Kitabı oku: «Der Weltenschreiber», sayfa 6
Die junge Frau sah ein, dass sie so nicht weiterkommen würden. Es lag wohl an ihr, auf die unerwartete Enthüllung zu reagieren. Weil sie sich ihrer Stimme nicht sicher war, räusperte sie sich ausführlich. Die banale Handlung gab ihr ein willkommenes Gefühl für die Wirklichkeit zurück. Dann blickte sie die beiden Männer mit entschlossenem Gesichtsausdruck an. Sie würde nicht herausfinden, ob die beiden die Wahrheit sprachen, wenn sie nicht erst einmal auf ihre Geschichte einging!
»Kommen Sie doch bitte herein«, lud sie die Fremden mit einer fahrigen Handbewegung zum Betreten ihrer Wohnung ein und trat einen Schritt zur Seite, um sie hindurchzulassen. Ganz kurz meinte sie eine kleine innere Stimme fragen zu hören, ob das denn wirklich so klug sei, aber sie gab dieser Stimme keine Möglichkeit, zu ihr durchzudringen. Sie hatte sich dazu entschieden, das Wagnis einzugehen. Also würde sie einfach abwarten müssen, was dabei herauskam.
Die beiden Männer schienen überrascht darüber, dass sie keine weiteren Erklärungen zwischen Tür und Angel abgeben mussten, um sie zu dieser Einladung zu überreden. Sarah bemerkte mit innerer Belustigung, dass der jüngere Mann dem Älteren einen leichten Schubs versetzen musste, damit sich dieser aus seiner Erstarrung löste und in Bewegung setzte.
Erst als die beiden in ihrem kleinen Flur standen und nicht so recht wussten, wohin mit sich selbst, fiel Sarah wieder ein, dass es noch einen anderen Grund gegeben hätte, die Fremden nicht hereinzubitten. Sie spürte, wie sich eine brennende Röte auf ihrem Gesicht breitmachte, als ihr bewusst wurde, wie schlimm es für Außenstehende in ihrer Wohnung eigentlich aussehen musste. Sie selbst war daran gewöhnt und nahm die chaotische Unordnung gar nicht mehr wahr, aber diese beiden Fremden …
Sarah räusperte sich erneut. Dann ertappte sie sich bei einer weiteren fahrigen Handbewegung, die den Flur und irgendwie auch die noch unsichtbare restliche Wohnung mit einschloss.
»Verzeihen Sie das Chaos. Ich war gerade dabei, ein wenig Ordnung…« Ihre Stimme driftete ab. Wozu der Aufwand. Diese Ausrede hätte nun wirklich jeder in einer solchen Situation gebraucht.
*
Drinnen. Wir sind wirklich drinnen.
Matthew konnte es noch nicht vollkommen glauben. Irgendwie hatte er sich das alles schwieriger vorgestellt und sich schon gefragt, wie sie es nur schaffen könnten, die Frau davon zu überzeugen, dass es sich bei Dupoit tatsächlich um ihren Großvater handelte. Gerade sein Aussehen ließ ja nicht sein Alter erahnen.
Doch sogleich wurde Matthews Aufmerksamkeit wieder weg von der Fremden und hin zu ihrer Wohnung gelenkt. Das bizarre Zettelkunstwerk am Eingang war eindeutig nur ein Vorgeschmack gewesen. Auf beiden Seiten des kleinen Flurs drängten sich schiefe Stapel kopierter Blätter, auf denen leere Wasserflaschen balancierten. Ein runder Papierkorb hatte wohl schon vor Tagen ächzend unter der Last rechteckiger Pizzakartons kapituliert, die als wütende Horde über ihn hergefallen sein mussten. Gleich daneben bemühte sich eine Plastiktüte, die leeren Verpackungen von Fertigsuppen und einigen Schokoriegeln im Zaum zu halten. Der Blick in das Wohnzimmer war nicht wesentlich besser. Überall im Raum war schmutziges Geschirr verteilt, aber zahlreicher noch waren die unzähligen Türme aus Büchern und Notizzetteln, die sich auf schier unmögliche Weise der Schwerkraft trotzend in die Höhe wanden. Sie belegten sämtliche Tische sowie die Sitzflächen der meisten Stühle, das Sofa und auch einen Teil des Bodens. Jetzt bekam Matthew eine Vorstellung davon, warum die Wohnung so aussah und sich überall die Spuren von Fertignahrung stückchenweise durch die Räume zogen. Sarah war nicht etwa von Natur aus zu unordentlich oder zu faul zum Kochen. Nein, die Bücher und Blätter sprachen deutlich: Das hier war die Wohnung einer Person, die wie besessen an einer Sache arbeitete und darüber die Welt um sich herum vergaß. Noch etwas fiel ihm auf. Diese Wohnung bildete das beste Abbild seines eigenen Geistes, das er sich zur Zeit vorstellen konnte.
