Kitabı oku: «Internationales Strafrecht», sayfa 20
4. Pilotverfahren
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In der Regel nimmt der Gerichtshof nicht Stellung zu den Mitteln, mit denen eine Konventionsverletzung auf nationaler Ebene aufgehoben werden kann. Jedoch wurde beim Gerichtshof in der Vergangenheit häufig eine Vielzahl von Beschwerden mit demselben Beschwerdegegenstand anhängig gemacht, vor allem wenn ein bestimmtes Gesetz in allen unter die Norm fallenden Sachverhalten zu Verletzungen von Konventionsrechten führte oder bei sonstigen strukturellen Problemen (sog. repetitive cases).
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In diesen Fällen ist der Gerichtshof nach seinem Grundsatzurteil im Fall Broniowski[38] dazu übergegangen, an die verurteilten Staaten zur Wiedergutmachung des festgestellten Konventionsverstoßes konkrete Empfehlungen auszusprechen. Im Urteil Broniowski empfahl der EGMR dem polnischen Staat die (zusätzliche) Ergreifung allgemeiner Maßnahmen (general measures) gegenüber rund 80 000 von der behandelten konventionsrechtlichen Fragestellung (Entschädigung für Grundstücksverluste nach dem 2. Weltkrieg) ebenfalls betroffenen Personen – unabhängig von der Wiedergutmachung im konkreten Einzelfall, der Gegenstand der Beschwerde war.
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In der von der Rechtsprechung entwickelten sog. Pilot Judgment Procedure, die inzwischen in Rule 61 geregelt ist, greift der Gerichtshof eine von mehreren anhängigen vergleichbaren Beschwerden heraus und stellt in einem „pilot judgment“ fest, dass die gerügte Konventionsverletzung auf einem strukturellen Problem des Vertragsstaates beruht, etwa auf einer bestimmten konventionswidrigen Rechtsprechung oder verwaltungsrechtlichen Praxis oder auf einer mit der Konvention unvereinbaren nationalen Norm. Der verurteilte Staat soll daraufhin ein effektives Rechtsmittel vorsehen, das für alle potenziellen Bf. offen steht, die aufgrund desselben Defizits in ihren Rechten nach der Konvention verletzt sind Das Gericht beschreibt auch die Mittel, die der betroffene Staat ergreifen kann, um den konventionswidrigen Zustand zu beenden (Rule 61 Abs. 3). Die bereits anhängigen Beschwerden werden vorerst zurückgestellt, bis der Vertragsstaat entsprechende Maßnahmen ergriffen hat. Falls dies nicht innerhalb einer angemessenen Frist geschieht (Rule 61 Abs. 4), werden die Beschwerden wiedereröffnet (Rule 61 Abs. 6 lit. a, c; Abs. 8) und in einem summarischen Verfahren vor den Ausschüssen abgehandelt. Praktische Bedeutung hat die Pilot Judgment Procedure (lediglich) in Fällen schwerwiegender Konventionsverletzungen und wenn sich der innerstaatliche Missstand nicht auf andere Weise effektiv und zeitnah beheben lässt.[39]
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › D. Urteil des EGMR › V. Entscheidung über eine gerechte Entschädigung
V. Entscheidung über eine gerechte Entschädigung
1. Allgemeine Grundsätze
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Die Konvention geht davon aus, dass eine vollständige Wiedergutmachung des festgestellten Konventionsverstoßes (restitutio in integrum) häufig nicht (mehr) möglich ist. Gestattet das innerstaatliche Recht eines Vertragsstaates nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen der Verletzung oder ist eine restitutio in integrum zwar möglich, vom Staat aber bisher nicht in die Wege geleitet worden, so kann der EGMR dem Bf. eine angemessene Entschädigung als Ausgleich für erlittene materielle und immaterielle Schäden zusprechen (Art. 41 EMRK)[40], die vom verurteilten Vertragsstaat zu leisten ist.[41] Bei Individualbeschwerden erkennt der Gerichtshof regelmäßig – aber nicht automatisch – auf eine Entschädigung, auch dann, wenn der Bf. auf nationaler Ebene eine Entschädigung verlangen könnte (eine Wiedergutmachung nach nationalem Recht also möglich ist), ihm deren Durchsetzung aber nicht zumutbar ist (Dauer; zweifelhafte Erfolgsaussicht).
