Kitabı oku: «Ich überlebte Rumbula», sayfa 3

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Ghetto

Ende August leuchtete für die Rigaer Juden am finsteren Himmel ein kleiner Hoffnungsstrahl auf – aus dem Zentralgefängnis wurden mehrere Dutzend jüdischer Ärzte und Handwerker entlassen, die unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen verhaftet worden waren. Man wollte so gern hoffen, dass auch Tausende anderer Inhaftierter noch am Leben waren und nach Hause zurückkehren würden.

Doch das, was die wenigen Überlebenden und aus dem Gefängnis Entlassene berichteten, gab leider keinen Anlass für Hoffnungen. Die Gefangenen waren ohne Unterbrechung in großen Gruppen aus dem Zentralgefängnis weggebracht worden, aber keiner von ihnen wurde jemals wiedergesehen. Später erfuhr man durch die Einwohner der Gegend um den Wald von Biķernieki von ihrem Schicksal – den ganzen Juli über seien Lastwagen voller Menschen an ihren Häusern vorbeigefahren, und aus dem Wald seien ununterbrochen Schüsse zu hören gewesen. Bei der Rückfahrt seien die Lastwagen leer gewesen. Danach zweifelte niemand mehr daran, dass die Nazis sie dort im Wald von Biķernieki ermordet hatten.21

Doch was hatte es zu bedeuten, dass Schneider, Schuhmacher und andere Handwerker freigelassen werden? Vielleicht benötigen die Deutschen sie in ihren Armeewerkstätten? Aber die Ärzte? Jüdischen Ärzten ist es doch untersagt, Arier medizinisch zu behandeln und umgekehrt.

Verschiedene Theorien gingen herum. Vielleicht gestatteten die Nazis aus Furcht vor dem Ausbruch von Epidemien unter den Juden, die keinen Zugang mehr zu Krankenhäusern und anderer medizinischer Versorgung hatten, die Einrichtung einer kleinen Ambulanz für Juden am südlichen Ende des Ghettos an der Ecke Maskavas und Līvānu iela?

Alle Maßnahmen zur Isolierung der Juden von der „arischen“ Welt werden mithilfe der sogenannten Judenräte durchgeführt, die vermeintlich als Selbstverwaltungsinstanzen gebildet wurden.22 Um das Los der terrorisierten Juden zu erleichtern, wenden sich einige Mitglieder des Judenrates an die deutschen Behörden; bald jedoch stellt sich heraus, dass schon die Idee der Bildung eines Judenrates selbst eine insgesamt betrügerische Scheinaktion war, die nur dazu dient, die Vernichtung der Todgeweihten besser zu organisieren.

Am nächsten Tag nehme ich allen Mut zusammen, noch einmal in meine Wohnung zu gehen. Es ist ein beklemmendes Gefühl. Die Juden, die unterwegs sind, gehen mit auf Brust und Rücken aufgenähten Sternen auf der Fahrbahn. Wie gewohnt benutze ich den Gehsteig. Ein Jude hält mich an und belehrt mich:

„Sie sind wahrscheinlich gerade erst in Riga eingetroffen und wissen noch nicht, dass es uns Juden schon lange untersagt ist, den Gehsteig zu benutzen. Nehmen Sie sich in Acht, jemand könnte Sie sehen und melden! Dafür droht die härteste Bestrafung!“

Ich verlasse den Fußweg und sehe mich vorsichtig um. Die Juden gehen auf dem Kopfsteinpflaster, genauer gesagt, im Rinnstein zwischen Fahrbahn und Gehweg, um nicht unter die Räder von Fuhrwerken oder Automobilen zu geraten. Es ist gefährlich und erniedrigend und vermittelt den Ariern unmissverständlich, dass sie im neuen Europa über der „minderwertigen Rasse“ stehen.

Gebrandmarkt mit dem gelben Zeichen, das wie ein Herbstblatt an ihnen haftet, schreiten die Juden getrennt von den anderen in einer langen Reihe wie im Gänsemarsch dahin. Als ich dieses Bild zum ersten Mal erblicke, muss ich unwillkürlich lächeln, obwohl die Situation todtraurig ist.

