Kitabı oku: «Die Vampirschwestern – Bissige Gäste im Anflug», sayfa 2
Wiedersehen macht Gänsehaut
Ludo Schwarzer saß in einem Sessel aus der Zeit des Biedermeiers. In dem Sessel hatte schon sein Ururopa gesessen. Ludos Fußspitzen berührten gerade so den Boden. Die Sessellehne umgab Ludos Kopf wie ein gigantischer Helm. Manchmal stellte sich Ludo vor, der Sessel wäre eine Kapsel, mit der er durch die Zeit reisen könnte. Er fühlte sich sehr wohl in dem alten Sessel.
„Und dann haben wir Helene noch den Flugparcours gezeigt“, sagte Daka. Sie hing kopfüber an der Gardinenstange im Fenster. Die Gardine hatte sich in ihren schwarzen Haarstacheln verfangen und sah aus wie ein Schleier.
„Und den Blutmarkt“, fügte Silvania hinzu. Sie lag wie eine Diva auf einem Diwan.
„Und das Theatnyk“, meldete sich Helene zu Wort, die auf einem Hocker saß und kippelte.
Ludo hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und nickte. Seit einer Stunde hörte er sich die Geschichten aus Bistrien an, die seine Freundinnen in den Ferien dort erlebt hatten. Er hatte von Oktavians Gruft, von eingelegten Ratten, vom Flug mit Pupsantrieb, von rotzenden Jungfrauen, vom Ha-Chi-Kampf und von Silvanias Saikato-Auftritt gehört. Langweilig war ihm keine Sekunde geworden, höchstens schwindlig.
„Und jetzt sag bloß nicht, du hast das alles vorausgesehen“, sagte Daka.
„Hätte ich das alles gesehen, wäre ich garantiert mitgekommen.“ Ludo sah auf seine Fingernägel und verzog das Gesicht. „Wenn mich meine Eltern gelassen hätten.“
Ludos Eltern waren gerade beim Kunstturmspringwettkampf von Fero. Fero war Ludos Bruder. Er war etwas älter und etwas sportlicher als Ludo. Ludos Eltern wussten nichts von dem vampwanischen Blut, das in den Adern von Ludos neuen Freundinnen floss. Von Ludos übernatürlichen Fähigkeiten wollten sie nichts wissen. Ludos Vater war Physiker. Er konnte alles mit den Naturgesetzen erklären. Sogar die Liebe. Ludos Mutter war Schreinerin. Sie glaubte an handfeste Sachen und an das, was sie sah.
„Dein Opa hätte dich bestimmt mit nach Transsilvanien fliegen lassen“, meinte Helene.
„Der wäre selbst mitgegflogen und gleich dortgeblieben“, sagte Ludo.
Ludos Opa hatte, genau wie Ludo, besondere Fähigkeiten. Er konnte durch Gegenstände sehen und hatte einen ausgeprägten Geruchssinn. So behauptete er zumindest. Nachweisen ließ sich das nur schwer. Immerhin hatte er vor Jahren einmal einen fünf Kilometer entfernten Waldbrand gerochen und bei einer Fleischwarenfachverkäuferin durch die Hose eine Zecke in der Kniekehle gesehen. Die Fleischwarenfachverkäuferin hatte dann allerdings mehr Angst vor Ludos Opa als vor der Zecke.
Mit zunehmendem Alter wurden diese Fähigkeiten leider immer schwächer. Wenn sich Zapko Schwarzer nicht gerade ein Experiment ausdachte, um den Rückgang seiner Fähigkeiten aufzuhalten, ging er seiner neuen Leidenschaft nach: dem Kochen und Backen. Das war auch ein Experiment.
Ludo hatte nur seinem Opa anvertraut, dass Silvania und Daka Halbvampire waren. Wobei Zapko Schwarzer schon etwas in der Art gerochen hatte.
„Wo wäre ich geblieben?“, fragte er, als er jetzt mit einem dampfenden Tablett ins Zimmer kam.
„Dort, wo kein Knoblauch wächst“, sagte Ludo und schielte mit gerunzelter Stirn auf das Tablett. Darauf lagen mehrere kleine braune, dampfende Häufchen.
Helene, die immer Hunger hatte und fünf Portionen Pommes hintereinander schaffte (mit Majo und Ketchup), reckte den Hals. „Kann man das essen?“
Zapko Schwarzer stellte das Tablett auf den Wohnzimmertisch. „Erdnuss-Muskat-Schwarzfußporling-Kartoffel-Maroni-Bucheckern-Pinien-Hallimasch-Sesam-Haufen.“
Daka und Silvania starrten mit offenem Mund auf das Tablett. Helene fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ludo sah seinen Opa ängstlich an.