Die Bücher und Notizen waren es auch, die Dupoit ins Auge sprangen. Als sie seiner Enkelin ins Wohnzimmer folgten, fiel sein Blick auf drei Notizzettel auf einer Kommode, und obwohl er die hastig hingekritzelten Worte nur überflog, legte sich eine düstere Ahnung auf sein Herz. Es war genauso wie damals. Sie war auf der gleichen Spur, der er einst gefolgt war. Sie war wie er...
Dupoit hob den Kopf und blickte Sarah an.
*
Sarah spürte den Blick des älteren Mannes in ihrem Nacken und drehte sich zu ihm um. Stahlblaue Augen sahen sie an. Sarah hatte das Gefühl, als blickten sie ihr direkt in die Seele.
Sie schluckte hart und bemerkte hinter dem Mann die drei eingerahmten Notizzettel, die inmitten des unsäglichen Chaos, das in ihrer Wohnung herrschte, seltsam ordentlich an der Wand hingen.
Ihre Augen wanderten zurück zu dem inquisitorischen blauen Blick, der kompromisslos ihr Innerstes nach außen kehrte.
Sie wusste plötzlich, dass dieser Mann das Chaos in ihrer Wohnung verstand. Und wenn sie vorher noch an seiner Identität gezweifelt hatte, nun war sie sich ihrer sicher. Dieser Mann mit dem dichten Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, den blauen Augen und dem faltenlosen, maskenhaften Gesicht, war ihr Großvater! Dieser scheinbar Fremde war trotz seines zeitlosen Aussehens Henri Dupoit, der vor über dreißig Jahren spurlos verschwunden war.
Sarah öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die Worte verharrten ihr im Hals und wollten nicht heraus. Stahlblaue Augen beobachteten sie, als sie sich mühsam räusperte und einen erneuten Anlauf unternahm. Die Worte kamen. Leise und begleitet von einem unsicheren Zittern, aber sie fanden ihren Weg hinaus in die Welt und in die Wirklichkeit:
»Ich habe dich gesucht, grand-père.«
//Müde ... es war so ... müde. Es musste ... sich konzentrieren. Die Antwort ... sie war da, beinahe greifbar. Verschwunden. Dort ... hinter der nächsten Seite. Ganz unten. Das Kapitel ... was machte es hier? Es kam doch erst später. Die Zeilen ... sie verschwammen vor seinen Augen. In dem Moment, in dem es sie ansah, verschoben und versteckten sie sich. Es hätte sich auch gerne versteckt. Denn es konnte spüren, wie der Moment näher kam. Der Moment, in dem das Böse gewinnen würde. Es würde letztendlich triumphieren. Länger ... länger konnte es diesem Druck einfach nicht mehr standhalten. Schon jetzt kam es ihm so vor, als hätte es nie einen anderen Zustand gegeben. Dieser hier würde ewig dauern. Hatte bereits ewig gedauert. Blieb nur ... der Weg. Bis Hilfe eintraf, würde es zu spät sein. Es konnte das Böse nicht länger abwehren. Es würde zerbrechen. Heute, vielleicht morgen. Dennoch musste es die Möglichkeit wahrnehmen. Musste seinem anderen Ich mitteilen, wo es zu finden war. Wo es den Kampf gegen das Böse verloren hatte. Wo sein Innerstes vernichtet worden war. Die Antwort lag ... in seiner Art. Seinem Ursprung. Seiner Herkunft. Den Büchern.//
Kapitel 12
Das Schweigen dauerte an. Zu umfassend war das, was ihnen Henri Dupoit über seine Zeit in der Bücherwelt erzählt hatte. Zu … weltbewegend.
Sie saßen alle drei in Sarahs Wohnzimmer. Die Nacht war wie in einem Traum vergangen und vor den Fenstern wurde es bereits wieder hell. Um sie herum standen, lagen und stapelten sich eine Unmenge an leblosen Zuhörern. Da waren Dokumentenstapel, die mehr oder minder geordnet wirkten, Kaffeetassen, deren braun gesprenkelter Boden und Rand von nützlicheren Zeiten träumten, lose herumfliegende Zettel, von hastiger Handschrift überzogen und Bücher, jede Menge Bücher. Ein jeder der drei anwesenden Menschen hing seinen eigenen Gedanken nach. Jeden hatte ein anderer Teil von Henri Dupoits Geschichte in den Bann gezogen und über das Gehörte wurde nun nachgesonnen. Schweigsam. Allein.