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Die Entschädigung i.S.v. Art. 41 EMRK umfasst
• | den materiellen Schaden (pecuniary damage) |
• | den immateriellen Schaden (non-pecuniary damage) |
• | den Ersatz der Kosten und Auslagen für die Rechtsverfolgung vor den nationalen Gerichten und vor dem EGMR, insbesondere die Gebühren für Rechtsanwälte (costs and expenses). |
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Zu den Einzelheiten siehe Practice Direction – Just Satisfaction Claims (PD-JS; Stand: 14.11.2016). Voraussetzung für alle Posten ist, dass eine Entschädigung vom Verletzten rechtzeitig, also innerhalb der Frist für Ausführungen zur Begründetheit, geltend gemacht und ordnungsgemäß belegt wird (Rule 60, §§ 16 ff. PD-JS, siehe auch schon Rn. 287).
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Stellt die Kammer eine Verletzung der Konvention fest, so entscheidet sie regelmäßig in demselben Urteil über die zu gewährende Entschädigung. Ist die Frage der Entschädigung noch nicht spruchreif, so erfolgt ein separates Urteil über diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt (Rule 75 Abs. 1).[42] Die Parteien werden in der Regel aufgefordert, sich innerhalb einer vom Gerichtshof gesetzten Frist (meist sechs Monate ab Eintritt der Endgültigkeit des Urteils; Art. 44 Abs. 2 EMRK) schriftlich zur Frage der Entschädigung zu äußern.
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Um das Verfahren zu verkürzen, sollten die Parteien im Anschluss an ein Urteil, das sich auf die Feststellung eines Konventionsverstoßes beschränkt, den Versuch unternehmen, eine gütliche Einigung über die Frage der Entschädigung zu erzielen.[43] Gerade die als Teil der Kosten und Auslagen zu berücksichtigenden Anwaltsgebühren sind hier in einem weitaus höheren Maße verhandelbar als die Summen, die der Gerichtshof im streitigen Verfahren zuspricht. Kommt es zu einer solchen gütlichen Einigung, streicht der Gerichtshof die Beschwerde aus dem Register (Rule 75 Abs. 4), andernfalls ergeht ein zweites Urteil über die Frage der Entschädigung (siehe schon Rn. 380).
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In dem Urteil, in dem der EGMR die vom Vertragsstaat zu zahlende Entschädigung festsetzt, bestimmt er üblicherweise eine Frist (in der Regel drei Monate; § 25 PD-JS), innerhalb derer die Entschädigung zu zahlen ist. Die Frist beginnt mit dem Datum, an dem das Urteil endgültig (final) i.S.v. Art. 44 Abs. 2 EMRK wird.
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Der Gerichtshof ist grundsätzlich auf die Festsetzung einer kompensatorischen Entschädigung in Form von Geld beschränkt (monetary award); ausnahmsweise (s.o. Rn. 469) kann eine spezielle Form der Naturalrestitution (z.B. Rückgabe einer beschlagnahmten Sache) oder eine sonstige Form der Beendigung des Konventionsverstoßes angeordnet werden (consequential order, § 23 PD-JS). Sollen dem betroffenen Vertragsstaat die Mittel zur Umsetzung des Urteils mit auf den Weg gegeben werden, empfiehlt es sich, einen entsprechenden Antrag schon in der Beschwerdeschrift zu formulieren. Anspruch auf den Ausspruch einer solchen consequential order hat der Bf. allerdings nicht.
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Die Zahlung einer Entschädigungssumme (einschließlich der zu erstattenden Kosten) erfolgt an den Bf. Der Verteidiger kann seine Gebühren daher grundsätzlich nur gegenüber seinem Mandanten (d.h. weder gegenüber dem EGMR noch gegenüber dem Vertragsstaat) geltend machen. Abweichende Vereinbarungen sind möglich (vgl. § 22 PD-JS; Rn. 409). Der EGMR berücksichtigt dies regelmäßig und verpflichtet ggf. den belangten Staat zur Zahlung an den Rechtsvertreter.[44]
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Ein als Entschädigung an den Bf. zu zahlender Geldbetrag wird vom Gerichtshof in EURO festgesetzt, unabhängig davon, in welcher Währung der Bf. seine Schäden beziffert hat (§ 24 PD-JS). Gehört der betroffene Vertragsstaat nicht der Europäischen Währungsunion an, muss die Entschädigungssumme anschließend in die entsprechende Landeswährung umgerechnet werden. Maßgeblich ist der Umrechnungskurs am Tag der Zahlung (exchange rate applicable on the date of payment; § 24 PD-JS).
