Kitabı oku: «Internationales Strafrecht», sayfa 15
c) Gemeinsame Entscheidung über Zulässigkeit und Begründetheit
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Eine separate, kurz begründete Entscheidung (decision) der Kammer über die Zulässigkeit der Beschwerde erging schon vor der Neuregelung, die eine gemeinsame Entscheidung über die Zulässigkeit und Begründetheit zum Regelfall macht (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 EMRK) – abweichend von der früheren gesetzlichen Regel (Art. 29 Abs. 3 EMRK a.F.) – nur noch selten. Sie bot sich vor allem an, um den Parteien vor der abschließenden Entscheidung in der Sache die Aufnahme von Vergleichsverhandlungen zu ermöglichen (Art. 38 Abs. 1 lit. b EMRK a.F.; Rn. 365).[32] Die Zulässigkeitsentscheidung markierte den Beschwerdegegenstand, über den die Kammer anschließend in der Sache befand.[33] Dieser Verfahrensschritt war jedoch mitunter sehr zeitaufwendig, insbesondere da der Zulässigkeitsentscheid separat begründet werden muss (Art. 45 Abs. 1 EMRK), so dass man sich entschloss, die ohnehin aufgrund der Arbeitslast bereits durchgeführte Praxis der gemeinsamen Entscheidung auch zum gesetzlichen Regelfall (auch für den Ausschuss) zu machen.
d) Veröffentlichung der Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde
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Die in englischer oder französischer Sprache ergehende Entscheidung (Rule 57 Abs. 1) über die Zulässigkeit der Beschwerde ist der Öffentlichkeit prinzipiell zugänglich. Sie wird aber – im Gegensatz zu den endgültigen Urteilen (Art. 44 Abs. 3 EMRK) – nicht immer förmlich veröffentlicht. In die vom Kanzler des Gerichtshofs herausgegebene amtliche Sammlung (bis 1996: Series A/bis 1999: Reports/seit 1999: ECHR) werden nur solche Zulässigkeitsentscheidungen aufgenommen, die der Präsident des Gerichtshofs für bedeutsam hält. Diese Art der Veröffentlichung erfolgt in beiden Amtssprachen (Rules 57 Abs. 2; 78 Satz 2).
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Meist beschließen die Kammern, über die Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde in einer Entscheidung zu befinden (Art. 29 Abs. 1 Satz 2 EMRK/Rule 54A). Dies teilt die Kammer nicht nur dem Vertragsstaat bei der Übermittlung der Beschwerde (Rule 54 Abs. 2 lit. b) sondern auch dem Bf. mit; regelmäßig werden beide Parteien aufgefordert (Rule 54A Abs. 1 Satz 2, Abs. 2), bereits in diesem Stadium Erklärungen zur Zulässigkeit und Begründetheit der Beschwerde abzugeben, einschließlich einer Stellungnahme zur Festsetzung einer angemessenen Entschädigung durch den Gerichtshof im Falle eines festgestellten Konventionsverstoßes (Art. 41 EMRK) und den Möglichkeiten einer gütlichen Einigung (friendly settlement; Art. 39 EMRK).