Ich stehe vor meiner Wohnungstür und horche – alles ist still. Ich klingele. Die Verwalterin Krisone öffnet, übergibt mir entsprechend der Order von Polizist Svipste den Schlüssel und verlässt die Wohnung.

Ich beginne, meine Habe durchzusehen, und versuche herauszufinden, was mit meinen Schwestern geschehen sein könnte. In den Schränken finde ich Kleider von Sarah und Nechama, die sie beim Verlassen des Landes mit Sicherheit mitgenommen hätten. In der Wohnung herrscht große Unordnung, alles ist schmutzig und stinkt. Unsere besten Sachen und auch die Kisten mit der gestohlenen Kleidung in Sarahs Zimmer sind weggeschafft worden.

Ich habe Angst, mich länger dort aufzuhalten, und überlege, zu welcher meiner lettischen Bekannten ich gehen könnte, um ihnen meine Sachen anzubieten. Die Gedanken bleiben bei Frau Mežule stehen – ich kenne sie gut, sie ist eine meiner Vorkriegskundinnen. Ich beschließe, zu ihr zu gehen.

Als ich ankomme, begrüßt sie mich herzlich, und ich berichte ihr meinen Kummer. Ich zeige ihr Muster von Kleiderstoffen, sie müsse nur zur Krisone gehen und sich als meine Kundin ausgeben, die ihre Stoffe abholen wolle. Nachdem sie sich für Stoffart und -farbe entschieden hat, geht Frau Mežule zur Verwalterin und erhält das Geforderte auch.

Nach einer Weile will ich noch mal in meine Wohnung gehen, klingele zuerst aber an der gegenüberliegenden Wohnungstür bei Frau Lamberte23. Als sie mich erblickt, wird sie ganz aufgeregt und berichtet, dass es in der vergangenen Nacht hier ein fürchterliches Spektakel gegeben habe – man hätte mich gesucht. Gegen meine Wohnungstür sei so laut gehämmert worden, dass alle Nachbarn wach geworden seien und sie im Treppenhaus nachgesehen habe, was da los ist. Vor der Tür hätten zwei „Bebänderte“ gestanden und sie angeschnauzt, sie solle augenblicklich verschwinden, sonst würden sie schießen. Am Morgen habe sich herausgestellt, dass es sich um die Brüder der Verwalterin gehandelt habe, zwei freiwillige Handlanger der Nazis – Pērkonkrustler. Sie waren gekommen, um mich zu verhaften, angeblich als Kommunistin. Die Krisone habe später mit ihren prominenten Verwandten geprahlt und dem Status, den ihre Brüder unter dem neuen Regime innehätten.

„Sie haben Glück gehabt“, beendet die mitfühlende Nachbarin ihren Bericht, „dass Sie nicht zu Hause übernachtet haben – diese Bestien hätten Sie nicht am Leben gelassen.“

Mir ist nun klar, dass ich mich hier nicht mehr blicken lassen darf.

Ein nächster Erlass ordnete an, dass alle arbeitsfähigen Juden arbeiten müssen. Ich muss also schleunigst Arbeit finden. Sonja Bobrowa vermittelt mich als Dienstmagd an einen deutschen Offizier, der sich in der ehemaligen Wohnung ihres Bruders Dāvids in der Elizabetes iela Ecke Jumaras iela24 mit seinem Adjutanten einquartiert hatte. Sonjas Bruder Dāvids wurde in den ersten Tagen der Okkupation festgenommen und erschossen, seine Frau Šeina hingegen schaffte es, zusammen mit dem Kind, dem kleinen Ābrams, das Land zu verlassen. So war von der ganzen Familie nur noch Sonjas alte Mutter Estere in der Wohnung zurückgeblieben.25

Zu meinen Pflichten gehört es, die Wohnung des Offiziers sauber zu halten, die Wäsche zu waschen und andere Hausarbeiten zu verrichten. Am Anfang war das nicht so einfach, weil ich mich erst an die Pedanterie und Gepflogenheiten der Deutschen gewöhnen musste. Der Adjutant brachte mir aber bei, alles nach deutscher Art und Weise zu verrichten. Wie alle anderen Juden auch, erhielt ich für meine Arbeit weder Lohn noch Brot. Und trotzdem konnten mich viele um meine neue Arbeitsstelle beneiden, beispielsweise diejenigen, die den ganzen Tag unter freiem Himmel Reparaturarbeiten machen oder Schutt wegräumen mussten, oder auch die vielen Juden, die in verschiedenen deutschen Militäreinrichtungen schwere Zuchthausarbeit leisten mussten.