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Etwaige vom Bf. auf die Entschädigungssumme zu entrichtende Steuern sind auf den vom EGMR festgesetzten Betrag aufzuschlagen (plus any tax that may be chargeable).
491
Werden einzelne vom Bf. geltend gemachte Schadenspositionen vom Gerichtshof nicht als erstattungsfähig anerkannt, so führt dies weder zu einem „Teilunterliegen“ noch löst dieser Umstand eine Kostenlast bzw. Erstattungspflicht auf Seiten des Bf. aus.
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Umgekehrt können geltend gemachte Schäden oder Kosten in vollem Umfang erstattungsfähig sein, obwohl der Gerichtshof nicht alle vom Bf. behaupteten Konventionsverstöße festgestellt hat. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die Kosten speziell im Zusammenhang mit dem nicht erfolgreichen Teil der Beschwerde entstanden sind, denn dann fehlt regelmäßig der für die Erstattungsfähigkeit stets erforderliche causal link (s.u. Rn. 495).
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Bei der Schadensberechnung ist zu beachten, dass der vom Gerichtshof festgesetzten Entschädigungsleistung kein punitiver Effekt, d.h. keine den verurteilten Vertragsstaat bestrafende oder abschreckende („exemplarische“) Wirkung zugeschrieben werden darf (§ 9 PD-JS).
2. Ersatz des materiellen Schadens (pecuniary damage)
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Grundsätzlich soll der Bf. finanziell in die Lage versetzt werden, in der er sich ohne den Eintritt des Konventionsverstoßes befände (restitutio in integrum; § 10 PD-JS). Zum ersatzfähigen materiellen Schaden zählen daher prinzipiell alle durch den Konventionsverstoß erlittenen Vermögenseinbußen (damnum ermergens; z.B. Lohn- bzw. Verdienstausfall, entgangener Gewinn; Arzt- und Pflegekosten; Zinsverluste; mit einer Geldleistung verbundene Strafen oder Sanktionen)[45] oder zu erwartende finanzielle Einbußen in der Zukunft (lucrum cessans; z.B. Wegfall einer Unterhaltsleistung).
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Einer Entschädigung zugänglich sind allerdings nur solche aktuellen oder zukünftigen finanziellen Einbußen, die unmittelbar auf den konkreten Konventionsverstoß zurückzuführen sind (damage is the result of a violation found; § 8 PD-JS). Diesen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen dem Schaden und dem festgestellten Konventionsverstoß (clear causal link; § 7 PD-JS) muss der Bf. in seinem Antrag auf Gewährung einer Entschädigung substantiiert darlegen und nachweisen (supported by appropriate documentary evidence; § 5 PD-JS). Ebenso muss die Schadenshöhe nachgewiesen werden; grobe Schätzungen genügen nicht. Die Darlegungs- und Beweislast (sowohl dem Grunde als auch der Höhe nach) liegt einzig und allein beim Bf. (§ 11 PD-JS).
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Die Anforderungen des EGMR an den geforderten Kausalzusammenhang zwischen Konventionsverletzung und Schaden – sowohl in inhaltlicher als auch rein finanzieller Hinsicht – sind im Allgemeinen beträchtlich. Bei Verletzungen von Verfahrensgarantien kann ein Schaden oft nicht nachgewiesen werden.[46] Der Gerichtshof lehnt es jedenfalls ab, über den Ausgang des Verfahrens zu spekulieren.[47] So spricht der Gerichtshof keine Haftentschädigung bei Verstößen gegen die Verfahrensfairness aus, es sei denn, dass die Inhaftierung selbst mit Art. 5 EMRK unvereinbar war.[48]
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Insbesondere bei der Geltendmachung eines Einkommensausfalls ist zu beachten, dass der Gerichtshof nicht darüber spekuliert, wie das Verfahren ohne den festgestellten Konventionsverstoß ausgegangen wäre (§ 7 PD-JS).[49] Erforderlich sind konkrete, glaubhafte Angaben zum Eintritt, zur Art und zum Umfang der Schädigung (§ 11 PD-JS). Zur Festlegung einer konkreten Summe als Schadensersatz kann die Kammer ein Sachverständigengutachten einholen (z.B. zum Wert einer beschädigten, beschlagnahmten Sache).[50] Weil sich materielle Schäden häufig nur schwer beziffern lassen und sich zudem von immateriellen Schäden nicht immer exakt abgrenzen lassen, entscheidet der Gerichtshof in vielen Fällen nach Billigkeit (assessment on an equitable basis; vgl. §§ 2, 14 PD-JS), was die Vorausberechnung einer zu erwartenden Entschädigungssumme erheblich erschwert.
