viele Kalorien.

»Bis nachher«, sage ich und dulde, dass sie mir einen Kuss auf die Wange gibt.

Als ich losfahre, kann ich spüren, wie sie mir nachsieht. Und wie gerne sie mitkommen möchte, um mich zu beschützen, wenn sie mich schon nicht zu Hause festbinden kann.

Damit die anderen Schüler, die um diese Zeit unterwegs sind, keinen Verdacht schöpfen, reihe ich mich in den Strom ein, der in Richtung Schulzentrum fährt. Busse dröhnen an mir vorbei. Autos mit den Glücklichen, die von ihren Eltern gebracht werden. Andere Radfahrer, die durcheinanderrufen. Manche halten auch den Kopf gesenkt und strampeln verbissen vor sich hin. Ich tue es ihnen gleich. Wenn einem nichts aufzufallen scheint, wirkt man am unauffälligsten. Nur nicht jemanden anschauen, der einem zuwinken könnte.

Vor der Schule wird es noch voller. Busse und Autos drängen sich in die Haltebuchten, parken in zweiter Reihe. Dazwischen schlängeln sich in selbstmörderischer Absicht die Radfahrer hindurch.

Ich bleibe unter einer Eiche stehen, einem der letzten großen Bäume, die sich auf dem Schulhof halten konnten. Die anderen haben sie alle gefällt, weil sie zu viel Dreck machen. Schüler gedeihen wohl, der Ansicht der Stadtverwaltung nach oder wer auch immer darüber bestimmt, am besten zwischen Beton und Pflastersteinen.

Ich warte, bis die Schulklingel die letzten Nachzügler durch die großen Flügeltüren saugt.

Und bin allein.

Jetzt erst steuere ich mein richtiges Ziel an. Eigentlich kann ich es mir nicht leisten, zu schwänzen und noch mehr Stoff zu verpassen. Es ist ja schon zweifelhaft, ob ich die Prüfungen schaffe, weil ich mich so schlecht konzentrieren kann. Die Direktorin war sogar der Meinung, ich solle für den Rest des Schuljahrs zu Hause bleiben und mich erholen, aber dann würde ich erst recht durchdrehen. Ich will wenigstens versuchen, mit den anderen mitzuhalten. Die Lehrer irritiert meine Anwesenheit trotzdem; sie sind unsicher, wie sie mit mir umgehen sollen. Wenn ich fehle, tue ich ihnen daher sogar einen Gefallen.

Der Weg zum Haus der Hartmanns führt mich durch die halbe Stadt. Der schlimmste Verkehr ist vorbei. Mir wird bewusst, dass Sommer ist, während sich die Sonne aus dem rotgefärbten Dunst freikämpft und auf Strahlendgelb umschaltet. Die Amseln halten erschöpft inne – sie haben ihr Morgenrepertoire bereits verbraucht.

Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht. Wann habe ich angefangen, so viel Kaffee zu trinken? Vielleicht, als ich aufgehört habe, zu essen.

Um nicht noch mal bei uns an der Kirche vorbeizufahren, was die schnellste Strecke wäre, mache ich einen Umweg. Ich fahre langsam, lasse mir Zeit. Flüchtig sehne ich mich nach meinen Ohrstöpseln, nach meiner Musik, aber dann lasse ich es doch. In meinen Ohren höre ich Tine leise summen.

Da, das nette kleine Haus der Hartmanns mit dem üppigen Vorgarten. Ich lasse den Blick über die Rosensträucher schweifen. Es ist so lange her, dass Daniel mir Rosen geschenkt hat, mehr als ein ganzes Leben.

Kein Auto auf der Auffahrt. Ich bin mir nicht sicher, ob seine beiden Eltern bei der Arbeit sind. Seine Mutter ist Grundschullehrerin, die müsste auf jeden Fall weg sein, aber sein Vater hat, wenn ich mich recht erinnere, Gleitzeit und kann später anfangen. Vielleicht sitzt er noch in der Küche und liest Zeitung.

Eine gefühlte halbe Stunde fahre ich die Straße auf und ab, dann lehne ich mein Rad gegen den Zaun und marschiere den Weg hoch zum Haus, als hätte ich jedes Recht der Welt, hier zu sein.

Der Beweis: Ich hab sogar einen Schlüssel. Dass ich ihn gestern aus Daniels Sporttasche gefischt habe, können die Nachbarn natürlich nicht ahnen. Wann lernt dieser herzensgute Junge endlich, seine Wertsachen nicht unbeaufsichtigt zu lassen? Man muss vorsichtig sein mit dem, was man besitzt. Die Welt ist voller schlechter Menschen, das habe ich inzwischen mitgekriegt.