„Ob man das essen kann, weiß ich auch nicht. Ein bisschen guten Willen müsst ihr schon aufbringen. Sie sind auf jeden Fall knoblauchfrei. Greift zu“, sagte Ludos Opa. „Und lasst euch von mir nicht stören.“ Er ging zu einem Regal und wühlte in einem Zeitschriftenstapel.
„Datiboi“, sagten Silvania und Daka.
„Manches kann man einfach nicht voraussehen“, murmelte Ludo und starrte auf die dampfenden Haufen.
Helene griff als Einzige nach einem Erdnuss-Muskat-Schwarzfußporling-Kartoffel-Maroni-Bucheckern-Pinien-Hallimasch-Sesam-Haufen. Sie hielt ihn sich vor die Nase und roch daran.
Plötzlich spürte Ludo einen Lufthauch. Zittrig und kalt, als würde ein Schneegestöber an ihm vorbeiziehen. Die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Ludos Pupillen weiteten sich vor Entsetzen. War er schon wieder da? Der Geist, der ihn seit ein paar Tagen verfolgte? Der sich ihm nie ganz zeigte und ihm den Schlaf raubte? Ludo versuchte, alle Geräusche um sich herum auszublenden und sich auf den geheimnisvollen Singsang zu konzentrieren, den der Geist meistens von sich gab. Doch heute blieb alles ruhig.
„Willst du gar nicht wissen, was es ist?“, riss ihn Daka aus den Gedanken.
„Was ist was? Doch, klar.“ Ludo richtete sich im Sessel auf und sah fragend zu seinen Freundinnen. Er hoffte, dass er nichts Entscheidendes verpasst hatte. Von seiner Tante wusste er, dass Frauen sehr empfindlich reagieren konnten, wenn man ihnen nicht zuhörte.
„Aaaalsooo“, begann Silvania. „Eigentlich sollte es eine Überraschung sein. Aber dann ist uns eingefallen, dass du ja sowieso voraussehen wirst, was es ist. Deswegen sagen wir es dir gleich.“
Helene hatte vom Erdnuss-Muskat-Schwarzfußporling-Kartoffel-Maroni-Bucheckern-Pinien-Hallimasch-Sesam-Haufen abgebissen und schluckte kräftig. Dann sagte sie: „Wir machen eine Nachtwanderung. Und zwar richtig schaurig-schön und unheimlich gruselig. Nichts für Memmen eben.“
„Mit Mitternachtspicknick“, fügte Daka hinzu.
„Aber nicht auf irgendeiner Terrasse“, sagte Silvania.
Daka und Helene schüttelten verschwörerisch den Kopf.
„Und auch nicht auf dem Friedhof.“
Abermals schüttelten Daka und Helene den Kopf.
„Sondern …“
Ludo kniff die Augen zusammen, er blähte die Backen auf, dann ließ er langsam die Luft heraus. „Ich sehe es“, schnaufte er. „Ein Mitternachtspicknick auf dem Gipfel des Knochenhügels.“
„GENAU!“, riefen Silvania, Helene und Daka.
„Ihr wollt auf den Knochenhügel?“, kam auf einmal die knorrige Stimme von Ludos Opa. „Um Mitternacht?“ Langsam ließ er seinen durchdringenden Blick über jeden einzelnen Gast im Wohnzimmer schweifen. „Das würde ich mir an eurer Stelle noch einmal gut überlegen.“
Daka hörte auf, an der Gardinenstange hin- und herzuschwingen.
Helene, die gerade wieder von ihrem Erdnuss-Muskat-Schwarzfußporling-Kartoffel-Maroni-Bucheckern-Pinien-Hallimasch-Sesam-Haufen abgebissen hatte, hielt im Kauen inne.
Silvania richtete sich auf dem Diwan auf. „Aber wieso? Riechen Sie etwas?“
„Dazu brauche ich meine Nase nicht.“ Zapko Schwarzer starrte aus dem Wohnzimmerfenster. In einer Fensterecke war ein Spinnennetz gespannt. Eine Fliege hatte sich darin verfangen und zappelte. „Wisst ihr denn nicht, woher der Knochenhügel seinen Namen hat?“
„Weil er aussieht wie ein Totenkopf?“, fragte Daka.
„Oder weil der abgestorbene Baum auf dem Gipfel wie eine Knochenhand aussieht?“, schlug Silvania vor.
Helene, die noch immer den Bissen im Mund hatte, brummte etwas Unverständliches.
Zapko Schwarzer betrachtete noch einen Moment die Fliege. Als sie sich nicht mehr bewegte, wandte er sich zu den Kindern. „Man erzählt sich, dass dieser Hügel an den nördlichen Ausläufern der Stadt einst Schauplatz eines grausamen Ereignisses war. Vor ungefähr vierhundert Jahren gab es den Hügel noch nicht. Dort, wo er sich heute erhebt, befand sich eine weite Ebene. Sie diente im Dreißigjährigen Krieg als Schlachtfeld. Es war ein grausamer Krieg, voller Hungersnöte, Seuchen und Gräuel. Unzählige Menschen ließen ihr Leben. Soldaten, Frauen, Kinder. Dieses Schlachtfeld muss ein furchtbarer Anblick gewesen sein. Nichts als Zerstörung, Leid und Elend. Einer jahrhundertealten Sage nach trugen die wenigen Überlebenden der Gegend die Leichen auf einen Haufen zusammen, der schnell zu einem Hügel anwuchs. Sie bedeckten die Toten mit Erde und pflanzten einen Baum auf den Gipfel. Dieser Hügel, so die Sage, sollte den Lebenden als Mahnung gelten. Im Volksmund wurde er Knochenhügel genannt. Der Name hat sich bis heute gehalten. Nur die Sage ist in Vergessenheit geraten.“
Als Zapko Schwarzer geendet hatte, sah er reglos vor sich hin.
Im Wohnzimmer war es mucksmäuschenstill.
Silvania biss sich auf die Unterlippe.
Helene, die noch immer den Mund voller Erdnuss-Muskat-Schwarzfußporling-Kartoffel-Maroni-Bucheckern-Pinien-Hallimasch-Sesam-Haufen hatte, bewegte nur die Pupillen hin und her.
Ludo kämpfte gegen die nächste Gänsehaut an.
Daka war so in der Erzählung von Ludos Opa versunken, dass sie gar nicht merkte, wie sie langsam von der Gardinenstange rutschte. Sie landete mit einem lauten Schrei samt Gardine in einer Palme, die vor dem Fenster stand. Sofort kam wieder Leben ins Wohnzimmer.
Ludo sprang auf und half Daka aus der Palme.
Silvania flopste sich zu ihrer Schwester und befreite sie aus der Gardine. Zur Sicherheit spuckte sie ihr dreimal auf den Ellbogen, mit dem sie in der Blumenerde gelandet war. Das half gegen Schmerzen. Es war zwar nicht wissenschaftlich bewiesen, aber jeder Vampir in Transsilvanien war davon überzeugt.
Helene hatte mittlerweile ihren Kekshaufen heruntergeschluckt. „Aber das ist doch nur eine Sage. Und selbst wenn sie stimmt, umso besser. Ein Hügel aus uralten echten Knochen – einen besseren Platz für ein Mitternachtspicknick gibt es doch gar nicht.“
Über Zapko Schwarzers hellblaue Augen huschte ein Schatten. „Ihr solltet die Mahnung der Überlebenden von damals nicht zu leicht nehmen. Dies war ein Ort des Grauens. Und er wird es für immer bleiben.“
Ludo drehte sich zu seinem Großvater um und musterte ihn eindringlich. Er wusste in dem Moment, dass er recht hatte.
Fallobst aus Transsilvanien
Seine blonden Locken waren feucht, verklebt und vom Flugwind nach hinten geweht. Seine Hände waren rot und eiskalt. Dirk van Kombast hatte Angst, die Finger könnten abbrechen, wenn er sie bewegte. An seiner Nase hing ein vereister Tropfen. Doch der Vampirjäger wagte es nicht, die Schultern von Urio Transgoliato auch nur eine Sekunde loszulassen, um den Tropfen wegzuwischen. Nicht, solange die Straßen unter ihnen wie winzige Regenwürmer aussahen. Seine Zähne klapperten. Seine Nasenflügel bebten. Vor allem, wenn Urio Transgoliato eine dunkelblaue Wolke ausstieß.