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Billigkeitserwägungen (reasons in equity) können auch dazu führen, dass die vom Gerichtshof festgesetzte Entschädigungssumme unterhalb der tatsächlich nachweisbaren Vermögenseinbuße liegt (§ 12 PD-JS).
3. Ersatz des immateriellen Schadens (non-pecuniary damage)
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Über die Festsetzung einer Geldsumme als Schmerzensgeld oder allgemein als finanziellen Ausgleich für einen infolge des Konventionsverstoßes eingetretenen immateriellen, psychischen Schaden, Angstzustände, Ungewissheiten oder Unbequemlichkeiten entscheidet der Gerichtshof stets nach billigem Ermessen (equitable basis) unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls.[51] Maßgebliche Faktoren sind die Schwere des Konventionsverstoßes, insbesondere der Eintritt psychischer Schäden, die der Bf. – bzw. sein Angehöriger (z.B. beim Tod des Bf.) – erlitten hat.[52]
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Der Bf. ist gehalten, in seinem Antrag auf Festsetzung einer angemessenen Entschädigung konkrete Vorstellungen zu der angestrebten Entschädigungssumme zu äußern, zumal der EGMR grundsätzlich keine höheren Entschädigungen gewährt als von dem Bf. gefordert.[53] Bei mehreren Konventionsverstößen, die jeweils unmittelbar zu nicht-immateriellen Einbußen geführt haben, kann der Bf. entweder eine seiner Ansicht nach angemessene Gesamtsumme (lump sum) benennen oder aber den von ihm begehrten finanziellen Ausgleich für jeden Konventionsverstoß separat beziffern (§ 15 PD-JS). Es kommt auch vor, dass der Bf. die konkrete Höhe der Entschädigung für immateriellen Schaden in das Ermessen des Gerichtshofs stellt und dieser dann eine Entschädigung in nicht unbeträchtlicher Höhe zuspricht.[54] Keine Entschädigung gewährt der Gerichtshof jedoch dann, wenn lediglich eine unbezifferte Entschädigung gefordert wird und ihre Höhe nicht explizit in das Ermessen des Gerichtshofs gestellt wird.[55]
501
Die zugesprochenen Beträge bewegen sich inzwischen in einer Größenordnung von 1.000-10.000 €, in schwereren Fällen (Folter; Tötung von Familienangehörigen; willkürliche Inhaftierung oder Verurteilung) hat der Gerichtshof aber auch schon Beträge von 15.000-180.000 € zugesprochen (z.T. als billige Gesamtsumme für materielle und immaterielle Schäden).[56]
502
Ausgeschlossen ist die Zusprechung einer Entschädigung, falls der eingetretene Nichtvermögensschaden bereits durch die Feststellung der Konventionsverletzung vollständig kompensiert wird (sufficient just satisfaction, § 2 PD-JS).[57] Ein finanzieller Ausgleich bleibt dem Bf. ebenfalls versagt, wenn ihm der Nachweis eines immateriellen Schadens nicht gelingt oder sich ein nachweisbarer Schaden nicht unmittelbar auf den festgestellten Konventionsverstoß zurückführen lässt. Das ist bei Verfahrensfehlern häufig der Fall; andererseits hat der Gerichtshof aber auch bei Verstößen gegen die Verfahrensfairness (Art. 6 Abs. 1 EMRK) wegen der mit der („unfairen“) Verurteilung verbundenen Freiheitsentziehung Entschädigungssummen zugesprochen (§§ 7, 8 PD-JS).[58]
503
Die Höhe der Entschädigung mindern können sämtliche Maßnahmen, die der betroffene Vertragsstaat zur Wiedergutmachung des eingetretenen Schadens bereits ergriffen hat, selbst wenn diese nicht mit einer ausdrücklichen Anerkennung des Konventionsverstoßes verbunden waren (z.B. Milderung der verhängten Strafe; Anrechnung der Untersuchungshaft).[59] In engen Grenzen kann auch ein für den Eintritt des Konventionsverstoßes mitursächliches Verhalten des Bf. eine die Entschädigung reduzierende Wirkung haben.[60]
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Im speziellen Fall der überlangen Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK) spricht der EGMR eine finanzielle Entschädigung für einen immateriellen Schaden nur dann zu, wenn die Unangemessenheit der Verfahrensdauer nicht bereits im nationalen Strafurteil strafmildernd berücksichtigt worden ist[61] und die Feststellung des Konventionsverstoßes allein keine ausreichende Wiedergutmachung darstellt.
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In zivilrechtlich geprägten Fallkonstellationen berechnet der EGMR die Entschädigung mit einer Summe von 1.000-1.500 € pro Jahr Verfahrensdauer (auf den verzögerten Teil des Verfahrens kommt es insoweit nicht an); der so ermittelte Gesamtbetrag wird um 2.000 € erhöht, wenn es sich bei der Rechtssache um eine für den Einzelnen besonders bedeutende Frage handelt; die Entschädigung wird reduziert, wenn mehrere Gerichte die Rechtssache bearbeitet haben oder wenn der Betroffene durch sein Handeln Teile der Verzögerung verursacht hat.[62] Eine starre Übertragung dieser Grundsätze auf das Strafrecht ist nicht möglich.[63]
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Einen Sonderfall bei der Berechnung der Angemessenheit einer Entschädigung für Nichtvermögensschäden bilden Sammelklagen. Hierzu hat die GK im Urteil Kakamoukas[64] Leitlinien entwickelt: Wenn in einem verbundenen Verfahren eine überlange Verfahrensdauer festgestellt wird, muss berücksichtigt werden, wie die Zahl der Beteiligten das Ausmaß der Ängste, Unbequemlichkeiten und Unsicherheiten, die jeder von ihnen empfunden hat, beeinflusst. Einer Personengruppe anzugehören, die sich entschlossen hat, ein Gericht wegen derselben tatsächlichen und rechtlichen Umstände anzurufen, hat zur Folge, dass man sowohl die Vorteile als auch die Nachteile eines verbundenen Verfahrens teilen muss. Wenn gemeinsame Verfahren von demselben Bevollmächtigten betrieben und koordiniert werden, sind Kosten und Gebühren für den einzelnen Kläger außerdem normalerweise niedriger als bei einer einzelnen Klage, was den Zugang zu den Gerichten vereinfacht. Außerdem ermöglichen gemeinsam erhobene Klagen den Gerichten häufig, gleichartige Verfahren zu verbinden, was eine gute Justizverwaltung erleichtert und dazu führen kann, das Verfahren zu beschleunigen.
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Andererseits können die erwähnten Besonderheiten verbundener Verfahren bei den Betroffenen die Erwartung wecken, dass der Staat bei der Behandlung ihrer Fälle besondere Sorgfalt walten lässt. Ungerechtfertigte Verzögerungen können deswegen einen möglicherweise erlittenen Schaden vergrößern.
4. Erstattung der Kosten und Auslagen (costs and expenses)
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Erstattungsfähig als costs and expenses sind prinzipiell alle zur Vermeidung, Geltendmachung und ggf. Wiedergutmachung des vom EGMR festgestellten Konventionsverstoßes entstandenen Kosten (§ 16 PD-JS), soweit sie entweder auf nationaler Ebene und/oder im Verfahren vor dem Gerichtshof tatsächlich und notwendig entstanden sind (actually and necessarily incurred, §§ 18 f. PD-JS).[65] Für ein „Entstehen“ der Kosten beim Bf. ist nicht Voraussetzung, dass dieser die einzelnen Summen bereits tatsächlich aufgewendet hat. Ausreichend aber auch erforderlich ist eine gesetzliche oder vertragliche Kostentragungspflicht des Bf. (§ 18 Satz 2 PD-JS).[66]
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Gebühren und Auslagen für Rechtsanwälte (legal assistance) sind erstattungsfähig (§ 16 PD-JS), soweit sie in Hinblick auf den Beschwerdegegenstand auf nationaler Ebene (subject-matter) bzw. den späteren Ablauf des Verfahrens vor dem Gerichtshof (procedure adopted before the Court in this case) als notwendig (necessarily incurred) und angemessen erscheinen (reasonable as to quantum; § 20 PD-JS).[67] Die Erforderlichkeit einer Vertretung durch mehrere Anwälte (sei es auf nationaler Ebene oder vor dem EGMR) kommt nur in ganz außergewöhnlich schwierigen oder umfangreichen Verfahren in Betracht.[68]
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Eine verlässliche Aussage über die zulässige Höhe von Gebühren oder die Erstattungsfähigkeit einzelner Kostenarten wird auch hier dadurch erschwert, dass der EGMR zunehmend nach Billigkeit entscheidet. Nationale Gebührenordnungen (RVG) bieten allenfalls einen Anhaltspunkt für die Angemessenheit der vom Bf. geltend gemachten Gebühren.[69] Honorarvereinbarungen (auch Stundenhonorare) stehen einer Erstattungsfähigkeit nicht entgegen, haben aber keine bindende Wirkung für den Gerichtshof. Dieser verlangt stattdessen meist einen konkreten Tätigkeitsnachweis (nach Stunden) und spricht üblicherweise eine Gebühren- und Auslagenerstattung zwischen 1.500 € und 5.000 € aus (Richtwert für das gesamte nationale und EGMR-Verfahren in Bezug auf den konkreten Konventionsverstoß), je nach Komplexität des Falles und detailliertem Tätigkeitsnachweis können aber auch Gesamthonorare (deutlich) über 5.000 € erstattungsfähig sein.