Meine Hände zittern, als ich aufschließe. Ich muss den Schlüssel mehrmals herumdrehen, dann ein bisschen ziehen und sie sofort aufstoßen. Knifflig. Aber Daniel hat mir erklärt, wie es geht, damals, als wir noch zusammen waren.

Mit einem sanften Schnappen fällt die Tür hinter mir wieder zu.

»Hallo?« Es ist seltsam still. Dennoch beunruhigt mich die Vorstellung, dass doch jemand hier sein könnte ... eine Putzfrau zum Beispiel. Die Hartmanns haben keine Putzfrau, oder? Dafür könnte jemand von ihnen krank im Bett liegen, die Sommergrippe geht zurzeit um.

»Hallo? Jemand zu Hause?«, frage ich laut und bemüht fröhlich.

Das Haus ist still. Aus der Küche höre ich das Ticken der Uhr.

Vorsichtig spähe ich ins Wohnzimmer, dann schleiche ich die steile Treppe hoch. Etwas fasst mir ans Bein. Entsetzt schreie ich auf, verliere den Halt, falle, greife gerade noch nach dem Geländer.

Vor mir sitzt die graugetigerte Katze und faucht mich wütend an. Vor Erleichterung lache ich laut los. Dann erst bemerke ich, dass ich mir einen Nagel eingerissen habe, und irgendwie ist es mir gelungen, das Knie gegen eine Kante zu schlagen. Es blutet nicht, aber der große blaue Fleck sieht schmerzhaft aus. Im Moment spüre ich nichts, das kommt garantiert noch nach.

Diesmal steige ich äußerst vorsichtig über die Katze und stehe gleich darauf vor Daniels Zimmertür.

Chaos erwartet mich, was ich seltsam finde, denn früher war es bei ihm immer viel aufgeräumter als bei mir. Mittlerweile räume ich pausenlos hin und her, und dafür stapeln sich nun bei ihm die Bücher und CDs, auf dem Bett und dem Boden liegen Klamotten verstreut, und sein Papierkorb quillt über. Ich tänzele auf Zehenspitzen wie eine Ballerina durch den Raum, um nicht zufällig auf seine Gitarre zu treten. Die kann ich nämlich nirgends entdecken.

Ein Rascheln lässt mich herumfahren, aber es ist nur der Gecko im Terrarium. Oh, es sind zwei gläserne Kästen, wie ich entdecke. Er hält das Gecko-Pärchen getrennt, wie ich feststelle. Na, wenn das nicht aussagekräftig ist! Welcher ist Churchill? Ich kann die Viecher nicht unterscheiden, an den Namen des Weibchens kann ich mich nicht mal mehr erinnern. Aber daran, dass er die Futtergrillen in seiner Schreibtischschublade aufbewahrt, schon. Ein Grund mehr, sie nicht wahllos aufzuziehen.

Wo soll ich mit der Suche beginnen? Und was könnte ich finden?

Gedichte, für mich?

Lovesongs?

Briefe?

In Fetzen gerissene Fotos?

Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mir wird beinahe schwindlig, so sehr fürchte ich mich plötzlich. Ich muss machen, dass ich hier rauskomme. Dass ich mich bewege, solange ich noch kann.

Aber wenn ich schon hier bin ... es wird doch irgendwas geben, das mir Hoffnung geben kann. Irgendetwas.

Stumm bete ich zu dem Gott, an den ich nicht glauben kann.

Dann fange ich an, die Sachen zur Seite zu räumen, die Zettel durchzublättern, in Stapel zu ordnen. Hausaufgaben, ein Referat in Bio, Notenblätter und Fragmente englischer Textstücke, vielleicht für einen Song, an dem er tüftelt. Eine solche Zärtlichkeit durchfährt mich, dass ich am liebsten jedes Blatt küssen würde. Da ist ja auch die wertvolle Gitarre, lieblos hinter seinem alten Sofa verstaut.

Der Papierkorb erweist sich als Friedhof missratener Songtexte. Um Liebe scheint es darin nicht zu gehen, und weit ist er damit nicht gekommen. Daniel hat alles durchgestrichen und den Zettel wütend zusammengeknüllt. Ich kann ihn vor mir sehen, wie er frustriert die Papierbälle durchs Zimmer schleudert, danebentrifft und sich nicht die Mühe macht, aufzustehen und den wachsenden Berg aus Papierschneebällen aufzuheben und zu entsorgen.