Dirk van Kombast stiegen vor Freude die Tränen in die Augen, als er nach ungefähr 1500 Flugkilometern von Weitem die Lichter von Bindburg erkannte. Die Großstadt breitete sich am Rand eines kleinen Gebirgszugs aus. In der kohlrabenschwarzen Nacht glänzte sie wie ein goldener Teppich. Noch nie war Dirk van Kombast die Stadt, in der er wohnte, so schön vorgekommen. Die Lichter funkelten verheißungsvoll, wie Kerzen am Weihnachtsbaum. Sie kündeten von Leben und Menschen. Normalen Menschen. Menschen, die tagsüber arbeiteten und nachts schliefen. Die zweimal am Tag Zähne putzten, zweimal die Woche einkauften und zweimal im Jahr zum Zahnarzt gingen. Menschen, die nichts von den blutrünstigen Wesen in ihrer unmittelbaren Nähe wussten. Die ernsthaft glaubten, Vampire gäbe es nur in Büchern, Filmen und Kinderköpfen. Manchmal wünschte sich Dirk van Kombast, er wäre einer von ihnen. Er könnte arglos durchs Leben taumeln. Statt sich nachts an schauerlichen Orten auf die Lauer zu legen oder im Verborgenen an Knoblauch-Spezialwaffen zu basteln, könnte er einen Töpferkurs machen. Oder einen Steingarten anlegen. Oder die Verkäuferin mit den rotblonden Haaren und den olivengrünen Katzenaugen von Kasse vier im Bio-Supermarkt auf einen Mango-Lassi einladen.
All das könnte Dirk van Kombast tun – müsste er nicht seine Mutti rächen und die Menschheit vor einer Unterwanderung durch die Vampire bewahren. Dirk van Kombast war ein pflichtbewusster und zielstrebiger Mann. Er ließ niemanden im Stich und gab niemals auf. Selbst, wenn er sich auf dem Rücken des Feindes in sieben Kilometer Flughöhe befand und weit und breit keine Knoblauchzehe in Sicht war.
„Dort ist es“, sagte Dirk van Kombast und zeigte auf die Lichter der Stadt. „Bindburg. Dort wohnt Helene Steinbrück.“
Urio Transgoliato stieß anstelle einer Antwort eine dunkelblaue Wolke aus und ging langsam in den Sinkflug über.
Dirk van Kombast klammerte sich mit den Armen um den Hals des Vampirs und mit den Beinen um seine Hüften. Er sah, wie die Lichter der Großstadt immer näher kamen und sich in einzelne Gebäude verwandelten, wie aus Regenwürmern Straßen wurden und aus Käfern Autos. Er erkannte die fünf großen Türme des Rathauses, sogar die Ritterstatue auf dem höchsten Turm. Würde er nicht gerade auf dem Rücken eines gigantischen, blutrünstigen Wesens sitzen, hätte er gerne einen Stadtrundflug gemacht.
„Wohin jetzt, Puschel?“, dröhnte der gewaltige Vampir.
Dirk van Kombast spürte jede einzelne Silbe auf dem Rücken wie ein Erdbeben. Sein Herz galoppierte vor Schreck. „Dort entlang“, erwiderte er mit klappernden Zähnen. „Zum nördlichen Rand der Stadt.“ Er leitete Urio Transgoliato zur Reihenhaussiedlung und in den Lindenweg. Hätte ihm vor einer Woche jemand gesagt, dass er auf dem Rücken eines ausgewachsenen Vampirs aus Transsilvanien nach Hause kehren würde, hätte er der Person lächelnd auf die Schulter geklopft und ihr geraten, es mal mit mehr Obst zu versuchen.
Noch war er nicht zu Hause. Sie flogen gerade geräuschlos über die Dächer des Lindenwegs hinweg. In den meisten Häusern brannte kein Licht oder die Rollläden waren heruntergelassen. Ein gescheckter Hund trippelte über die verlassene Straße. Er hob den Kopf und sah zum Himmel. Als Urio Transgoliato sich mit ausgebreiteten Armen und bestialischem Grinsen vor den Mond schob, zog der Hund den Schwanz ein, duckte sich und rannte schnell zu einem Auto, unter dem er verschwand. Es war ein silberner Sportwagen. Er stand vor dem Reihenhaus Nummer 21.
„Hier“, sagte Dirk van Kombast und zeigte auf das Reihenhaus.
Urio Transgoliato flog über dem Haus eine Runde. „Da wohnt sie?“
Dirk van Kombast schluckte einen Angstknödel herunter, der ihm im Hals steckte, seit sie die Lichter der Großstadt gesehen hatten. Erst da war ihm klar geworden, dass es ein kleines Problem gab. Für den übergroßen Vampir war es aber womöglich ein übergroßes Problem. Dirk van Kombast wusste nicht, wo Helene Steinbrück wohnte. „Äh … nein. Da wohne ich.“
Kaum hatte Dirk van Kombast das gesagt, war er in eine tiefdunkelblaue Wolke eingehüllt. Der Vampirjäger hatte das Gefühl, als hätte jemand eine Tüte mit fünf Wochen altem Biomüll über seinen Kopf gestülpt. Er hustete. Er würgte. Er flehte den Vampir an: „Aber gleich nebenan, im Haus Nummer 23, da ist sie manchmal. Also, sehr oft. Genau genommen fast jeden Tag. Was sage ich, ständig. Helene Steinbrück ist so gut wie eingezogen bei den Tepes.“
„FUMPFS! WO WOHNT SIE?“ Urio Transgoliatos Stimme donnerte so laut, dass die Rollläden wackelten und im Vorgarten von Frau Zicklein im Reihenhaus Nummer 18 eine Topfpflanze umfiel. „Und KEINE SPIELCHEN, Puschel!“
Auf Dirk van Kombasts Ohren stellten sich feine Härchen auf, von deren Existenz er bis dahin noch gar nichts gewusst hatte. „Ich … ich … ich weiß es nicht.“
Urio Transgoliato stieß einen durchdringenden, gellenden Schrei aus. Es klang, als würden zwanzig Vampire mit ihren achtzig Eckzähnen an einer Schultafel entlangschaben. Frau Zicklein, die durch die nächtlichen Geräusche alarmiert worden war, schloss das Fenster gleich wieder, als sie den Schrei hörte.
„Bitte, Herr Transgoliato, beruhigen Sie sich. Ich bin sicher, Sie werden Helene Steinbrück bald im Lindenweg Nummer 23 antreffen.“ Dirk van Kombasts Stimme klang wie die eines neunjährigen Chorknaben. „Wenn Sie jetzt die unwahrscheinliche Güte besäßen, mich freundlichst und sanft auf der Erde abzusetzen. Es war ein wunderbares Flugerlebnis, wirklich, ganz ausgezeichnet, aber auch der schönste Flug ist einmal irgendwann zu Ende. Sie sind sicher ganz erschöpft und wollen vielleicht eine Kleinigkeit essen … äh, nein, ich meinte natürlich, sich ausruhen nach dem langen Flug, die Arme ausschütteln und …“
Weiter kam Dirk van Kombast nicht. Urio Transgoliato flog mit einem Satz über das Dach des Reihenhauses und legte über dem kleinen Hintergarten des Vampirjägers eine Vollbremsung hin. Dann blieb der Vampir kopfüber in der Luft stehen.
Dirk van Kombast nicht. Durch die Vollbremsung wurde er nach vorne geschleudert, hielt sich eine Sekunde am Mantelkragen des Vampirs fest, dann eine Sekunde an einem kräftigen Nasenhaar, dann …
… fiel er …
… im Steilflug …
… direkt …
… nach …
… unten.
„Keiner treibt ungeschoren Spielchen mit URIO TRANSGOLIATO! Krötz jobju suchoi murja!“, hörte Dirk van Kombast noch im Fallen.
KNACK.
WOMMS.
RUMMS.
Für ein paar Sekunden wurde es so finster, wie es in keiner Nacht sein kann. Dann flimmerte etwas vor Dirk van Kombasts Augen. Erst meinte der Vampirjäger, Sterne zu sehen. Dann erkannte er, dass es Äpfel waren. Reife, verfaulte, verbeulte Äpfel. Überall um ihn herum. Sah so der Himmel aus?
Auf einmal knackte etwas. Im ersten Moment dachte der Vampirjäger, es wären seine Knochen. Dann erkannte er, dass er auf einem Ast saß. Da war es allerdings schon zu spät. Dirk van Kombast krachte nach unten. Samt Ast und ein paar verfaulten Äpfeln.
Er schrie zehn Sekunden lang. Vor Angst. Und vor Schmerz. Erst spürte er ihn am Ellbogen, dann am Rücken und schließlich im Bein.
Er schrie noch mal zehn Sekunden.