Für Sarahs Großvater war die Erzählung Erleichterung und Schmerz zugleich. Erleichterung darüber, das Erlebte mit jemandem teilen zu können. Und nicht nur mit irgendjemandem. Sein Blick streifte die junge Frau, die ihm schräg gegenüber auf einem Sofa saß. Er hatte es nach Hause geschafft und konnte nun die Geschichte, seine Geschichte, mit seiner Familie teilen. Natürlich lag auf der Realität ein schmerzlicher Schatten. Und er machte sich nichts vor. Es war sein Schatten, der darauf lag. Die Entscheidung, die er vor über dreißig Jahren getroffen hatte, wirkte sich bis in die Gegenwart aus. Es war nicht seine Frau Marie, mit der er das Erlebte teilen konnte. Ein dunkler, schmerzlicher Schatten.
Und doch war sie hier – seine Enkelin. Seine Enkelin, die nach ihm gesucht hatte! Die sich nicht mit seinem plötzlichen Verschwinden abgefunden hatte. Als Dupoit bei diesem Gedanken angekommen war, fühlte er einen Druck hinter seinen Augen, dem er kaum standhalten konnte. Was war das, was er fühlte? Rührung? Oder Trauer bei dem Gedanken, dass sich seine Entscheidung bis hierher in das Leben dieser jungen Frau ausgewirkt hatte?
Und dennoch. Ihre Suche nach ihm hatte vieles erleichtert. Hier musste er sich nicht rechtfertigen für die Entscheidung, die er getroffen hatte. Und sie glaubte ihm. Hatte ihm sofort jedes Wort geglaubt, vom Beginn seiner unfreiwilligen Reise bis hin zu seiner langwierigen und abenteuerlichen Rückkehr nach Paris. Dupoit hatte es in ihren Augen gesehen. Diesen unerschütterlichen Glauben, den sie seiner unglaublichen Geschichte entgegenbrachte.
Diese Fähigkeit in ihr wiederzuerkennen, hatte ihn mehr als alles andere erschüttert. Er selbst war genauso gewesen. Vor über dreißig Jahren. Begeisterungsfähig. Und offen für das Unbegreifliche. Ein müdes Lächeln zog über sein Gesicht.
Sarah sah dieses Lächeln und ließ die Gedankenfäden los, denen sie bis dahin gefolgt war. Stattdessen musterte sie den Mann, der ihr schräg gegenüber saß. Henri Dupoit. Ihr Großvater. Obwohl – sehr großväterlich sah er im Grunde gar nicht aus. Na schön, seine Haare zeigten an den Schläfen bereits ein leichtes Grau. Aber seine Haltung war gerade, seine Haut bar jeder Falten oder anderer Hinweise auf sein hohes Alter. Sarah rechnete kurz zurück. Ihr Großvater musste doch bereits älter als siebzig sein! Sie sah erneut auf die durchtrainierte Gestalt, die dort ruhig in ihrem Sessel saß und den Blick in die Ferne gerichtet hatte. Der Blick! Sarah fuhr es kalt den Rücken hinunter. Da war er – der Beweis für sein Alter. Henri Dupoits Augen sprachen von einem ganzen Leben, das hinter ihm lag. Einem ganzen, langen Leben. Sarah konnte nicht umhin, ein Frösteln zu verspüren. Gänsehaut machte sich auf ihren Armen breit.
Matthew, der neben Sarah auf dem Sofa saß, spürte das Zittern der jungen Frau und tauchte aus seinen Gedanken auf. Er warf der Frau mit den langen braunen Haaren einen Blick zu. Sie sah verloren aus. Aber wer würde das nicht – nach dieser Wendung, die ihr Leben gerade genommen hatte! Matthews Augen wanderten zu dem hochgewachsenen Mann, der ihnen gegenüber auf einem Sessel saß. Henri Dupoit. Auch Matthews Leben war durch diese überraschende Bekanntschaft aus den Fugen geraten. Ob das nun gut oder schlecht war, wusste er nicht. Aber was hatte er schon zu verlieren?
Matthew stutzte. Irgendetwas war anders. Irrte er sich oder sah Dupoit tatsächlich ein wenig älter aus als noch am gestrigen Morgen? Matthew konzentrierte sich auf das seltsam zeitlose Gesicht des Mannes, konnte sich aber nicht erklären, wie er nun plötzlich auf eine solche Idee kam. Und wenn Henri Dupoit ein wenig müde wirkte nach einem Tag, an dem er nicht nur erfahren hatte, dass seine Frau tot war, sondern an dem er auch noch seine Enkeltochter kennengelernt hatte, so war das doch nur verständlich! Oder?
Sarah war die Erste, die das lange Schweigen brach. Ihre Stimme war leise, die Frage, die ihr auf der Seele brannte, kam stockend. »Wer war es…? Ich meine, hast du ihn gefunden … den Gefangenen?«
Gespannt sah sie ihren Großvater an. Der brauchte ganz offensichtlich eine Weile, bis er aus seinem gedanklichen Aufenthalt in der Bücherwelt zurück zu seinem Pariser Leben fand. Seinem Leben, das lange vorbei war.
Sarah bemerkte den Schmerz in Henris Augen. Von seinen Erlebnissen in der Bücherwelt hatte Dupoit ihnen zumeist flüssig erzählt. Natürlich hatte es auch da Passagen gegeben, deren Erwähnung ihrem Großvater ganz offensichtlich aus den verschiedensten Gründen schwerfiel. Vielleicht existierten sogar Erlebnisse, die er ihnen verschwiegen hatte, sei es, um seine Zuhörer nicht vollends zu überfordern oder um die Geschehnisse nicht ein weiteres Mal durchleben zu müssen. Aber insgesamt hatte Sarah den Eindruck gewonnen, die ganze Geschichte sei mit einer gesunden Distanz zu den Ereignissen erzählt worden. Als wenn das Erlebte, das ja eigentlich noch nicht lange her war, doch aus einer anderen Welt stammte und mit dieser hier nichts zu tun hatte. Aber ihr nun davon zu erzählen, was ihn dazu gebracht hatte, sich für das Unbekannte und gegen seine Familie, also im Grunde auch gegen sie, zu entscheiden, das war hier und jetzt für ihren Großvater real. Und es war schmerzhaft.
Sarah blickte ihn dennoch erwartungsvoll an. Sie musste es wissen! Sie hatte ein Recht darauf, es zu wissen! Schließlich hatte sie selbst viel Zeit mit ihrer Suche verbracht. Erst hatte sie das Verschwinden ihres Großvaters aufklären wollen und dann war sie über diese seltsamen Buchtexte gestolpert, die von einem gefolterten Gefangenen zu stammen schienen. Henri Dupoit war dieser Spur vor ihr gefolgt. Er konnte ihre Suche zu einem Ende bringen. Oder, konnte er? Sarah war nervös.
Ihr Großvater musterte seine ungeduldige Zuhörerin und seufzte tief. Sein Brustkorb hob und senkte sich, während er kurz die Augen schloss, um sich zu sammeln. Dann öffnete er sie langsam wieder und sein Blick richtete sich in die Ferne. Zurück in vergangene Zeiten. Er nickte einmal, als stünde ihm das gewünschte Bild wieder deutlich vor Augen, und begann seine nächste, seine eigentliche Geschichte. Er erzählte ihnen von seinem ersten Fund und der daran anschließenden Recherche.
»Vor über dreißig Jahren war ich Professor an der Pariser Universität. Ich war jung, ungeduldig und wollte mir einen Namen machen. Ich war verbissen auf der Suche nach einem Forschungsprojekt, das neu und weltbewegend war.« Dupoit schüttelte während seiner Erzählung den Kopf, um Unverständnis gegenüber seinem früheren Ich mit dem heute unsinnig erscheinenden jugendlichen Ehrgeiz auszudrücken.
»Mein Büro befand sich in genau dem Flur, in dem auch das Bild hängt.« Sein Blick streifte Sarah. Sie würde wissen, welches Bild er meinte. »Ich fand den geheimen Raum eher zufällig, als ich wieder einmal in Gedanken versunken vor dem Bild stand und dem ausgestreckten Arm des Matrosen im Ausguck mit den Augen folgte.« Dupoits Stimme schweifte ab. Fassungslos schüttelte er den Kopf. »Ich weiß nicht einmal mehr, was mich letztendlich dazu brachte, über den Rand des Rahmens zu fahren. Eine Spinnwebe? Eine Unebenheit, die mir auffiel? Vielleicht war es auch ganz einfach Schicksal.« Trauer klang in seiner Stimme mit. Trauer über das, was er durch diesen einen Moment verloren hatte. Er musste sich merklich zusammenreißen, um sie über den Fortgang der Ereignisse zu informieren.
Dupoit war wie Sarah in dem kleinen Raum auf den Hinweis zu Le Morte Darthur gestoßen und hatte aus diesem von dem Hilferuf des Gefangenen erfahren. Dass er im Anschluss auch über Coleridges Rime gestolpert war, hatte er nur seiner überaus gründlichen Recherche in der Universitätsbibliothek zu verdanken.
Sarah sah ihren Großvater gespannt an. Jetzt kam der spannende Teil seiner Geschichte. Bis hierher war sie auch gekommen. Aber wie ging es weiter? Wer war der Gefangene? Hatte ihr Großvater ihn befreit? Oder war er gescheitert und bei dem Versuch, einem anderen zu helfen, selbst gefangen genommen worden?
Als Dupoit die innere Anspannung seiner Enkeltochter bemerkte, warf er ihr einen verständnisvollen Blick zu. Er war in ihrem Alter genauso gewesen.
Dann erzählte er seinen beiden Zuhörern von anderen Räumen. Geheimen Verstecken, die er in der ganzen Stadt verteilt gefunden hatte. Sie waren allesamt leer und verlassen gewesen, obwohl man ihnen eine Nutzung während vergangener Zeiten angesehen hatte. Hölzerne Schreibtische waren das einzige Mobiliar dieser Räume.
Dupoit war über vergessene Schreibwerkzeuge gestolpert und über einzelne unbeschriebene Blätter. Aber nirgends hatte er mehr irgendwelche Hinweise entdecken können.
Über dem Nutzen der Karte, die er dort in der Schreibtischschublade abgedruckt gefunden und in sein Notizbuch übertragen hatte, brütete er wochenlang, ohne in irgendeiner Weise voranzukommen. Er ahnte, dass sie nicht vollständig war. Aber ein weiteres Stück war in keinem der anderen Räume zu finden. Und auch die Buchstaben auf der Oberfläche des hölzernen Schreibtisches, die ihn erst zu Mallorys Werk geführt hatten, wiederholten sich nicht. Er stand in leeren, versteckten Räumen, die ihn in seiner Suche nicht weiterbrachten.
»Ich hoffte immer, ich würde auf einen von ihnen stoßen.« Dupoits Augen begannen auf einmal in einem Feuer zu leuchten, das Sarah verriet, dass sie sich nun dem eigentlichen Antrieb seiner Recherchen näherten. »Einen Weltenschreiber. Einen, dessen Arbeit im Formen der Worte besteht. Das wäre wirklich ein neues Forschungsprojekt gewesen! Das hätte mich im Leben weitergebracht!« Seine Augen erloschen so plötzlich, wie sie zuvor begonnen hatten zu leuchten. »Aber stattdessen hat mich die ganze Recherche um mein Leben gebracht!«
Eine Weile war alles still. Matthew warf Sarah einen Blick zu, in dem sich sein Unwohlsein mehr als deutlich abzeichnete. Auch Sarah wusste nicht, was sie dem Ausbruch ihres Großvaters entgegensetzen sollte. Er hatte ja recht! Und dennoch – sie war sich auf schockierende Weise sicher, dass sie ebenso gehandelt hätte.
Dupoit hatte nach dem dramatischen Ende seiner Erzählung die Augen geschlossen und sich resigniert in seinen Sessel zurücksinken lassen. Er atmete schwer. Als er nach endlos scheinenden Minuten wieder seinen Blick auf sie richtete, war der Ausdruck in seinen Augen müde.
»Erzähl mir von ihnen«, forderte er Sarah mit brüchiger Stimme auf. »Bitte.« Seine Enkelin brauchte ihn nicht zu fragen, wen er meinte. Ihr Großvater wollte von ihr, dass sie ihm alles über seine Familie erzählte. Von Marie, seiner Frau und ihrer gemeinsamen Tochter Michelle, Sarahs Mutter.
Die junge Frau nickte und schluckte einmal schwer. Und wieso auch nicht. Das war das Mindeste, was sie für ihn, den Zurückgekehrten, tun konnte.