Ja, ich sehe ihn vor mir, sein schönes Gesicht, wie er ungeduldig die Zähne zusammenbeißt, wie er seufzt, wie er seine Gitarre malträtiert, wenn ihm die Melodie entgleitet.

Als es im Zimmer halbwegs ordentlich aussieht, hieve ich das Instrument auf meinen Schoß und streiche behutsam über den gewölbten Leib.

Was hat Daniel gesungen? Wovon hat er geträumt? Ob er an mich gedacht hat?

Ich versuche ein paar Griffe, an die ich mich erinnere. G-Dur, e-moll, A-Dur. Wenn man sie aneinanderreiht, klingt es fast wie ein Lied. Ich höre Tine summen. Die Dunkelheit kommt näher.

Ich ducke mich, krümme mich zusammen, um sie auszuschließen, das Tropfen des Wassers an den Wänden, das Wispern der Stille. Irgendwann wird mir bewusst, dass es nur die Uhr ist, die in das Schweigen tropft.

Die getigerte Katze kommt herein, betrachtet mich eine Weile verwundert mit ihren runden Augen und fasst dann einen Entschluss. Versessen auf Zärtlichkeit und Wärme, springt sie auf meinen Schoß, wo sie sich sofort gemütlich verknotet. Weil ich auch noch die Gitarre halte, müsste es nicht allzu bequem sein, aber das scheint ihr nichts auszumachen.

Schließlich ergebe ich mich, lege das Instrument zur Seite und lehne mich zurück. Die Katze schnurrt. Diese Art Geräusch gab es im Bunker nicht, es ist ein Laut, der jener Welt fremd ist, der mich im Diesseits hält. Ich halte mich an ihrem Schnurren fest, an ihrem weichen Fell, und obwohl ich ihre Krallen durch den dünnen Baumwollstoff meiner Hose hindurch spüre, macht mir das nichts aus.

Die Zeit versickert in den Wänden. Ich bin es gewöhnt, dazusitzen und zu warten, dass etwas geschieht. Wenn ich nicht vorschlage, dass wir ein Lied singen oder ein Spiel spielen, wird nichts geschehen. Tine liegt zusammengerollt da und horcht in die Dunkelheit, und ich bin diejenige, die etwas tun muss, die verhindern muss, dass die Gegenwart um uns herum zerbröckelt.

Aber ich bin so müde. Viel zu müde dafür. Warum muss ich immer stark sein, warum nicht auch einmal sie?

Dann plötzlich graben sich die Krallen noch tiefer in meinen Oberschenkel. Die Katze zuckt zusammen und springt wenig elegant auf den Boden.

Im Türrahmen steht ein Mann. Einen Moment denke ich, dass Finn uns wieder zu essen bringt, dann erkenne ich verwundert Daniel.

Wie kommt Daniel denn hierher, abgesehen davon, dass wir uns zufällig in seinem Zimmer befinden? Ich habe mich doch fest darauf verlassen, dass er in der Schule ist!

»Miriam?«, fragt er entgeistert.

Ich muss eingeschlafen sein. Die Uhr, die mich in den Schlaf getickt hat, kann ich vom Sofa aus nicht sehen, aber dem Licht draußen nach zu urteilen, ist es bereits Nachmittag.

Ich hab den ganzen Schultag verschlafen, was im Grunde kein Wunder ist, wenn man bedenkt, wie lange ich jede Nacht wachliege.

»Miriam?«, fragt Daniel nochmal. »Wie kommst du hier rein? Ich hab dein Fahrrad unten am Zaun gesehen, aber das hier übertrifft nun wirklich alles.«

»Ich ...«, sage ich wenig hilfreich. »Äh.«

Er schaut sich im Zimmer um. Sein Gesicht verdüstert sich. Aus irgendeinem Grund klingt er nicht dankbar, sondern wütend. »Du hast aufgeräumt? Du bist hier einfach reingekommen, ohne mich zu fragen, und räumst meine Sachen auf? Wer hat dich reingelassen, meine Mutter?«

»Was? Nein.« Immer noch hält der Schlaf mich fest, aber ich schaffe es, die Hand in die Hosentasche zu stecken und den Schlüssel herauszuholen. Der Anhänger besteht aus einem kleinen dunkelbraunen Ball und einer winzigen Gitarre.

₺335,62
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
286 s. 28 illüstrasyon
ISBN:
9783862567430
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre