Kitabı oku: «Internationales Strafrecht», sayfa 19
[115]
Zur Ausnahme hiervon siehe Rn. 209.
[116]
Der Präsident der Kammer kann aber abweichende Fristen festlegen. Zur Drittbeteiligung vor der GK siehe im Hinblick auf die Fristen Rule 44 Abs. 4.
[117]
Zur (Dritt-)Beteiligung der EU vgl. Burhoff/Kotz/Hagmann/Oerder Teil C, Rn. 103.
[118]
Im Verfahren EGMR Gäfgen v. Deutschland hatten die Nebenkläger (Eltern) schon im Verfahren vor der Kammer erfolgreich einen Beitritt zum Verfahren erklärt. Vor der GK wurde die britische Menschenrechtsorganisation „Redress Trust“ als „third party“ zugelassen. Zur Gewährung von Verfahrenshilfe für Nebenkläger bei Drittbeteiligung vor dem EGMR siehe Rn. 382 ff.
[119]
Als Mindestinhalt eines solchen Verhandlungsprotokolls nennt Rule 70: die Zusammensetzung der Kammer bei der Verhandlung; die Liste der erschienenen Personen; Prozessbevollmächtigte, Rechtsbeistände und Berater der Parteien sowie Drittbeteiligte; den Namen, die Vornamen, sonstige Angaben zur Person und die Adresse der Zeugen, Sachverständigen und anderen gehörten Personen; den Wortlaut der abgegebenen Erklärungen, gestellten Fragen und erhaltenen Antworten; den Wortlaut aller während der Verhandlung verkündeten Entscheidungen der Kammer oder des Kammerpräsidenten.
[120]
Beweiserhebungen durch eine Delegation werden durchweg wörtlich protokolliert (Rule A8).
[121]
EGMR Quaranta v. Schweiz, Urt. v. 24.5.1991, Nr. 12744/87, § 30.
[122]
EGMR Lyons v. UK, Entsch. v. 8.7.2003, Nr. 1522/03, EuGRZ 2004, 777.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR
D. Urteil des EGMR
446
Die Individualbeschwerde ist begründet, wenn der Bf. durch das angegriffene staatliche Handeln oder Unterlassen in einem Konventionsrecht verletzt worden ist.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › I. Beratung und Abstimmung
I. Beratung und Abstimmung
447
Im Gegensatz zur mündlichen Anhörung (s.o.) finden die Beratungen des Gerichtshofs in nichtöffentlicher Sitzung statt. Sie bleiben auch nach Abschluss des Verfahrens geheim. Neben den Richtern nehmen nur der Kanzler oder die als sein Vertreter bestimmte Person sowie Kanzleibedienstete und Dolmetscher teil, deren Hilfe für erforderlich erachtet wird. Die Zulassung anderer Personen zur Urteilsberatung bedarf einer besonderen Entscheidung des Gerichtshofs (Rule 22).
448
Grundsätzlich werden sämtliche Entscheidungen des Gerichtshofs von den anwesenden Richtern mit Stimmenmehrheit getroffen. Bei Stimmengleichheit wird erneut abgestimmt. Liegt weiterhin Stimmengleichheit vor, so gibt die Stimme des Präsidenten den Ausschlag (Rule 23 Abs. 1).
449
Die Urteile der Großen Kammer und der Kammern werden von den jeweils tagenden Richtern mit Stimmenmehrheit getroffen.[1] Bei den Schlussabstimmungen über Zulässigkeit und Begründetheit einer Beschwerde sind Enthaltungen nicht zulässig (Rule 23 Abs. 2). In der Regel erfolgen die Abstimmungen durch Handzeichen. Der Präsident kann eine namentliche Abstimmung anordnen (Rule 23 Abs. 3).
450
Die Ausschüsse entscheiden über die Begründetheit in sog. „well-established case-law“-Fällen stets einstimmig (Rule 53 Abs. 1, Abs. 2).[2]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › II. Prüfungsumfang
II. Prüfungsumfang
451
In der Begründetheitsprüfung beschränkt sich der Gerichtshof (weitestgehend) auf die menschenrechtliche Bewertung des ihm vorgelegten konkreten Einzelfalls und den in der Sache spezifisch geltend gemachten Konventionsverstoß. Allgemeine Ausführungen zur Umsetzung der EMRK in dem betroffenen Vertragsstaat vermeidet der Gerichtshof nach Möglichkeit.
452
Der Umfang der materiellen Prüfung der Beschwerde ist dabei nicht auf die vom Bf. geltend gemachten Konventionsbestimmungen beschränkt („The Court who is the master of the characterisation to be given in law to the facts“)[3], sondern lediglich an den Gegenstand der Beschwerde i.S. eines speziellen Ereignisses oder Lebenssachverhalts gebunden.[4] Liegt bereits eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde vor, so markiert diese die Grenzen für die sich nun anschließende materiell-rechtliche Prüfung.
453
Innerhalb dieses Rahmens kann der EGMR die Beschwerde on ist own motion auch vor dem Hintergrund einer vom Bf. nicht als einschlägig eingestuften Konventionsbestimmung untersuchen[5] und dabei über alle Tatsachen- und Rechtsfragen entscheiden, die im Verfahren auftreten. Außer Betracht bleiben allerdings Äußerungen der Parteien im Rahmen einer streng vertraulichen Verhandlung über eine gütliche Einigung sowie die Gründe, aus denen eine solche Einigung nicht zustande gekommen ist (Art. 39 Abs. 2 EMRK; Rule 62 Abs. 2; vgl. Rn. 369).[6]
454
Macht der Bf. eine Verletzung mehrerer Artikel der Konvention durch dasselbe staatliche Handeln oder die Verletzung eines geschützten Rechtes durch unterschiedliche Handlungsmodalitäten staatlicher Organe geltend, so nimmt der EGMR eine gesonderte Prüfung jedes einzelnen Beschwerdepunktes nur dann vor, wenn diese jeweils neue Fragestellungen aufwerfen. Zunehmend geht er dazu über, detaillierte Ausführungen lediglich zu der im Schwerpunkt gerügten Konventionsverletzung zu machen und die Beurteilung der übrigen Aspekte der Beschwerde dahinstehen zu lassen.[7]
455
Die Prüfung der Menschenrechte der EMRK vollzieht sich zumeist dreistufig, ähnlich wie die Grundrechtsprüfung vor dem BVerfG: Schutzbereich – Beeinträchtigung/Eingriff – Rechtfertigung des Eingriffs (= mangelnde Rechtswidrigkeit). Dabei ist zwischen allgemeinen (Art. 15-17 EMRK) und speziellen Schrankenvorbehalten (Art. 2 Abs. 2 EMRK; Art. 8 Abs. 2 EMRK) zu unterscheiden. Die Behandlungsverbote des Art. 3 EMRK sind schrankenlos gewährleistet. Geht es um die Einhaltung einer staatlichen Schutzpflicht[8], erfolgt in der Regel eine Abwägung der durch ein staatliches Handeln bzw. Unterlassen betroffenen Rechtsgüter.
456
Der EGMR hat nicht die Aufgabe eines Rechtsmittel- oder Instanzgerichtes. Er überprüft daher nicht die Auslegung und Anwendung der materiellen und prozessualen Vorschriften des nationalen Rechts sondern wacht lediglich über die Einhaltung der EMRK und prüft dabei, ob die nationale Rechtsordnung und Rechtspraxis den Anforderungen der Konvention entspricht.[9]
457
Die Nichteinhaltung innerstaatlicher Rechtsnormen kann vor dem Gerichtshof nur über eine spezielle Anknüpfung in der EMRK gerügt werden, etwa im Rahmen von Schrankenvorbehalten, in denen die Konvention ausdrücklich auf das nationale Recht verweist (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 EMRK: „auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise“; Art. 8 Abs. 2 EMRK: „gesetzlich vorgesehen“). Aber selbst in diesen Fällen variiert die Kontrolldichte des EGMR von Fall zu Fall. Zum Teil beschränkt sich der Gerichtshof auf eine Evidenz- oder Willkürkontrolle[10], teilweise kann die Prüfung aber auch recht detailliert und tief ins nationale Recht hineinreichen.[11]
458
Keiner Überprüfung durch den Gerichtshof zugänglich sind die Schuldfrage im engeren Sinne und die Tatsachenfeststellungen als solche.[12] Lediglich eingeschränkt überprüfbar – über den Grundsatz der Verfahrensfairness – sind die Glaubwürdigkeit von Zeugen[13] und die Relevanz erhobener bzw. nicht erhobener Beweise. Die eigentliche Beweiswürdigung und die Einstufung von Beweisen als entscheidungserheblich ist grundsätzlich Aufgabe der nationalen Gerichte.[14]
459
