Kitabı oku: «Old Shatterhand, das bin ich», sayfa 2
Jene Person, die auf das Kind und die Entwicklung seiner »mächtigen Innenwelt« den wesentlichsten Einfluss genommen hat, dürfte seine Großmutter mütterlicherseits, Johanne Christiane Kretschmar, die »Hohensteiner« Großmutter, gewesen sein. May schildert sie als »eine arme ungebildete Frau, aber trotzdem eine Dichterin von Gottes Gnaden«. In seinen Lebenserinnerungen heißt es: »Großmutter erzählte eigentlich nicht, sondern sie schuf; sie zeichnete; sie malte; sie formte. Jeder, auch der widerstrebendste Stoff gewann Gestalt und Kolorit auf ihren Lippen. Und wenn zwanzig ihr zuhörten, so hatte jeder einzelne von den zwanzig den Eindruck, daß sie das, was sie erzählte, ganz allein für ihn erzähle. Und das haftete; das blieb. Mochte sie aus der Bibel oder aus ihrer reichen Märchenwelt berichten, stets ergab sich am Schluß der innige Zusammenhang zwischen Himmel und Erde, der Sieg des Guten über das Böse und die Mahnung, daß alles auf Erden nur ein Gleichnis sei, weil der Ursprung aller Wahrheit nicht im niedrigen, sondern nur im höheren Leben liegt. Ich bin überzeugt, daß sie das nicht bewußt und in klarer Absicht tat; dazu war sie nicht unterrichtet genug, sondern es war angeborene Gabe, war Genius und der erreicht bekanntlich das, was er will, am sichersten, wenn man ihn weder kennt noch beobachtet.« (ebenda, S. 29)
Zweifellos haben wir in der Großmutter eines jener mündlichen Erzählgenies vor uns, wie sie sich vor allem auch in Deutschland bis ins 19. Jahrhundert dadurch erhalten haben, dass mündliches Erzählen über viele Generationen hin die Abendunterhaltung der Unterschicht war.
Gewiss kann man in der Hohensteiner Großmutter das Vorbild für die einzige wirklich überragende Frauengestalt in Mays Romanen sehen: Marah Durimeh, jene Gestalt, die ihm als Verkörperung der Weltseele gilt. Während die anderen Frauen meist nach Klischees des Zeitgeschmacks gezeichnet sind und seltsam blass und leblos bleiben, wird mit Marah Durimeh gewissermaßen eine Frau mit Charisma entworfen, entsprechend dem Archetypus der »weisen Alten«.
Viele Geschichten der Großmutter, so Karl May, stammten aus einem Buch mit dem orientalischen Titel:
Der Hakawati in Asia, Africa, Turkia, Arabia, Persia und India sampt eyn Anhang mit Deytung, explanation und interpretation, auch viele Vergleychung und Figürlich seyn von Christianus Kretzschmann
Der aus Germania war.
Gedruckt von Wilhelmus Candidus
A.D.: M.D.C.V.
Enthalten in dieser Märchensammlung war auch Das Märchen von Sitara, dessen Botschaft – Überwindung des Gewalt- und Übermenschen hin zum Edelmenschen - zum Kerngedanken in Mays Alterswerk werden sollte.
Jeder, der noch der Generation angehört, in der Kinder Märchen vorgelesen bekamen, kann sich an solche Zauberbücher der kindlichen Phantasie erinnern, wie es das Märchenbuch der Großmutter gewesen sein muss.