//Es war soweit. Der Moment war da. Es konnte spüren, wie seine allerletzte Barriere zerbrach und das Böse sich brutal durch die entstandene Lücke zwängte. Es einnahm und bis in sein Innerstes ausfüllte. Es hatte verloren. Es war verloren. Es war ... nicht mehr.//
Kapitel 13
Er schrieb. Und schrieb. Nichts würde ihn jemals davon abbringen können. Schreiben war sein Leben.
Alfreds noch junge Stirn war aufgrund der Konzentration, die von ihm Besitz ergriffen hatte, in tiefe Falten gelegt. Sein Geist befand sich nicht mehr in dieser Welt. Was kümmerte ihn sein Aussehen! Was kümmerte es ihn, wie er auf die Menschen wirken mochte! Noch dazu verirrte sich niemand freiwillig in diese kleine, heruntergekommene Bar, deren Eingangstür nur über eine Treppe zu erreichen war, die von einer einsamen Gasse aus in den Keller eines alten Mehrfamilienhauses führte. Genau diese schattenhafte Existenz, die das Etablissement zu einem Leben abseits der belebten Kneipen und Cafés verdammte, hatte Alfred überhaupt erst auf die Idee gebracht, hier seinem Tagewerk nachzugehen.
Als wäre er in einem Traum gefangen, bewegte Alfred seine Hand und den Stift, den er darin hielt, über das Papier. Oh, natürlich war das nicht nur irgendein Stift! Die Schreibfeder, die er gebrauchte, um aus Buchstaben Wörter und aus Wörtern Sätze zu bilden, war ohne jeden Makel und strahlte in vollkommenem Weiß. Die blaue Tinte, in die er die Feder in regelmäßigen, eingeübt wirkenden aber schon unbewusst ausgeführten Abständen tauchte, war eigens für diese besondere Aufgabe gemischt worden.
Auch das Material, auf dem er schrieb, war nicht gewöhnlich. Es war alt. Vor Jahrhunderten angefertigt, hatte es einen Herstellungsprozess durchlaufen, der nur wenigen Angehörigen seiner Gilde bekannt war. Natürlich wurde das Pergament auch heute noch auf die gleiche Art und Weise gefertigt. Aber bis man dieses dann wieder verwenden konnte, würden noch mehrere Jahrhunderte vergehen.
Die Feder, mit der Alfred Wort an Wort reihte, kratzte leise über das Pergament. Kein federleichtes Streicheln. Eher ein bestimmtes Niederschreiben, Formen und Festhalten. Bestimmung war überhaupt das richtige Wort für das, was er tat. Seine Aufgabe war seine Berufung, sein Lebensinhalt, sein Daseinszweck. Und die Bestimmung trug er durch sein Schaffen auch in die Welt der Menschen. Gab ihnen ein klitzekleines Stück vom Universum. Schenkte ihnen für einen Augenblick den Seelenfrieden, nach dem sie, ohne es zu wissen, ihr ganzes Leben lang suchten.
Wieder tauchte Alfred die Feder in das kleine gläserne Gefäß mit der blauen Tinte. Zog sie heraus. Ließ sie nur einen Moment lang abtropfen. Bewegte sie von dem Tintenfass in Richtung der Buchseite, die leer vor ihm lag. Es war die rechte Seite. Die linke war bereits gefüllt mit Wörtern, Sätzen, Bedeutungen. Die Feder berührte das Papier an genau der von ihm vorgesehenen Stelle. Ein kurzes Innehalten, um Feder und Pergament aneinander zu gewöhnen, ihnen Zeit zu geben, sich zu begrüßen und einander willkommen zu heißen. Dann die Schriftzüge.
Alfred hatte jahrelang an dem Ausdruck seiner Buchstaben gefeilt, ihre Linien und Kurven zu einem vollkommenen Abbild seines Selbst werden lassen. Das, was er dort schrieb, war sein Inneres. Seine Träume, Wünsche, Sehnsüchte. Sie alle flossen auf wunderbare Weise in sein Werk, ausgedrückt durch die Bedeutung des Geschriebenen und durch die Form seiner Schriftzeichen.
Wieder erklang das leise Kratzen, als die Feder über das noch unbeschriebene Pergament glitt. Alfred war völlig in seine Arbeit versunken. Lebte in ihr. Die Wahrheit der Menschen um ihn herum war für ihn nicht wichtig und für seine Arbeit nicht greifbar. Seine Schrift war etwas Besonderes. Er war etwas Besonderes. In diesem Wissen sagte er sich in den Momenten, während derer er arbeitete, völlig von seiner Umwelt los. Nur das Kratzen der Feder erinnerte an eine Welt außerhalb seines Buches und seiner Gedanken.