Auf einmal bemerkte er, dass am Zaun zum Nachbargarten jemand stand. Es war weder ein Gartenzwerg noch ein Riesenvampir. Es war Frau Zicklein. Sie trug ein rotes, knielanges Nachthemd und hatte die rosafarbene Schlafmaske, auf der in Schnörkelschrift Sleeping Beauty stand, in die Haare geschoben.
Wenn Frau Zicklein nicht gerade nachts im Nachthemd am Gartenzaun stand, war sie alleinerziehende Mutter und Filialleiterin und hatte viel um die Ohren. Sie sah ihren Nachbarn von Reihenhaus Nummer 21 nicht oft. Aber so hatte sie ihn noch nie gesehen. Der sonst so charmante, gut gebräunte Mann saß reichlich blass und verdattert unter einem Apfelbaum. In seinem Pullover steckten kleine Zweige mit Blättern. Um ihn herum und auf seinem Schoß lag Fallobst. Ein verfaulter Apfel war auf seinem Kopf in zwei Hälften zersprungen.
Dirk van Kombast versuchte zu lächeln. „Herrliche Nacht, nicht wahr?“, brachte er unter Schmerzen hervor.
Frau Zicklein sah ihn ausdruckslos an. Dann nickte sie langsam. Vielleicht hatte der Pharmavertreter im Selbstversuch neue Pharmaka ausprobiert, deren Wirkung äußerst umstritten war.
Dirk van Kombast versuchte aufzustehen. Er hatte das Gefühl, jemand würde ihm mit einem Schwert von der Fußsohle bis zum Knie durch die Knochen fahren. Er schrie abermals auf und fiel zu Boden. Beziehungsweise auf das Fallobst.
Frau Zicklein war bereits über den Zaun geklettert und rannte auf den vor Schmerzen schreienden Nachbarn zu. „Warten Sie, ich helfe Ihnen.“ Sie kniete sich neben ihn und tastete das Bein ab.
Dirk van Kombast jaulte auf.
„Gebrochen. Ganz sicher. Ich rufe einen Krankenwagen. Brav sein und nicht vom Fleck rühren, verstanden?“, sagte sie und verschwand über den Zaun ins Nachbarhaus.
Selbst wenn Dirk van Kombast gewollt hätte, hätte er sich nicht vom Fleck rühren können. In seinem rechten Bein hämmerte der Schmerz. In seinem Kopf irrten die Gedanken hin und her, kreuz und quer, wie Billardkugeln nach dem Anstoß.
Ihm war die Flucht aus dem transsilvanischen Gefängnis gelungen. Er war wieder zu Hause. Wie der Agent in seinem Buch hatte er seine Informationen gut ausgespielt. Nein. Er war noch viel größer als der Agent im Buch: Er hatte mit Informationen gehandelt, die er gar nicht besaß. Er wusste nicht, wo Helene Steinbrück wohnte. Trotzdem hatte ihn der Riesenvampir nach Hause geflogen.
Gerne hätte Dirk van Kombast Frau Zicklein davon berichtet. Dieser Flug war ein sensationelles Abenteuer gewesen. Nur die Landung war nicht ganz so sensationell. Dennoch schrie die ganze Geschichte nach einem Publikum. Aber nach den Erlebnissen mit der rumänischen Polizei war er schlauer. Er durfte seine Deckung nicht wieder so schnell aufgeben. Sonst würde er nicht als Held in den Geschichtsbüchern, sondern als armer Irrer in der geschlossenen Anstalt landen. Genau wie seine Mutter. Ereilte ihn dieses Schicksal, würde womöglich die gesamte Menschheit eines Tages vor die Vampire gehen.
Unter Schmerzen hob Dirk van Kombast den Kopf und sah durch die Äste des Apfelbaums zum Himmel. Was wollte Urio Transgoliato von Helene Steinbrück? Wieso gerade sie, die beste und einzige Freundin der Vampirschwestern? Hatte es etwas mit Familie Tepes zu tun? Betrieben die Vampire untereinander so etwas wie Frischbluthandel? Vielleicht, überlegte der Vampirjäger, hatte Helene eine besonders schmackhafte Blutgruppe. Vielleicht hatte sie aber auch nur etwas bei ihrem Besuch in Transsilvanien vergessen und Herr Transgoliato brachte es ihr.
Es gab zu viele Vielleichts und zu viele Fragen. Wie so oft im Leben eines Vampirjägers hieß es abwarten, beobachten, erst dann eingreifen. Dirk van Kombast seufzte. Der Himmel über der Reihenhaussiedlung war tiefblau und vampirleer. Auch er gab keine Antworten.
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