Wegen der weit reichenden Konsequenzen, die die Lektüre dieses Buches für das Werk Karl Mays gehabt hat, hat sich natürlich die Forschung stark dafür interessiert, die genaue Identität des Buches festzustellen. 1933 kommt der aus Greifswald stammende Volkskundler L. Darnedde bei seinen Nachforschungen zu folgendem Ergebnis:
»Auf den ersten Blick könnte der Titel für ein Buch aus dem Jahr 1605 durchaus richtig sein. Allerdings wirkt der Zusatz ›der aus Germania war‹ wirklich störend. Allerdings würde der angeführte Titel allein noch nichts Ausschlaggebendes gegen ein Vorhandensein dieser Märchensammlung besagen. Nun aber schrieb May den Abschnitt seiner Biographie, aus dem dieses Zitat stammt, im Jahre 1910 nieder. Wie konnte er in diesem Jahr einen Titel noch mit wörtlicher Genauigkeit wiedergeben, den er in seiner Kindheit (also in den Jahren 1845-50) gehört hatte? Nur eins ist da möglich: May muss noch im Jahre 1910 das zitierte Buch in seiner Bibliothek besessen haben. Der am meisten Erfolg versprechende Weg war also eine Nachfrage bei der Nachlassbibliothek Mays. Eine dahingehende Anfrage beim Karl-May-Verlag wurde folgendermaßen beantwortet: ›Karl May hat eine eigene und sehr umfangreiche Bibliothek (etwa 2500 Bände) hinterlassen, die sich in der Villa Shatterhand in Radebeul befindet. Das gefragte Buch Der Hakawati ist leider verschollen. Wir (d.h. der Verlag) haben bereits jahrelang bei allen deutschen Büchereien nach diesem Werk geforscht. Nichts lässt sich darüber ermitteln, obwohl der Dichter gerade zu diesem Buch sehr genaue Angaben in der Bibliografie macht.‹
Eine weitere Rundfrage durch das Auskunftsamt der deutschen Bibliotheken war gleichfalls erfolglos. Es ist wohl nicht zu viel, wenn daraus der Schluss gezogen wird, dass May im Jahre 1910 das fragliche Buch kaum besessen hat. Gerade aus der Genauigkeit der Titelangabe folgt dann aber weiter, dass dieser Titel höchstwahrscheinlich von May selbst konstruiert wurde.«11
Der den Fall untersuchende Volkskundler stolperte vor allem über den Zusatz »der aus Germania«. Den verräterischen Hinweis, dass das Buch ganz einfach erfunden ist, liefert jedoch May in seiner Autobiografie selbst.
»Er bringt nämlich in seiner Kindheitsgeschichte ein Märchen mit der Behauptung, dass dieses Märchen von seiner Großmutter bei ihren Erzählungen aus dem Hakawati stets bevorzugt worden sei. Dieses so genannte Märchen, betitelt Das Märchen von Sitara ist ein Erzählgebilde, das in keiner Weise etwas mit dem Begriff ›Märchen‹ zu tun hat. Es entspricht weiterhin weder dem kindlichen Fassungsvermögen noch dem Bildungshorizont der Erzählerin, wie es Mays Großmutter gewesen sein muss. [...] Dass dieses so genannte Märchen in Beziehung zu Mays Schaffen überhaupt steht und nicht in der Kindheit gehörte Erzählung ist, beweist auch die Einfügung der dichterischen Beschreibung der Geisterschmiede aus [Mays Drama] Bibel und Babel in dieses ›Märchen‹. Und wie May, der Proletariersohn, sein Leben lang nach dem Ideal des Edelmenschen strebte, wie er in allen seinen Werken dieses Ideal in oft sehr krasser Schwarzweiß-Manier zeichnete, sei es als Kara Ben Nemsi, als Winnetou oder Old Shatterhand, so hat er auch in diesem ›Märchen‹ lediglich seine stark dualistische Weltanschauung symbolisiert. Als nichts weiter als das ist Das Märchen von Sitara zu werten.«12
Inzwischen ist die Karl-May-Forschung noch ein Stückchen weiter. Wir wissen von Samia Al Azharia, der Herausgeber in eines Bandes Arabische Märchen, dass »Hakawati« in Syrien die Bezeichnung für einen nicht beruflichen Märchenerzähler ist. Nimmt man hinzu, dass Karl May 1899 auf seiner großen Orientreise auch Syrien berührt hat, so wäre dies vielleicht eine Spur, wie er auf dieses Wort als Titel für besagtes Märchenbuch verfallen ist.
Auf die nächstliegende Erklärung scheint die Forschung nicht verfallen zu sein. Der Name des Verfassers des Märchenbuches Christianus Kretzschmann ist nahezu identisch mit dem der Großmutter Johanne Christiane Kretschman.
Man sieht an diesem Beispiel, wie schwierig es sein kann, die May'schen Privatmythen bis zu ihrer Entstehung hin zu verfolgen. Zudem ist dieser Fall ein gutes Beispiel dafür, welche penible Forschungsarbeit, meist angestoßen von den in der Karl-May-Gesellschaft versammelten begeisterten Lesern des Autors, inzwischen geleistet worden ist. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Selbst noch die entlegenste Einzelheit in Leben und Werk ist durch das Vergrößerungsglas betrachtet worden.
Im Jahr 1851 sieht der neunjährige Karl May zwei Puppenspiele: Das Müllerröschen oder die Schlacht bei Jena und Dr. Faust oder Gott, Mensch und Teufel. Diese Erlebnisse und seine Mitwirkung bei einer Theateraufführung nach der Erzählung Preziosa von Pius Alexander Wolf (1782-1828) dürften bei ihm die Lust zum Fabulieren, aber auch den Wunsch, anderen zu helfen, geweckt haben.
»Kurze Zeit darauf lernte ich Stücke kennen, die nicht von der Volksseele, sondern von Dichtern für das Theater geschrieben worden waren, und das ist der Punkt, an dem ich auf meine Trommel zurückzukommen habe. Es ließ sich eine Schauspielertruppe für einige Zeit in Ernstthal nieder. Es handelte sich also nicht um Puppen-, sondern um wirkliches Theater. [...] Die Künstler fielen in Schulden. Dem Herrn Direktor wurde himmelangst. Schon konnte er die Saalmiete nicht mehr bezahlen, da erschien ihm der Retter, und dieser Retter war — ich. Er hatte beim Spaziergang meinen Vater getroffen und ihm seine Not geklagt. Beide berieten. Das Resultat war, daß der Vater schleunigst nach Hause kam und zu mir sagte: ›Karl, hole deine Trommel herunter, wir müssen sie putzen. [...] du bist der Tambour und bekommst blanke Knöpfe und einen Hut mit weißer Feder. Das zieht die Zuschauer herbei. Es wird bekannt gemacht.« (Leben und Streben, S. 59)
Der neunjährige Karl May als Trommler für die in Not geratene Kunst! Als Helfer der Bedrängten. Wie oft werden die Helden in seinen Romanen in dieser Rolle auftreten!
Mit Freude erinnert sich Karl May später zurückblickend an den ihm von Kantor Strauch kostenlos erteilten Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Auch in die Volksschule geht der Junge gern, er gilt dort anscheinend als besonders begabt. Dies hat jedoch zur Folge, dass der Vater höher mit ihm hinauswill und ihn – statt ihm zu erlauben, mit anderen zu spielen – ganze Bücher abschreiben lässt und darauf drängt, er soll schon jetzt Latein, Englisch und Französisch lernen.
Todesfälle sind in der Familie häufig. 1851 stirbt Karl Mays Großmutter Friederike Weise, im selben Jahre am 20. September der erst im April geborene Bruder, 1852 stirbt die zwei Wochen alte Schwester Anna Henriette. Im Mai 1854 kommt abermals ein Bruder zur Welt, der jedoch schon im August stirbt. Elf Monate später gebiert die Mutter wiederum einen Jungen. Auch er lebt nicht länger als knapp vier Monate.
Die materielle Situation in der Familie ist und bleibt in all den Jahren schwierig. Achtzig Arbeitsstunden in der Woche muss ein Weber leisten, um die Existenz seiner Familie wenigstens notdürftig zu sichern.
Wie bedrückend die Not der Familie May ist, geht allein aus dem Speisezettel hervor: Suppen aus Kartoffelschalen; überbrühter Lattich, am Wegrand gepflückt; Mahlrückstände aus einer Mühle; vertrocknete Brötchen, die der Bäcker nicht mehr zum normalen Preis verkaufen kann und billiger abgibt.
Vor Elend und Tod flüchtet sich Karl ins Lesen. Dass Lesen bildet, davon kann in diesem Fall keine Rede sein. Die ferne Welt, die der Junge lesend aufnimmt, stürzt ihn in Verwirrung: 1854 will der Zwölfjährige, dazu angeregt von einem Auswandererzug in die Vereinigten Staaten, Englisch lernen - eine Sprache, die er ebenso wenig beherrschen wird wie die vierzig anderen Sprachen, die er später zu sprechen vorgibt! Das Geld für den Sprachunterricht verdient er sich als Kegeljunge in der Hohensteiner Schankwirtschaft Engelhardt.
In ebendieser Wirtschaft betreibt die Frau des Wirtes eine Leihbibliothek mit immerhin 1540 Bänden. Zum Bestand gehören unter anderem Eugène Sues Die Geheimnisse von Paris und Alexandre Dumas' Der Graf von Monte Christo.
»Und doch gab's in dieser Schankwirtschaft ein noch viel schlimmeres Gift als Bier und Branntwein und ähnliche böse Sachen, nämlich eine Leihbibliothek und zwar was für eine! Niemals habe ich eine so schmutzige, innerlich und äußerlich geradezu ruppige, äußerst gefährliche Büchersammlung wie dies war, nochmals gesehen. Sie rentierte sich außerordentlich, denn sie war die einzige, die es in beiden Städtchen gab. [...] Wenn ich zum Kegelaufsetzen kam und noch keine Spieler da waren, gab mir der Wirt eines dieser Bücher, einstweilen darin zu lesen. Später sagte er, ich könne sie alle lesen, ohne dafür zu bezahlen, und ich las sie, ich verschlang sie; ich las sie drei-, viermal durch! Ich nahm sie mit nach Haus. Ich saß ganze Nächte lang, glühenden Auges über sie gebeugt. Vater hatte nichts dagegen. Niemand warnte mich, auch die nicht, die gar wohl verpflichtet gewesen wären, mich zu warnen. Sie wußten gar wohl, was ich las; ich machte kein Hehl daraus. Und welche Wirkung das hatte! Ich ahnte nicht, was dabei in mir geschah. Was da alles in mir zusammenbrach. Daß die wenigen Stützen, die ich, der seelisch in der Luft schwebende Knabe, noch hatte, nun auch noch fielen, eine einzige ausgenommen, nämlich mein Glaube an Gott und mein Vertrauen in ihn.« (ebenda, S. 59)
Freude ist selten, Freude macht es ihm, wenn sein Pate, der Schmied Christian Friedrich Weißpflug, von seinen Reisen in ferne Länder erzählt. Freude und Schauder bereiten ihm gewiss auch Bücher aus der Hohensteiner Leihbibliothek. Schundromane sind das zumeist, an die seine Feinde später mit dem Hinweis erinnern werden, hier sei der Grundstock für seine Kriminalität gelegt worden.
Die ersten literarischen Versuche Mays fallen in diese Zeit. 1853 gründete der Verleger Ernst Keil die Wochenzeitschrift Die Gartenlaube, die rasch beim Publikum sehr beliebt wurde und sich einer großen Verbreitung erfreute. Um das Jahr 1858 will May schon seine ersten Indianergeschichten zusammen mit einem langen Brief an den Verleger Keil geschickt haben, der sich immerhin die Mühe machte, die Versuche durchzusehen und den angehenden Autor, den er durchaus in dem Jungen sah, vor übertriebenen Erwartungen zu warnen. In weiteren fünf Jahren, so hieß es in dem Antwortbrief, sei er vielleicht so weit, dass man wieder einmal über eine Veröffentlichung reden könne.
Nach der Lektüre des Räuberromans Rinaldo Rinaldini von Goethes Schwager Vulpius läuft der vierzehnjährige Karl aus dem Elternhaus fort. Er hinterlässt einen Zettel, auf dem steht: »Ihr sollt nicht blutig arbeiten, ich gehe nach Spanien und hole Hülfe.« Er kommt in einem Tag bis Zwickau, wo er Verwandte aufsucht. Gerührt holt ihn der Vater dort wieder ab. »Der Weg betrug fünf Stunden. Wir sind in dieser Frist still nebeneinander hergegangen; er führte mich an der Hand. Nie habe ich deutlicher gefühlt, wie lieb er mich eigentlich hatte. Alles, was er vom Leben wünschte und hoffte, das konzentrierte er auf mich. Ich nahm mir heilig vor, ihn niemals wieder solches Leid, wie das heutige, an mir erleben zu lassen. Und er? Was mochten das wohl für Gedanken sein, die jetzt in ihm erklangen? Er sagte nichts. Als wir nach Hause kamen, mußt ich mich niederlegen. [...] Von meinem Ausflug nach Spanien wurde nie ein Wort gesprochen.« (ebenda, S. 98)
Zu Ostern wird Karl konfirmiert. Er träumt davon, Arzt zu werden. Ärzte werden in seinen Geschichten eine wichtige Rolle spielen: Kara Ben Nemsi wird in Kairo im Harem als Arzt tätig werden. Aber Arzt, das ist zu hoch gegriffen. Begabung und gute Zeugnisse sind nicht ausreichend. Der für Söhne aus armer Familie gerade noch erreichbare Beruf in der Gruppe der »Studierten« ist der des Volksschullehrers. Auch diesen Berufsweg kann Karl May nur einschlagen, weil der Kirchenpatron, der Graf von Hinterglauchau, den Jungen, der nun auf das Lehrerseminar nach Waldenburg kommen soll, mit jährlich 20 Talern zu unterstützen verspricht.
II. Einer soll Lehrer werden
»Warum gibt es so viele Verlorene?
Sie müssen verloren gehen, weil man ihnen schon den ersten, kleinen Fehltritt nicht verzeiht.«
Karl May, Im Reiche des Silbernen Löwen IV
Im September 1856 besteht Karl May die Aufnahmeprüfung zum Lehrerseminar. Er ist an seiner neuen Ausbildungsstätte alles andere als zufrieden. Die Atmosphäre an der Lehrerbildungsanstalt ist pedantisch nüchtern und reaktionär. In der Demokratiebewegung des Jahres 1848 waren viele Lehrer engagierte Demokraten. Dem versucht man entgegenzusteuern. Eine bessere Bildung der unteren Volksschichten soll verhindert, demokratische Umtriebe und liberale Ideen schon im Ansatz unterbunden werden. Derlei Grundsätze gelten nicht nur für Preußen, sondern auch im Königreich Sachsen. »Restaurative Einstellung, systemtreue Frömmigkeit und staatserhaltende Anpassung wurden folglich goutiert und gefördert«, schreibt Wohlgschaft.13
Mays Kritik ist unpolitisch, er murrt vor allem über die Art und Weise, in der religiöse Fragen am Seminar behandelt werden, und Theologie und Religionsunterricht nehmen im Lehrplan einen breiten Raum ein. In der Haus- und Lebensordnung für das Schullehrer-Seminar in Waldenburg heißt es dazu: »Der Seminarzögling soll, eingedenk des von ihm gewählten Berufes, wie zu allen Zeiten, so auch während der Dauer seines Aufenthalts im Seminar, eines christlichen frommen Sinns sich befleißigen. Dieser Sinn wird sich kundgeben in andächtiger Theilnahme an den täglichen Hausandachten und am öffentlichen Gottesdienste, in würdiger Begehung der Abendmahlsfeier, in Vermeidung alles Sittlich-Unlauteren, in Gedanken, Worten und Handlungen, in Gehorsam gegen die Lehrer, in pünktlicher Befolgung der Anstaltsordnungen, in einem verträglichen, milden und gefälligen Verhalten gegen die Mitschüler, in einem bescheidenen, anspruchslosen und aufmerksamen Betragen gegen die übrigen Hausbewohner und gegen Fremde.«
Der Tageslauf scheint frei nach dem englischen Sprichwort »Early to bed and early to rise, make a man healthy, wealthy and wise« festgelegt worden zu sein. Man stelle sich die Reaktion eines heutigen Schülers oder Studenten vor, dem man Folgendes vorschreiben würde:
»§ 9 [...] Im Seminar wird an den Wochentagen um früh ½ 5, im Winter um 5, sonntags im Sommer um 5, im Winter um 6 Uhr aufgestanden. Nach der Abendandacht hat sich jeder Zögling bis ¾ 10 Uhr zu Bett zu begeben.
§ 10. Der Seminarist hat nach dem Aufstehen sein Bett zu machen, sich zu waschen, die Zähne zu reinigen, die Haare zu kämmen und sich vollständig anzukleiden. In den Früh- und Abendstunden des Winters dürfen warme Schuhe und ein schlafrockähnliches Oberkleid getragen werden; zu jeder anderen Zeit muss der Zögling mit Stiefeln oder Lederschuhen und mit Rock und Jacke, bei der Frühandacht am Sonntag mit Sonntagskleidern angethan sein.
§ 11. Das Schuhwerk und die Alltagskleider werden gleich nach dem ersten Frühstück, die Kleider und Stiefel für den Sonntag während der frühen Nachmittagsstunden des Sonnabends gereinigt. Reinigungsort ist im Sommer der Hof, im Winter der untere Hausflur.
§ 12. Im Sommer wird einige Mal in der Woche an einem sicheren Orte des Muldeflusses gebadet. Der die Tagesinspection führende Seminarleiter oder ein Hülfslehrer begleitet die Zöglinge. Im Winter wird von Zeit zu Zeit eine Hauptreinigung des Körpers in einem dafür eingerichteten Zimmer vorgenommen. Die hierfür zu beobachtende Ordnung wird vom Director näher bestimmt.«
Insbesondere der »hölzern pedantische« Ton, in dem diese Bestimmungen abgefasst sind, gibt einen Eindruck davon, wie autoritär der Alltag im Lehrerseminar reglementiert war. Mir fallen dazu Heinrich Heines Verse aus Deutschland, ein Wintermärchen ein, die da lauten:
»Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer der rechte Winkel,
In jeder Bewegung im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.
Sie stelzen noch immer so steif herum,
So kerzengerade geschniegelt,
Als hätten sie verschluckt den Stock,
Womit man sie einst geprügelt ...«14
Dies ist eine Beschreibung von Soldaten des preußischen Militärs 1844. Das Seminar muss eine gute Vorschule für den Militärdienst gewesen sein:
»§ 39. Des Sonntags darf der Seminarist außer der Stadt befindliche anständige Wirtschaften besuchen und sich hier Bier und Milch zu seiner Erquickung reichen lassen. Der Genuss spirituöser Getränke ist, sowie Kartenspiel und Kegelspiel um Geld, verboten. An den Wochentagen darf keine Wirthschaft besucht werden.«15
Karl May selbst erlebte den Alltag im Seminar so: »Es gab täglich Morgen- und Abendandachten, an denen jeder Schüler unweigerlich teilnehmen mußte. Das war ganz wichtig. Wir wurden sonn- und feiertäglich in corpore in die Kirche geführt. Das war ebenso richtig. Es gab außerdem bestimmte Feierlichkeiten für Missions- und ähnliche Zwecke. Auch das war gut und zweckentsprechend. Und es gab für sämtliche Seminarklassen einen wohldurchdachten, sehr reichlich ausfallenden Unterricht in Religions-, Bibel- und Gesangbuchlehre. Das war selbstverständlich. Aber es gab bei alledem Eines nicht, nämlich gerade das, was in allen religiösen Fragen die Hauptsache ist, nämlich es gab keine Liebe, keine Milde, keine Demut, keine Versöhnlichkeit. [...] Es fehlte ihm [dem Unterricht] jede Spur von Poesie. Anstatt zu beglücken, zu begeistern, stieß er ab. Die Religionsstunden waren diejenigen Stunden, für welche man sich am allerwenigsten zu erwärmen vermochte.« (Leben und Streben, S. 94
Bezeichnend für die Atmosphäre im Seminar sind die Umstände, unter welchen 1858 zwei Seminaristen ausgeschlossen werden. Sie sollen angeblich ein rüdes Wesen an den Tag gelegt haben, wozu unter anderem gehört hat, dass sich der eine einigen Schulmädchen »unsittlich genähert« habe, was immer darunter verstanden worden sein mag. Bei diesem Delikt bleibt nach hochpeinlicher Untersuchung fraglich, ob es überhaupt stattgefunden hat. Das ändert nichts an der Einschätzung, der Seminarist eigne sich nicht für den Lehrerberuf. Es bleibt bei dem Ausschluss aus dem Seminar.
In ebendiesem Jahr 1858 erlebt May eine schwere Enttäuschung. Er hat sich in die gleichaltrige Anna Preßler, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, verliebt. Für sie hat er schwärmerische Gedichte geschrieben und noch Jahre später wird ihn die literarische Verarbeitung dieses Ereignisses beschäftigen.16 Anna, die ihm offenbar zunächst Hoffnungen gemacht hat, gibt dann jedoch dem Schnittwarenkrämer Carl Hermann ihr Jawort. Der ist die bessere Partie.
Bei seinen Mitschülern ist Karl May offenbar nicht sehr beliebt. Sie belächeln ihn und nehmen ihn nicht für voll. Er hat keine Freunde.
Schon in den Jahren auf dem Lehrerseminar scheint May geschrieben, aber auch komponiert zu haben. »Die paar Pfennige, die ich erübrigte«, heißt es in seinem Lebensbericht, »wurden in Schreibpapier angelegt.« (Leben und Streben, S. 99)
Als May sich in der vorletzten Klasse des Hauptseminars befindet, kommt es zu einem Zwischenfall. Als so genannter »Lichtwochner« hat er sich um die Reinigung der Leuchter und das Aufstecken neuer Lichter zu kümmern. Dabei bringt er sechs Kerzen auf die Seite und versteckt sie in seinem unverschlossenen Koffer in der Rumpelkammer. Er will sie in den Ferien mit nach Hause nehmen, um seiner Familie eine Freude zu machen. Was dann geschieht, verzeichnet ein Protokoll des Seminarleiters wie folgt:
»Dem Hohen Gesamtconsistorium habe ich Folgendes gehorsamst zu berichten. Kurz vor Beginn der diesjährigen Weihnachtsferien wurde von dem Proseminaristen Schäffler angebracht, dass ihm aus einer kleinen Lade zwei Thaler abhanden gekommen seien. Da hier eine Entwendung vorzuliegen schien, so wurde sofort eine Untersuchung angestellt, bei der sich jedoch keine genügenden Verdachtsgründe gegen irgendeinen Zögling ergaben.
Auf die Nachfrage, ob auch ändern Zöglingen Geld abhanden gekommen sei, wurde von dem Seminaristen Haupt mitgetheilt, dass ihm aus seiner Beinkleidertasche während der Nacht das Portemonnaie samt dem darin befindlichen Gelde von circa 15 ngr. abhanden gekommen. Der Umstand, dass Haupt die Beinkleider in den Schlafrock sorgfältig eingewickelt hat, sie aber früh auf dem Fußboden liegend gefunden, musste der Vermuthung Raum geben, dass auch hier eine Entwendung stattgefunden habe.
Der Director versammelte nun, nach gängiger Berathung mit den Seminarlehrern, den Seminarcötus und machte es jedem Zögling zur Ehren- und Gewissenssache, zur Ausmittlung des Hausdiebes auf alle Weise mitzuwirken.
Infolge dieser Aufforderung kamen zwei Schüler der ersten Seminarklasse, Ilisch und Illing, zum Director und theilten mit, dass der Seminarist May in der Zeit seines Lichtamtes sechs ganze Lichter behalten und in seinem Koffer über 14 Tage verborgen ge- halten habe. Hier hätten sie sie, weil der betreffende Koffer unverschlossen gewesen sei, zufällig gefunden. Sie hätten diese Lichte weggenommen und dem fungierenden Lichtwochner übergeben. Unter den Mitschülern sei der Fall besprochen worden; eine Anzeige bei dem Lehrer, der die Anstaltslichte unter Verschluss hat und ausgibt, oder beim Director hätten sie aber um deswillen nicht zu thun vermocht, weil sie die traurigen Folgen für May und dessen arme Eltern gefürchtet hätten. Es versteht sich von selbst, dass bei den Schülern wegen Verheimlichung dieses Falles ein Verweis gegeben wurde.
Die Seminarlehrer traten nun sofort wieder in Conferenz. May konnte hier das Factum nicht ableugnen, gestand aber die böse Absicht nicht zu, behauptete vielmehr, er habe die Rückgabe der Lichter nur vergessen. Hiergegen wurde ihm bemerkt, dass er bei Ausrichtung seines Lichtwochneramtes gar keine Veranlassung gehabt habe, mit so vielen Lichtern in die entlegene Rumpelkammer oder auch nur in deren Nähe zu kommen, wenn er in jener Kammer gleichwohl sechs Lichter abgelegt, eingewickelt und wochenlang verheimlicht habe, so zeuge das alles nicht für, sondern wider ihn.«17
Über den Vorfall wird dem Ministerium Meldung gemacht. Dieses verfügt Mays Entfernung aus dem Seminar und begründet diese Maßnahme mit seiner »sittlichen Unwürdigkeit für den Beruf«. Ausschlaggebend für diese Entscheidung dürfte, neben der Kerzenaffäre, noch ein anderer Vorfall gewesen sein, bei dem der Seminarist May auffällig geworden war:
»Bei der Beurtheilung dieses Falles«, heißt es in den Schulakten, »kommt auch die seitherige Aufführung Mays in Betracht. Die Lehrer haben bei diesem Schüler hie und da über arge Lügenhaftigkeit und über rüdes Wesen Klage geführt. Wie schwach sein religiöses Gefühl sein müsse, geht unter andrem aus folgendem Falle hervor.
Als die Anstalt in der Fastenzeit dieses Jahres zum heiligen Abendmahl gewesen, hatte sich May von dem angeordneten Besuch des Nachmittagsgottesdienstes absentirt. Dem die Tagesinspection führenden Lehrer hatte er seine heimliche Entfernung anfänglich abgeleugnet und sogar Mitschüler genannt, neben denen er in der Kirche gesessen haben wollte. Dem Director gestand er sein Unrecht und bat sehr um Verzeihung, die ihm dann auch vor dem Lehrercollegio für diesmal zu Theil ward. Der Fall war aber ganz dazu angethan, dass man dem May die Verdorbenheit seines Gemüthes und Herzens gleichsam offen darlegen konnte. Der Ernst, mit dem das geschah, schien auch einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben.
Weiterhin ist zu bemerken, dass in der ersten und zweiten Seminarclasse, die beide von der Conferenz abgehört wurden, die moralische Überzeugung sich offen und allgemein aussprach, dass May nicht bloß in Betracht des vorliegenden Falles, sondern auch noch sonst im Verdacht der Unehrlichkeit bei ihnen stehe, obwohl sie ihn im Einzelnen nicht überführen konnten.«18
Zu vermuten ist, dass sich Karl May gegen den sehr strikt und engherzig auf Disziplinierung der Zöglinge ausgerichteten Seminarbetrieb hin und wieder aufgelehnt hat. Wahrscheinlich hat er auch die recht formalen Vorstellungen der Seminarleitung von religiöser Unterweisung kritisiert.
Doch »arge Lügenhaftigkeit«? Trifft das zu? Hierzu ist zu sagen, dass bei Karl May die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Einbildung, zwischen Einbildung und Lügenhaftigkeit sehr fließend sind. Und dies wird ihn immer wieder in Schwierigkeiten bringen.
Das nicht nur für Karl, sondern für die ganze Familie katastrophale Ereignis des Hinauswurfs hat auch gravierende Auswirkungen auf Mays Weltanschauung: »Ich lernte zwischen dem Christentum und seinen Bekennern zu unterscheiden. Ich hatte Christen kennengelernt, die unchristlicher gegen mich verfahren waren, als Juden, Türken und Heiden verfahren konnten.« (Leben und Streben, S. 102)
Mays religiöse Überzeugung verändert sich. Was in den frommen Traktätchen für naive Kirchgänger gepredigt wird, überzeugt ihn nicht mehr. Er beginnt an einem auf das kirchliche Dogma festgelegten Glauben zu zweifeln und entwickelt selbständige religiöse Vorstellungen. Sie tun sich beispielsweise 1870 in dem höchst eigenartigen Fragment »Ange et Diable« kund.
In »Ange et Diable«, das in einem ziemlich unvollkommenen Französisch gehalten ist19, tritt uns ein gegen kirchliche Autoritäten und Dogmatismus rebellierender Karl May entgegen. Er plant sogar zu diesem Thema einen sechs Bände umfassenden »socialen Roman«.
Die Reaktionen seiner Umwelt bei der Affäre um die entwendeten Kerzen hat May nie ganz verwunden und seine grüblerischen Erinnerungen schließlich 1897 in dem Roman Weihnacht umgesetzt.
Der Roman beginnt damit, dass der Gymnasiast May ein Weihnachtsgedicht von 32 Strophen schreibt. Aus dem Schüler-Dichter wird in der Handlung des Buches nach einem Zeitsprung von einigen Jahren Old Shatterhand, der im Missourigebiet und im Felsengebirge eine Verfolgungs- und Rettungsreise unternimmt. Der Direktor des Seminars in Waldenburg tritt dort als »Prayerman«, als Traktätchenhändler auf, der sich im Laufe der Handlung als getarnter Bandit entpuppen wird. Von biographischer Bedeutung ist im Roman die Gestalt des mit dem Erzähler befreundeten Schulkameraden Carpio. Zu einem mühselig-harten Lebensweg gezwungen, flüchtet Carpio in ans Krankhafte grenzende Illusionen. Carpios Scheitern und Tod kann der Ich-Erzähler, Old Shatterhand, zwar nicht verhindern, doch gelingt es ihm, Carpios Elend dadurch zu mildern, dass er diesem das Gefühl gibt, wenigstens von einem Freund verstanden zu werden. Gewiss ist dies eine Wunschvorstellung von Karl May selbst, die er hier auf eine seiner Gestalten überträgt, und sie gibt Aufschluss über seine Situation im Seminar.
Wieder auf den »einzigen Fehler«, nämlich die in Waldenburg beiseite geschafften Kerzen anspielend, schreibt May da erstaunlich aufsässig: »Ich finde zwischen Gott und Teufel keinen Unterschied. Wer ist wohl schlimmer - ein Gott, welcher wegen EINES EINZIGEN Fehlers EINES EINZIGEN Menschenpaares, an dessen Fehlerhaftigkeit er noch dazu als Schöpfer die Schuld trug, Millionen und aber Millionen unschuldiger Menschen ins Unglück stürzt [...] oder ein Teufel, welcher dann und wann eine ungehorsame Menschenseele als Fricassee verspeist?«20