Etwas ungünstig wirkte sich auf Alfreds Arbeitsweise allerdings die Tatsache aus, dass er selbst in dieser von ihm so erfolgreich verdrängten Welt festsaß.
*
Als die Tür zu der kleinen, dunklen Bar plötzlich aufgerissen wurde, bekam Alfred das zuerst gar nicht bewusst mit. Zu sehr war er in seine Arbeit, seine Berufung, vertieft. Feder, Tinte, Pergament. Buchstabe, Wort, Satz. Das leichte Kratzen der Feder während des Schreibens.
In der Welt außerhalb seiner eigenen fing der Fremde, der soeben stürmisch das kleine Café betreten hatte, in lautem und drängendem Tonfall ein Gespräch mit dem alten Wirt an, der bis dahin friedlich hinter seinem Tresen gesessen hatte, völlig zufrieden damit, in dieser hektischen Welt eine Zeitung lesen und dabei eine Zigarette rauchen zu können.
Erst versuchte Alfred, den nervigen Neuankömmling einfach auszublenden, um seine Arbeit konzentriert fortführen zu können. Aber dann riss ihn doch etwas aus seiner abgeschotteten kleinen Welt.
Später wusste er gar nicht mehr genau, welches Wort oder welcher Teil der Erzählung des Fremden es geschafft hatte, bis zu ihm durchzudringen. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig war, was der zerzauste Mann zu erzählen hatte.
Alfred hörte sich sämtliche Verwirrungen der durcheinander geworfenen Geschichte bis zum panisch herausgebrüllten Ende an, während der in höchstem Maße überforderte Wirt keinerlei Regung zeigte. Endlich begriff auch der unangemeldete Eindringling, dass er vom Barmann nicht ernst genommen wurde. Mit einem wütenden Knurren beendete er seine Erzählung und stürmte genauso plötzlich hinaus, wie er gekommen war.
Alfred verharrte noch einige Sekunden in genau derselben Pose, in der er auch während des Schreibens gesessen hatte. Die Feder über dem Tintenfass hängend, den rechten Ellenbogen auf dem Tisch leicht abgestützt, die linke Hand schützend neben dem Buch.
Dann packte er so schnell wie möglich all seine Sachen zusammen und verließ die Bar. Er weigerte sich, an irgendetwas zu denken, bis er das Haus erreicht hatte, in dem er ein kleines Zimmer gemietet hatte. Von einem Vermieter, der ihn im Laufe der Jahre vollends vergessen zu haben schien. Und erst als er das Buch und seine Schreibutensilien sorgfältig in dem kleinen hölzernen Schreibtisch verstaut hatte, ließ er es zu, dass die schmerzliche Erinnerung ihn übermannte.
Er sah es noch vor sich, als wäre es gestern gewesen. Nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die Pariser Innenstadt hatte er sich in sein kleines Dachbodenzimmer begeben, um seine Sachen zu ordnen und diese Welt hinter sich zu lassen. Nicht für lange, nur für eine Weile. Der Spaziergang sollte eine Art vorübergehender Abschied von der Stadt sein, die ihn mit ihrer eleganten und historischen Schönheit so faszinierte, dass er schon mehr Zeit in ihr verbracht hatte, als ursprünglich geplant gewesen war.
Er war – wie er dachte, zum letzten Mal – die enge Stiege nach oben ins Dachgeschoss und in das kleine Zimmer gegangen, das dahinter lag. Er brauchte nicht viel zum Leben und das war auch heute noch so. Alfred blickte sich in dem kleinen Zimmer um. Es sah noch aus wie damals, vor gut vierzig Jahren. War es wirklich schon so lange her? Oder so kurz? Er hielt inne. Müßig, sich über so etwas wie Zeit Gedanken zu machen. Sie bedeutete ihm nichts. Alfred sah hinüber zu dem kleinen Schreibtisch und erinnerte sich an die Geschehnisse, als lägen sie nicht schon Jahrzehnte zurück.
*
»Ich sitze fest.« Das war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, als er das Buch nicht fand. Der erste und der einzige, der zählte. Ein verstörender Gedanke. Ein Gedanke, der sich nicht verdrängen und nicht beschönigen ließ. Ein Gedanke, der – kaum gedacht – in der Leere des Zimmers hängen blieb und keine weiteren Gedanken mehr zuließ. Was sollte es auch für weitere Gedanken geben! Er saß fest. Das war verstörend. Furchterregend. Endgültig.