Als ich einmal von der Arbeit heimging, kam mir ein Junge in Schuluniform entgegen. Er kam näher und trat mir plötzlich so kräftig in den Unterleib, dass ich zu Boden aufs Pflaster fiel. Ich fing an zu weinen – nicht so sehr aus körperlichem Schmerz als wegen der erlittenen Erniedrigung. Nachdem ich wieder aufgestanden war, wandte ich mich an einen Polizisten, der an der Straßenecke stand, um mich zu beschweren.

„War er ein Jude oder ein Nichtjude?“, erkundigte sich der Polizist, offenbar gewillt, mich in Schutz zu nehmen.

„Das ist doch einerlei, er ist ein Rabauke. Schauen Sie, dort ist er, dieser Junge da in Schuluniform“, rief ich entrüstet aus.

Der Polizist lachte auf und erklärte:

„Er kann mit dir machen, was er will – dir ins Gesicht spucken, dich erwürgen, das ist sein Recht. Er ist hier der Herr!“

Mich packte das Entsetzen. In seinen Augen war ich weniger als ein Hund – ein Insekt, das jeder ohne jede Konsequenzen einfach zertreten konnte.

Mein Arbeitgeber, der Offizier, führt ein gutes Leben. Jeden Tag kommen lettische Fräuleins zu ihm. Sie schließen sich ein, lachen und vergnügen sich.

Eines Morgens, als ich zur Arbeit komme, treffe ich drei auffällig gekleidete junge Frauen an. Als sie mich sehen, fangen sie an zu lachen. „Die Jüdin ist zum Arbeiten gekommen? Na, heute wirst du eine Menge zu tun haben. Geh’ gleich mal zur Toilette, da wartet schon schöne Arbeit auf dich.“

Lachend schlagen die Mädels die Tür hinter sich zu. Sie hatten die Toilette absichtlich dermaßen besudelt, dass ich es nicht zu beschreiben vermag. Das alles spurlos in Ordnung zu bringen, war einfach ekelhaft. Ein derart niederträchtiges Verhalten hatte ich nie zuvor erlebt.

Eines Tages teilt mir der Offizier mit, dass ich ihn verlassen müsse, da eine neue Order ausgegeben worden sei: Alle bei Privatpersonen beschäftigten Juden sind zu entlassen. Ihm passt das gar nicht und er läuft im Zimmer auf und ab, wobei er laut überlegt:

„Schade, schade, eine sehr fleißige Frau. Hör’ mal, vielleicht bist du gar keine echte Jüdin? Vielleicht fließt ein ganz klein wenig arisches Blut in deinen Adern? Dann könnte ich erreichen, dass man dich bei mir lässt, ich würde sagen, dass du meine Geliebte bist. Du bist doch eine schöne Frau!“

„Nein, wo denken Sie hin!“ Ich schüttele den Kopf. „Ich bin durch und durch Jüdin.“

„Schade, wirklich schade, dann werden wir uns wohl trennen müssen“, wiederholt er mehrere Male.

So verlor ich meinen Arbeitsplatz und gleichzeitig auch den Passierschein für die Stadt – den sogenannten „ausveis“.26

Einige Tage später erfuhr ich, dass die Entlassung mit dem Befehl zur Zwangsumsiedlung aller Juden ins Ghetto in der Moskauer Vorstadt in Verbindung stand.27 Zu diesem Zeitpunkt wusste kaum jemand, was das Wort „Ghetto“ bedeutet. Es war ein abstrakter Begriff, obwohl niemand über etwas anderes sprach.

Sonja und ich beschlossen zusammenzubleiben. Wir gingen los, um das Ghetto in Augenschein zu nehmen und uns nach einer passenden Behausung umzusehen.