4. Abgabe der Rechtssache an die Große Kammer
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Ist die Kammer der Ansicht, dass die Beschwerde eine schwerwiegende Auslegungsfrage der Konvention aufwirft[34] oder dass die von ihr zu treffende Entscheidung möglicherweise zu einer Abweichung von einem früheren Urteil des Gerichtshofs führt, so kann sie die Beschwerde an die aus 17 Richtern bestehende Große Kammer (Grand Chamber – GK) abgeben (Art. 30 EMRK).[35]
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Die Abgabe steht grundsätzlich im Ermessen der Kammer. Weil den Parteien auf diesem Wege aber die Möglichkeit einer Überprüfung der Kammerentscheidung durch die GK – und damit praktisch eine „Instanz“ – genommen wird (Art. 43 EMRK; siehe sogleich Rn. 335), ist Voraussetzung für die Abgabe der Rechtssache, dass keine der Parteien diesem Vorgehen widerspricht (Art. 30 EMRK aE; Rule 72 Abs. 1). Der Kanzler teilt den Parteien die entsprechende Absicht der Kammer mit. Die Parteien haben danach einen Monat Zeit, um bei der Kanzlei Widerspruch gegen diese Abgabe einzulegen.[36] Ein solcher Einspruch muss schriftlich erfolgen und ausreichend begründet sein (duly reasoned); ansonsten wird er als unwirksam behandelt (Rule 72 Abs. 2). Mit Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK (CETS 213) wird die Möglichkeit eines Widerspruchs gegen die Abgabe an die GK gestrichen; eine Abgabe nach Art. 30 EMRK wird damit künftig auch gegen den Willen der Parteien möglich sein.
5. Überprüfung des Kammerurteils durch die Große Kammer
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Neben ihrer erstinstanzlichen Zuständigkeit fungiert die GK als eine Überprüfungs- und Kontrollinstanz. Nachdem eine Kammer ihr Urteil gefällt hat, kann jede Partei in Ausnahmefällen (exceptionally) die Verweisung der Rechtssache an die GK beantragen (Art. 43 EMRK; Rule 73 Abs. 1). Dabei handelt es sich nicht um ein Rechtsmittel im klassischen Sinne; der Antrag bzw. die spätere Verweisung der Sache hat keine Art aufschiebende Wirkung zugunsten des Bf.[37] Hinzu kommt, dass sowohl der Präsident der Kammer, die das Urteil erlassen hat, als auch der vom verurteilten Vertragsstaat benannte Richter Mitglied der GK sind (Art. 27 Abs. 3 Satz 1 EMRK; Rule 24 Abs. 2 lit. b, d).[38]
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Eine solche Verweisung an die GK wird nur angenommen (Art. 43 Abs. 1, 2 EMRK; Rule 73 Abs. 1 Satz 2)
• | bezüglich Urteilen – nicht Entscheidungen (decisions) – einer Kammer, |
• | wenn die Rechtssache eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung der EMRK nebst ihrer Zusatzprotokolle betrifft (z.B. künftige, gleichgelagerte Fälle) oder |
• | eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft (z.B. hinsichtlich der Umsetzung eines Urteils auf nationaler Ebene). |
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Eine Beschwerde kann schwerwiegende Fragen der Auslegung etwa dann aufwerfen, wenn eine Auslegungsfrage vom Gerichtshof noch nicht entschieden wurde, die Entscheidung für die Fortentwicklung der Rechtsprechung von Bedeutung ist oder das Urteil von einem früheren abweicht. Eine schwerwiegende Frage der Anwendung von Konventionsrecht kann vorliegen, wenn ein Urteil einen erheblichen Eingriff in innerstaatliche Rechtsvorschriften oder die Verwaltungspraxis zur Folge hätte. Dagegen kann eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung bei politischen Problemstellungen angenommen werden.[39]
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Der erforderliche Antrag auf Verweisung muss innerhalb von drei Monaten nach dem Erlass des Kammerurteils schriftlich bei der Kanzlei gestellt werden (Rule 73 Abs. 1 Satz 1). Maßgeblich für den Fristbeginn ist das Datum des angefochtenen Urteils (Art. 43 Abs. 1 EMRK), nicht das Zustelldatum. Die den Antrag stellende Partei[40] muss die Gründe darlegen, die ihrer Meinung nach eine Prüfung durch die GK rechtfertigen (Rule 73 Abs. 1 Satz 2).
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Über die Annahme der Verweisung entscheidet ein aus fünf Richtern bestehender Ausschuss (panel of five judges; Art. 43 Abs. 2 EMRK; siehe auch Rule 24 Abs. 5); er nimmt die Verweisung an, wenn die oben genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Rule 73 Abs. 2).
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Diesem Ausschuss gehören an (Rule 24 Abs. 5 lit. a): der Präsident des Gerichtshofs – im Falle seiner Verhinderung der Vizepräsident; zwei Sektionspräsidenten, die im Rotationsverfahren bestimmt werden – im Falle ihrer Verhinderung die Vizepräsidenten dieser Sektionen; zwei Richter, die im Rotationsverfahren aus dem Kreis der Richter der übrigen Sektionen, die vorab für eine 6-monatige Tätigkeit in diesem Ausschuss gewählt wurden, bestimmt werden; zwei Ergänzungsrichter (substitute judges).
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Bei der Entscheidung über die Annahme einer Verweisung an die GK darf dem Ausschuss kein Richter angehören, der bereits an den Beratungen über die Zulässigkeit oder Begründetheit der Beschwerde mitgewirkt hat (Rule 24 Abs. 5 lit. b). Ein Richter, der für die betroffene Vertragspartei gewählt wurde oder ihre Staatsangehörigkeit besitzt, kann ebenfalls nicht Mitglied des Ausschusses sein (Rule 24 Abs. 5 lit. c).[41]
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Der Ausschuss prüft den Antrag auf Verweisung ausschließlich auf der Grundlage der Akten (Rule 73 Abs. 1 Satz 1). Die Ablehnung des Antrags muss nicht begründet werden (Rule 73 Abs. 2 Satz 3). Sie ist auch nicht überprüfbar.
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Nimmt der Ausschuss den Antrag an, so verweist er die Rechtssache an die GK, die – nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung oder eines schriftlichen Verfahrens – durch Urteil entscheidet (Art. 43 Abs. 3 EMRK; Rule 73 Abs. 3).
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Inhalt und Umfang der an die GK verwiesenen „Rechtssache“ werden allein von der Entscheidung der Kammer über die Zulässigkeit der Beschwerde beschränkt.[42] Ausgeschlossen ist damit nicht nur eine Überprüfung von Beschwerdepunkten, die zuvor für unzulässig erklärt wurden, sondern auch solcher Beschwerden, die nicht explizit für zulässig erklärt wurden, etwa weil der Bf. sich nicht auf die Verletzung eines bestimmten Rechts berufen hat.[43] Dabei scheint die GK davon auszugehen, dass sich der Bf. auch auf einen bestimmten Artikel beruft. Die Rüge der Sache nach genügt demgegenüber wohl nicht (mehr).[44]
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Die GK kann die Sache in diesem durch die Zulässigkeitsentscheidung vorgegebenen Rahmen vollumfänglich prüfen, also auch die zugrunde liegenden Fakten,[45] sowie alle rechtlichen Feststellungen, auch die Zulässigkeitsentscheidung neu bewerten – letzteres nur dahingehend, eine von der Kammer als zulässig erklärte Beschwerde als unzulässig abzuweisen; dies ergibt sich nicht zuletzt auch aus Art. 35 Abs. 4 EMRK).[46] Die GK ist in keiner Weise an eine Feststellung der Kammer gebunden.
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Ein Verbot der reformatio in peius gibt es im Verfahren vor der GK nicht. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob die Verweisung vom Vertragsstaat oder von dem Bf. beantragt wird. Auch eine Beschränkung der Verweisung ist nicht möglich. Eine Verweisung zu beantragen, kann also auch dazu führen, dass ein bereits erzielter Erfolg wieder zunichte gemacht wird.
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Entscheidet die GK über die Erstattung von Kosten, so betrifft diese Entscheidung das gesamte Verfahren vor dem Gerichtshof, einschließlich der Abschnitte vor ihrer Anrufung.[47]
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Dieses Urteil ist endgültig (Art. 44 Abs. 1 EMRK). Auf das Verfahren sind die für die Kammern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden (Rule 71 Abs. 1). Auch die GK kann eine Beschwerde, die sie für unzulässig hält, zurückweisen (Art. 35 Abs. 4 EMRK).
6. Streichung der Beschwerde im Register
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Der Gerichtshof kann eine Beschwerde jederzeit in seinem Register streichen,
• | wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Bf. seine Beschwerde nicht weiterzuverfolgen beabsichtigt (Art. 37 Abs. 1 lit. a EMRK)[48], |
• | die Streitigkeit einer Lösung zugeführt worden ist (Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK)[49] bzw. die Beschwer weggefallen ist[50] oder |
• | eine weitere Prüfung der Beschwerde aus anderen vom Gerichtshof festgestellten Gründen nicht gerechtfertigt ist (Art. 37 Abs. 1 lit. c EMRK)[51], z.B. wenn der Bf. gestorben ist und das Verfahren von seinen Erben oder Angehörigen nicht fortgeführt wird. |
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Ein fehlendes Interesse an der Weiterverfolgung der Beschwerde hat der Gerichtshof in Fällen angenommen, in denen von Seiten des Bf. längere Zeit keine Reaktion auf Schreiben der Kanzlei erfolgt war. Üblicherweise erhält der Bf. vor der Entscheidung über die Streichung der Beschwerde einen entsprechenden schriftlichen Hinweis, sollte sich darauf aber nicht verlassen. Für einen nicht mehr tolerablen Zeitraum mangelnder Aktivität gibt es keine eindeutigen Grenzen, auch nicht in § 17 PD-I, der die Streichung bei Untätigkeit androht.
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Umgekehrt kann der Gerichtshof trotz einer vom Bf. (ausdrücklich) erklärten Absicht, die Beschwerde nicht weiter verfolgen zu wollen, deren Prüfung fortsetzen, wenn die Achtung der in der Konvention anerkannten Menschenrechte dies erfordert (Art. 37 Abs. 1 Satz 2 EMRK).[52]
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Die Entscheidung, eine für zulässig erklärte Beschwerde im Register zu streichen, ergeht durch Urteil (Rule 43 Abs. 3 Satz 3), das dem Ministerkomitee des Europarates übermittelt wird, sobald es endgültig ist (Art. 44 Abs. 2 EMRK), damit dieser die Erfüllung der Verpflichtungen überwachen kann (Art. 46 Abs. 2 EMRK), die der beklagte Vertragsstaat als Bedingung für die Nichtweiterverfolgung der Beschwerde, die gütliche Einigung oder die Beilegung der Streitigkeit eingegangen ist (Rule 43 Abs. 3 Satz 4).
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Gegen die Entscheidung, eine Beschwerde aus dem Register zu streichen, kann der Bf. binnen drei Monaten deren Verweisung an die GK beantragen, sofern sie als Urteil ergeht (Art. 43 Abs. 1 EMRK). Der Gerichtshof selbst kann jederzeit – d.h. auch nach Ablauf dieser 3-Monats-Frist – die Wiedereintragung der Beschwerde in das Register beschließen (restoration to the list), wenn er dies wegen außergewöhnlicher Umstände für gerechtfertigt hält (Art. 37 Abs. 2 EMRK; Rule 43 Abs. 5).
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Hinweis
Einen – allerdings weder in der EMRK noch in den Rules of Court vorgesehenen – Antrag auf Wiedereintragung der Beschwerde (restoration to the list) sollte der Bf. unmittelbar bei der mit der Sache zuletzt befassten Kammer stellen und dabei darlegen, dass ihm kein Verstoß gegen die bei der Weiterverfolgung der erhobenen Beschwerde gebotene Sorgfalt (diligence expected) anzulasten ist.
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Aus dem vorher Gesagten lässt sich entnehmen, dass nicht vorab für zulässig erklärte Beschwerden durch eine Entscheidung aus dem Register gestrichen werden. Damit ist eine Überwachung durch das Ministerkomitee ausgeschlossen, was in der Regel auch überflüssig erscheint. Nicht überflüssig ist die Überwachung allerdings in der Konstellation der „unilateral declarations“, also solchen einseitigen Erklärungen und Zugeständnissen des beklagten Vertragsstaats im Rahmen der Vergleichsverhandlungen (Rn. 376), die der Gerichtshof als ausreichende Anerkennung und Ausgleich des Konventionsverstoßes erachtet. Auch im Falle eines solchen gescheiterten Vergleichs streicht der Gerichtshof die Beschwerde aus dem Register. Wenn eine Zulässigkeitsentscheidung zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt ist, müsste dies in Form einer Entscheidung erfolgen. Da aber eine Sonderregel wie Art. 39 Abs. 4 EMRK fehlt, wonach das Ministerkomitee ausnahmsweise auch dazu berufen ist, die Einhaltung einer Entscheidung zu überwachen, mit der eine Beschwerde aufgrund einer solchen einseitigen Erklärung aus dem Register gestrichen wird, kann die Erfüllung des Angebots, auf dessen Grundlage die Beschwerde von der Liste gestrichen wurde, nicht überwacht werden (siehe auch noch Rn. 378). Dem Bf. bleibt dann nur, die Wiederaufnahme ins Register zu beantragen.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › C. Behandlung der Beschwerde durch den EGMR › III. Das Verfahren im Einzelnen
III. Das Verfahren im Einzelnen
1. Anordnung vorläufiger Maßnahmen
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Die beim EGMR eingelegte Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung hinsichtlich nationaler Vollzugsakte. Um zu verhindern, dass es bis zur Entscheidung des Gerichtshofs zu einem nicht wiedergutzumachenden Rechtsverlust des Bf. kommt (z.B. durch die Vollstreckung einer Sanktion, Auslieferung, Abschiebung, Beweisverlust)[53], kann die für die Verhandlung der Beschwerde zuständige Kammer – in besonderen Eilfällen auch ihr Präsident – auf Antrag einer Partei oder anderen betroffenen Person sowie von Amts wegen den Parteien empfehlen (indicate), vorläufige Maßnahmen (interim measures) im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs zu ergreifen oder zu unterlassen (Rule 39).[54]
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Der Antrag auf Anordnung einer vorläufigen Maßnahme sollte möglichst schnell, nachdem die endgültige Entscheidung auf nationaler Ebene ergangen ist, gestellt werden, um dem Gerichtshof ausreichend Zeit zur Prüfung der Angelegenheit zu geben. Droht ein unmittelbarer oder gar sofortiger Vollzug der nationalen Entscheidung, wie z.B. im Falle der Ausweisung (Abschiebung) oder Auslieferung (Überstellung), so sollten der Antrag und die ihn stützenden Dokumente schon vor dem Ergehen der nationalen Entscheidung beim EGMR in Straßburg vorliegen, da der Gerichtshof keinen Bereitschaftsdienst hat und auch nicht alle Regierungen 24 Stunden am Tag zu erreichen sind, so dass die Bearbeitung des Antrags auch einen ganzen Tag in Anspruch nehmen kann. Für die Antragstellung hat der Gerichtshof eine Practice Direction (PD-IM)[55] erlassen.
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Nach einer ersten Kontaktaufnahme mit der Kanzlei des Gerichtshofs sollte der Antrag auf Erlass einer vorläufigen Anordnung (Request for an interim measure) den Gerichtshof wegen der Dringlichkeit nicht auf dem normalen Postweg, sondern per Fax[56], oder persönlich bzw. durch einen Boten während der Bürozeiten (Montag bis Freitag, 8 bis 16.00 Uhr – Ortszeit) erreichen[57] und vorzugsweise in einer Arbeitssprache des Gerichtshofs (Englisch, Französisch) abgefasst sein.[58] Umfasst der Antrag mehr als zehn Seiten, sollte das Fax in mehreren Teilen gesendet werden, um den Empfang und die Bearbeitung zu erleichtern.[59] Eine Anfrage per E-Mail akzeptiert der Gerichtshof nicht mehr (vgl. PD-IM, Nr. II „Requests to be made by facsimile or letter“). Aus der schreib- bzw. drucktechnisch hervorgehobenen Überschrift des Antrags muss das Vorliegen eines Eilfalles – vorzugsweise durch den Zusatz Rule 39 – Urgent – hervorgehen.
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„Rule 39 – Urgent
Person to contact (name and contact details): […]
[ In deportation or extradition cases ]
Date and time of removal and destination: […]“
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Erfolgt vom Gerichtshof binnen kurzer Frist keine Reaktion auf den Antrag, ist eine telefonische Nachfrage bei der Kanzlei während der Bürozeiten ratsam.
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Dem Antrag müssen sämtliche Dokumente beigefügt werden, die den vom Antragsteller behaupteten Konventionsverstoß belegen und den Erlass der begehrten vorläufigen Anordnung als notwendig erscheinen lassen, insbesondere die Entscheidungen der staatlichen Stellen und Gerichte. Ist die Individualbeschwerde bereits beim Gerichtshof eingelegt, sollte der Antrag einen Hinweis auf die Registriernummer (Aktenzeichen) enthalten, unter der das Verfahren geführt wird.
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Insbesondere in Auslieferungs- und Ausweisungsverfahren sollten dem Gerichtshof Datum und Uhrzeit der drohenden staatlichen Vollzugshandlung (Überstellung/Abschiebung), der Aufenthaltsort des Antragstellers, ggf. der Ort seiner Inhaftierung sowie das Aktenzeichen, unter dem das nationale Verfahren geführt wird, schon im Antrag mitgeteilt werden.
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Eine Schwäche dieses vorläufigen Rechtsschutzes ist, dass für die empfohlenen vorläufigen Maßnahmen – ebenso wie für die Urteile im Hauptverfahren – kein Vollstreckungsverfahren vorgesehen ist. Rule 39 Abs. 3 bestimmt lediglich, dass die Kammer von den Parteien – also auch vom Bf. – Informationen zur Durchführung der angeordneten vorläufigen Maßnahmen anfordern kann. Umgekehrt sieht Rule 40 die Möglichkeit vor, dass der Gerichtshof den betroffenen Vertragsstaat in dringenden Fällen über die Beschwerde informiert.[60] Gleichwohl sollten der Bf. bzw. sein Vertreter eine etwaige staatliche Nichtbeachtung der vom Gerichtshof angeordneten vorläufigen Maßnahmen gegenüber dem Gerichtshof rügen, denn der EGMR geht mittlerweile von einer Verbindlichkeit der von ihm empfohlenen vorläufigen Maßnahmen für die Vertragsstaaten aus.[61] Der Vertragsstaat, gegen den sich die Beschwerde richtet, muss daher jegliche Handlungen unterlassen, die geeignet sind, die Wirksamkeit der Entscheidung in der Hauptsache zu beeinträchtigen. Die Missachtung einer angeordneten vorläufigen Maßnahme führt zu einem Verstoß gegen Art. 34 Satz 2 EMRK, der seinerseits separat vor dem EGMR gerügt und von diesem festgestellt werden kann.[62]
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Vorläufige Maßnahmen sind in der Regel zeitlich beschränkt. Sie können vom Gerichtshof jederzeit verlängert oder aufgehoben werden. Bestätigt das Urteil in der Hauptsache die Rechtsverletzung, ist die entsprechende Verpflichtung ab Endgültigkeit des Urteils gemäß Art. 46, 44 EMRK verbindlich. Wenn die Rechtsverletzung durch ein Kammerurteil verneint wird, bleibt die vorläufige Maßnahme jedoch regelmäßig bis zur Endgültigkeit des Urteils aufrechterhalten.[63]