Alfred stand reglos vor seinem kleinen Holzschreibtisch, die linke Hand immer noch am Knauf der obersten Schublade, die halb herausgezogen war. Sie hing genau an der Stelle, an der sie immer klemmte. Jetzt müsste sein Blick, der in das Innere der Lade gerichtet war, bereits das Buch vor sich sehen. Das Buch. Sein Buch. Sein Leben.
Alfred musste feststellen, dass dies eine Situation war, die er nicht so gelassen hinnehmen konnte, wie er das normalerweise mit Überraschungen – gleich welcher Art – mühelos schaffte. Aber das hier war anders. Das war etwas, das nicht sein durfte. Nicht sein konnte. Wer hatte es geschafft, sein Buch zu entwenden? Und warum hatte er nicht gespürt, dass etwas nicht stimmte?
Alfred zwang sich dazu, die Schreibtischschublade loszulassen – sie blieb halb in der Luft hängen und sah genauso hilflos aus, wie er sich fühlte – und wankte die paar Schritte zu seinem Bett hinüber, das unter einem nicht mehr ganz sauberen Dachfenster stand. Niedergeschlagen ließ er sich auf dem Bett nieder und stützte den Kopf in beide Hände. Sein auf eigenartige Weise jung wirkendes Gesicht war leer, hoffnungslos.
Wie konnte das passieren? Genau wie die anderen aus der Gilde hatte er eine so enge Bindung zu seinem Buch, dass es einfach nicht möglich war, dem einen etwas anzutun, ohne dass der andere es merkte! Er hätte spüren müssen, dass jemand hier war und seine Hand auf das Buch gelegt hatte. Es hätte ihn so stark treffen müssen, als hätte jemand ihn mit der Hand umschlossen und mit aller Kraft zugepackt.
Alfred schüttelte hilflos den Kopf. Sein Buch war weg und er saß hier fest. Es schien, als müsste er diesen Tatsachen ins Auge sehen. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust. Er war sich nicht einmal sicher, ob es für ihn überhaupt weitergehen würde. Was geschah mit seiner Art, wenn sie von ihrem persönlichen Buch getrennt wurde? Soweit er wusste, war so etwas noch nie zuvor passiert. Nicht nur die enge Bindung zwischen Schreibendem und Buch hatte das verhindert, auch ein unausgesprochener Ethos, das Wissen um die Wichtigkeit eines jeden Buches für ein Mitglied ihrer Gemeinschaft, hatte es völlig undenkbar werden lassen, sich an diesen Büchern zu vergreifen.
Alfred richtete sich kerzengerade auf und sah blicklos in Richtung des Schreibtisches. Es musste jemand aus seiner Welt gewesen sein! Jemand, der die Macht besaß, ein persönliches Buch an sich zu nehmen, ohne dass der Verbundene etwas davon mitbekam!
Alfred merkte, wie ihm auf einmal schwindelig wurde. Jemand aus seiner Welt! Wie konnte jemand aus seiner Welt absichtlich ein solches Verbrechen begehen? Er spürte tiefe Trauer in sich aufsteigen. Enttäuschung. Verbitterung. Wut. Gefühle, die er so nicht kannte. Gefühle, die ihn von innen heraus verzehrten. Und als er bei dem Gefühl der Wut angekommen war, wusste er, dass er nicht aufgeben durfte.
Er saß fest. Na schön, und wenn schon. Während seines langen Lebens hatte er sich bereits in ungemütlicheren Welten aufgehalten! Dann würde er eben hier bleiben. Er musste nicht einmal völlig auf seine Gabe verzichten, da er sich für seine Reise in diese Welt fünf leere Bücher mitgenommen hatte. Auch wenn keines von ihnen seinem eigentlichen Buch in Macht und Bedeutung gleichkam. Sie waren Teil seiner Arbeit, aber nicht Teil seiner Persönlichkeit. Erst eines von ihnen hatte er bisher begonnen, so gefangen war er von der Beobachtung des Lebens, das um ihn herum tobte. Seine Studien über die Menschen hatten ihn völlig von der eigentlichen Arbeit abgehalten. Aber die würde er nun nachholen. Diese fünf Bücher würden die besten werden, die er jemals geschrieben hatte. Er saß fest und hatte Zeit. Er würde sich jedes Wort zweimal überlegen, bevor er es niederschrieb. Jedes Wort wäre auf die anderen abgestimmt und jeder Satz in sich schon ein sprachliches Meisterwerk.