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(a) Die im nationalen Strafverfahren entstandenen Auslagen für den Verteidiger werden nur erstattet, soweit sie konkret auf die Geltendmachung des – später vom EGMR festgestellten – Konventionsverstoßes vor den nationalen Behörden und Gerichten entfallen. Nicht erstattungsfähig sind daher Kosten, die unabhängig von dem vom EGMR festgestellten Konventionsverstoß angefallen wären. Das gilt insbesondere für die auf nationaler Ebene allgemein – d.h. unabhängig vom Konventionsverstoß und ohne Bezug zum späteren Verfahren vor dem EGMR – entstandenen Kosten der Verteidigung.[70]
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(b) Sonstige dem Bf. im Rahmen des nationalen Strafverfahrens entstandene Kosten (z.B. Gebühren, Auslagen, Kostenvorschüsse im Verfahren vor den Strafgerichten oder im Rahmen einer Haftprüfung) sind ebenfalls nur erstattungsfähig, soweit sie sich auf ein Rechtsbehelfsverfahren beziehen, mit dessen Hilfe der (eingetretene) Konventionsverstoß abgewendet werden sollte. Auch hier müssen sich die Kosten konkret auf die festgestellte Verletzung beziehen (in so far as they relate to the violation found).[71] Das Verfahren vor dem EGMR selbst ist kostenfrei (siehe noch Rn. 540).
513
(c) Die Gebühren und Auslagen für einen Rechtsbeistand im Verfahren vor dem EGMR sind ebenfalls erstattungsfähig, soweit sie im Zusammenhang mit einer vom Gerichtshof festgestellten Verletzung der EMRK entstanden sind.[72] Sie müssen vom Bf. detailliert dargelegt werden (set out in detail).[73] Andernfalls verweigert der Gerichtshof eine Erstattung oder entscheidet auch diese Frage nach billigem Ermessen, unter Anrechnung einer etwaigen vom Europarat gewährten Verfahrenshilfe (siehe auch gleich noch Rn. 515).[74] Ebenfalls erstattungsfähig sind – soweit notwendig, angemessen und hinreichend dokumentiert (Rule 60 Abs. 2) – Reise-, Aufenthalts-, Übersetzungs- und Dolmetscherkosten.[75]
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Hinweis
Die für Rechtsanwaltsgebühren für Verfahren vor dem EGMR bestehende Gesetzeslücke wurde zum 1.8.2013 durch den neuen § 38a RVG geschlossen. Darin wird auf die Gebühren im Revisionsverfahren im jeweiligen Rechtszug verwiesen. Der Gegenstandswert ist nach billigem Ermessen zu bestimmen, beträgt aber mindestens 5.000 €.[76]
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(d) Eine auf nationaler Ebene oder vom Europarat gewährte Verfahrenshilfe (legal aid; Rules 100-105) wird stets in Abzug gebracht (§ 18 Satz 3 PD-JS). Zur Gewährung von Verfahrenshilfe vgl. Rn. 382.
516
Der Bf. hat die geltend gemachten Kosten durch detaillierte Rechnungen und Quittungen zu belegen (§ 21 PD-JS). Eine detaillierte Anwaltsrechnung („itemised fee note“) wird normalerweise ausreichen, um die Anwaltskosten zu belegen, nicht jedoch eine (Selbst-)Berechnung unter Berufung auf das RVG.[77]