Die Bestimmungen der EMRK legt der Gerichtshof autonom aus, ohne an Auslegungsgrundsätze und Beweisregeln des nationalen Rechts gebunden zu sein.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › III. Inhalt des Urteils
III. Inhalt des Urteils
460
Die Urteile des Gerichtshofs sind zu begründen (Art. 45 Abs. 1 EMRK)[15] und folgen einem bestimmten Aufbau und Darstellungsmuster.[16] Ihre Struktur und ihr Mindestinhalt ergeben sich aus Rule 74:
• | die Namen des Präsidenten und der anderen Richter, aus denen sich die Kammer zusammensetzt, sowie den Namen des Kanzlers oder des Stellvertretenden Kanzlers, |
• | der Tag, an dem das Urteil gefällt wurde, und der Tag seiner Verkündung, |
• | die Bezeichnung der Parteien, |
• | die Namen der Prozessbevollmächtigten, Rechtsbeistände und Berater der Parteien, |
• | die Darstellung des Prozessverlaufs, |
• | der Sachverhalt, |
• | eine Zusammenfassung des Vorbringens der Parteien, |
• | die Entscheidungsgründe, |
• | der Urteilstenor, |
• | ggf. die Kostenentscheidung, |
• | die Zahl der Richter, die die Mehrheit gebildet haben, |
• | ggf. die Angabe, welche Sprachfassung maßgebend ist. |
461
Jeder an der Verhandlung und Entscheidung über eine Rechtssache teilnehmende Richter ist berechtigt, dem Urteil eine Darlegung seiner zustimmenden oder abweichenden persönlichen Meinung oder die bloße Feststellung seines abweichenden Votums beizufügen (Art. 45 Abs. 2 EMRK; Rule 74 Abs. 2). Solche concurring opinions oder dissenting opinions, von denen die Richter zunehmend Gebrauch machen, liefern häufig interessante Ansätze und Argumente für eine Fortentwicklung der Judikatur des EGMR jenseits der getroffenen Mehrheitsentscheidung.
462
Der Gerichtshof erlässt seine Urteile in englischer oder französischer Sprache, nur ausnahmsweise in beiden Amtssprachen (Rule 76 Abs. 1). Sämtliche endgültigen Urteile des EGMR sind in geeigneter Form zu veröffentlichen (Art. 44 Abs. 3 EMRK). Hierfür ist der Kanzler des Gerichtshofs verantwortlich (Rule 78 Satz 1). In die amtliche Sammlung (Series A-1996/Reports-1999/seither ECHR) werden nur solche Urteile und Entscheidungen – sowie sonstige Schriftstücke – aufgenommen, deren Veröffentlichung der Präsident des Gerichtshofs für zweckmäßig hält (Rule 78 Satz 2). Die Veröffentlichung erfolgt dort in beiden Amtssprachen (Rule 76 Abs. 2).
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › IV. Bindungswirkung des Urteils
IV. Bindungswirkung des Urteils[17]
1. Inter-partes-Wirkung
463
Der EGMR ist kein Rechtsmittelgericht bzw. kein Gericht höherer Instanz im Verhältnis zu den nationalen Gerichten der Vertragsstaaten. Urteile des EGMR sind daher – mit Ausnahme des eine gerechte Entschädigung betreffenden Teils (Art. 41 EMRK)[18] – reine Feststellungsurteile. Sie haben keine kassatorische bzw. unmittelbar gestaltende Wirkung und beseitigen nicht die Rechtskraft der nationalen gerichtlichen Entscheidungen. Auch eine unmittelbare Kontaktaufnahme des Gerichtshofs mit den für den Konventionsverstoß verantwortlichen staatlichen Stellen zur Umsetzung des Urteils ist formell ausgeschlossen.[19]
464
Die Feststellung eines Konventionsverstoßes ergeht unabhängig davon, ob es beim Bf. zum Eintritt eines materiellen oder immateriellen Schadens gekommen ist (vgl. Art. 41 EMRK).
465
Die endgültigen Urteile des Gerichtshofs (Art. 44 EMRK) besitzen eine völkerrechtliche Bindungswirkung inter partes für die am Verfahren beteiligten Parteien. Der verurteilte Vertragsstaat hat daher das gegen ihn ergangene Urteil zu befolgen und umzusetzen (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Diese Befolgungspflicht des verurteilten Staates (abide by the final judgments)[20] kommt mittelbar auch in seiner allgemeinen Verpflichtung zur Achtung und Gewährleistung der in Art. 2-18 EMRK und den Zusatzprotokollen niedergelegten Konventionsgarantien zum Ausdruck (Art. 1 EMRK).
466
Innerstaatlicher Adressat dieser – den verurteilten Vertragsstaat im Außenverhältnis als Völkerrechtssubjekt treffenden – Pflicht sind dessen Behörden und Gerichte. Diese innerstaatliche Bindung aller staatlichen Stellen an ein gegen die BR Deutschland ergangenes Verdikt des EGMR folgt unmittelbar aus der im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankerten Bindung an Gesetz und Recht.[21]
467
Aus einer Zusammenschau von Art. 41 und 46 EMRK ergibt sich der konkrete Inhalt der Pflicht des verurteilten Vertragsstaats. In dem konkreten Strafverfahren, das Anlass zu der Verurteilung durch den EGMR gegeben hat, muss der Vertragsstaat – soweit möglich – mit Hilfe allgemeiner oder individueller in der nationalen Rechtordnung vorgesehener Maßnahmen (general or individual measures) die festgestellte (noch andauernde[22]) Verletzung der Konvention beenden und den Folgen dieses Konventionsverstoßes soweit wie möglich abhelfen (redress so far as possible the effects).[23] Erforderlich ist – wenn möglich – eine vollständige Wiedergutmachung des durch den festgestellten Konventionsverstoß entstandenen Schadens (Naturalrestitution). Zu einer solchen restitutio in integrum[24] sind die staatlichen Stellen auch dann verpflichtet, wenn der Bf. nicht selbst initiativ wird und ein Wiederaufnahmeverfahren nach § 359 Nr. 6 StPO (vgl. Rn. 546 ff.) betreibt.[25]
468
Wenn der Staat das Verhalten, das der EGMR als konventionswidrig beanstandet hat, nicht abstellt oder wiederholt, so verletzt er damit erneut die EMRK und verstößt auch gegen Art. 1 EMRK.[26]
469
Da die Konvention den Vertragsstaaten die Wahl der Mittel überlässt, mit denen sie den ihnen aus der Verurteilung obliegenden Verpflichtungen im innerstaatlichen Recht nachkommen (Beurteilungsspielraum), darf der EGMR dem verurteilten Vertragsstaat grundsätzlich keine konkrete Maßnahme zur Umsetzung des Urteils vorschreiben, wie z.B. die Aufhebung eines Urteils, die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens oder die Gewährung einer Leistung, sondern muss sich auf die Feststellung des Konventionsverstoßes beschränken.[27] In den letzten Jahren ist allerdings die Tendenz zu erkennen, dass der EGMR andeutet, teilweise sogar unmissverständlich ausspricht, auf welche konkrete Art und Weise eine Behebung des festgestellten Konventionsverstoßes zu erreichen ist, z.B. durch eine Wiederaufnahme des Falles, die Freilassung des Bf. oder durch die Rückgabe einer beschlagnahmten Sache.[28]
470
Besonders hervorzuheben ist folgender Leitsatz des Gerichtshofs für Verstöße gegen Art. 6 EMRK:
„… when an applicant has been convicted despite a potential infringement of his rights as guaranteed by Article 6 of the Convention, he should, as far as possible, be put in the position that he would have been in had the requirements of that provision not been disregarded, and that the most appropriate form of redress would, in principle, be trial de novo or the reopening of the proceedings, if requested.“ [29]
2. Bindung über Einzelfall hinaus
471
Noch nicht endgültig geklärt ist, ob die Urteile des EGMR eine über den Einzelfall hinaus reichende rechtliche Verbindlichkeit für die Vertragsstaaten besitzen oder ob ihnen bezüglich anderer Personen lediglich eine (faktische) Orientierungswirkung zukommt, in dem Sinne, dass alle Staaten in einer vergleichbaren Konstellation oder Fragestellung ebenfalls mit einer Verurteilung rechnen müssen. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Urteilen, die gegen den Vertragsstaat ergehen und thematisch auch andere Personen neben dem Beschwerdeführer betreffen sowie Urteilen, die gegen andere Vertragsstaaten ausgesprochen werden.
472
Der Vertragsstaat hat jedenfalls sicherzustellen, dass sich der festgestellte Konventionsverstoß in zukünftigen, ähnlich gelagerten Fällen nicht wiederholt.[30] Dies gilt jedenfalls für die Person des konkreten Bf. Ob dieser Anspruch sich darüber hinaus auf alle der Hoheitsgewalt des Vertragsstaates unterstehenden Personen bezieht, ist dagegen ungeklärt. Dem Wesen eines Individualrechtsstreits immanent ist, dass Streitgegenstand und damit auch Umfang der sachlichen Rechtskraft eines Straßburger Urteils eng zu interpretieren sind und sich nur auf den entschiedenen Sachverhalt, den konkreten Bf. sowie den betroffenen Vertragsstaat beziehen.[31] Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, auf Seiten des Vertragsstaats von einer über den entschiedenen Streitgegenstand hinausgehenden völkerrechtlichen Befolgungspflicht aus Art. 46 EMRK auszugehen, deren innerstaatlicher Adressat sämtliche staatlichen Organe sind.[32]
473
Wer beim Wiederholungsverbot im Interesse eines wirksamen Menschenrechtsschutzes eine Erstreckung auf gleichgelagerte nationale Fälle propagiert, die andere Personen betreffen, kann auf Dauer nicht erklären, warum das nicht auch für die Behebung bereits eingetretener Konventionsverstöße bei anderen Personen gelten soll, zumal man in der Aufrechterhaltung der Folgen eines bereits eingetretenen Konventionsverstoßes durchaus auch dessen aufrechterhaltende „Wiederholung“ sehen kann.[33] Darüber hinaus kann die Verbindlichkeit eines Urteils des EGMR für „Parallelfälle“ in dem betreffenden Vertragsstaat aus Art. 1 EMRK abgeleitet werden.[34] Auch wenn das Urteil den betroffenen Staat über Art. 46 EMRK nur für den entschiedenen Fall unmittelbar bindet, folgt eine darüber hinausreichende rechtliche Bindung des Staates daraus, dass dieser nach Art. 1 EMRK (und seine Organe nach Art. 59 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) zur Beachtung der Konvention verpflichtet sind, deren Inhalt durch die Urteile des EGMR konkretisiert wird.
3. Im Übrigen: Normative Leitfunktion
474
Weder aus Art. 46 Abs. 1 EMRK noch aus Art. 1 EMRK lässt sich für die BR Deutschland als Vertragsstaat – geschweige denn für die deutschen Behörden und Gerichte als ihre Organe – eine unmittelbar völkerrechtlich verbindliche Bindung an die gegen andere Vertragsstaaten ergehenden Urteile (als solche) begründen. Art. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten der EMRK aber dazu, den Konventionsrechten gegenüber seinen Bürgern Geltung zu verschaffen. Weil aber Art. 32 EMRK dem EGMR eine (nicht ausschließliche) Kompetenz für alle die Auslegung und Anwendung der Konvention nebst ihrer Zusatzprotokolle betreffenden Angelegenheiten zuweist und nicht nur diese Vorschrift sondern vor allem die einzelnen Garantien der EMRK über das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) Teil der deutschen Rechtsordnung geworden sind, besteht für die deutschen Gerichte und Behörden eine Pflicht, die gesamte Rechtsprechung des Gerichtshofs – d.h. den übertragungsfähigen Inhalt sämtlicher Urteile – bei der Auslegung und Anwendung der EMRK als Teil des nationalen Rechtes zu berücksichtigen.[35]
475
Diese (innerstaatliche) Pflicht aller staatlichen Stellen zur Berücksichtigung der gesamten Spruchpraxis des EGMR hat das BVerfG verfassungsrechtlich über das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) abgesichert.[36] Nur auf diese Weise lassen sich Wertungswidersprüche zwischen der völkerrechtlich verbindlichen Achtung der EMRK im Außenverhältnis und ihrer Auslegung in der deutschen Rechtsordnung vermeiden.
476
In diese Richtung hatte bereits 2002 das BVerwG[37] argumentiert, indem es feststellte, dass der Auslegung der Konvention durch den EGMR über den entschiedenen Fall hinaus eine „normative Leitfunktion“ zukommt, an der sich die Vertragsstaaten zu orientieren haben. Lässt sich aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung des EGMR eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung feststellen, haben dem die deutschen Gerichte vorrangig Rechnung zu tragen. Diese “Beachtenspflicht“ rechtfertige sich aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag. Und weiter heißt es wörtlich:
477
„Die Feststellungsurteile des Gerichtshofs besitzen neben einer subjektiven, auf die konkrete Beschwer im Einzelfall bezogenen Bedeutung zusätzliche objektive, auf Rechtsklärung gerichtete Elemente. Die kollektive Garantie der in der Konvention verbürgten Rechte bliebe weitgehend ineffektiv, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpften“.