Wir sahen, dass für die Anlage des Ghettos das Gebiet von der Lāčplēša iela die Ludzas iela entlang bis hin zum Alten Jüdischen Friedhof mit einem Stacheldrahtzaun abgetrennt worden war.28 Ein düsterer und heruntergekommener Bezirk, in dem überwiegend arme Leute wohnen – russische Arbeiter und Handwerker sowie einige einheimische jüdische Familien.

Die Lebensumstände sind hier sehr viel schlechter als in anderen Rigaer Bezirken – viele Häuser haben weder fließend Wasser, noch sind sie ans Abwasser- oder Stromnetz angeschlossen – von Gas oder Zentralheizung ganz zu schweigen. Die kleinen Holzhäuser sind alt, niedrig und viele von ihnen stark heruntergekommen.

Da Juden nicht mehr in der Nachbarschaft von Nichtjuden wohnen dürfen, werden die bisherigen Einwohner der Gegend in die den Juden weggenommenen Wohnungen in „arischen“ Bezirken umgesiedelt.29

Es wird bekannt gegeben, dass im Ghetto pro Person nicht mehr als vier Quadratmeter Wohnfläche vorgesehen sind. Dreißigtausend Menschen müssen in den Gebäuden einiger weniger Häuserblocks untergebracht werden.30 Die Juden sind gezwungen, ihre gesamte Habe zurückzulassen, und dürfen nur das Allernotwendigste mitnehmen. Die Arier, die deren leere Wohnungen beziehen, sind die großen Gewinner.

Sonja und ich laufen durch die Straßen des Ghettos und entdecken ein Lebensmittelgeschäft. Aus allen Ecken von Riga sind schon viele Juden zusammengekommen. Einige stehen nach Lebensmitteln an. Dies ist das einzige Geschäft, wo Juden einkaufen dürfen. Im Laden sind viele Regale leer und die wenigen erhältlichen Lebensmittel sind von minderer Qualität. Manchen gelingt es, auf illegalem Wege von Ariern Lebensmittel zu erwerben.

In der antisemitischen Tageszeitung »Tēvija«31 wird das Warschauer Ghetto32, das bereits seit zwei Jahren existiert, als jüdisches Paradies dargestellt: Dort gebe es allen Komfort, sogar Cafés und ein Theater. Angesichts dessen, was hier vor sich geht – wie Familien und Waisen, denen alles genommen wurde, hierher umziehen müssen – sind wir der Ansicht, dass der Zeitungsartikel Hohn und Lüge ist.

Sonja Bobrowa ist verzweifelt: Sie hat eine kleine Tochter und eine schon sehr betagte Mutter – wie soll sie in derartigen Verhältnissen leben? Ich bin auch äußerst beunruhigt, Hunderte von Fragen peinigen mich, aber ich bin bemüht, meine Freundin zu beruhigen, sage, dass wir uns allmählich einrichten würden, wir werden genauso leben wie Tausende anderer Juden auch, einander helfen, arbeiten und das Beste hoffen.

Endlich haben wir eine kleine Wohnung in der Ludzas iela 37 gefunden und ziehen einige Tage später ein.33 Neben Wohnzimmer, Küche und Trockentoilette gibt es dort nur ein Schlafzimmer. Statt eines Badezimmers gibt es nur eine Spüle und einen Ofen in der Küche. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss und hat nur ein einziges Fenster, zu dem Sonjas Mutter hinausschauen kann, um sich die Zeit zu vertreiben.

Ich raffe mich noch einmal auf und gehe in meine alte Wohnung, um ein paar Sachen zu holen. Frau Krisone ist nicht zu Hause. Ich schnappe mir ein paar Decken, Bettwäsche, ein Tischtuch, Kleidung. Meine gutherzige Nachbarin, Frau Lamberte, ermuntere ich, zu nehmen, was ihr gefällt, solange die Krisone noch nicht wieder zurück ist – Möbel, Kleidung und andere Dinge.

Die Wohnung im Ghetto ist verdreckt und voller Parasiten. Die Wände wurden seit dem Bau des Hauses nicht mehr gestrichen. Die Dielenbretter sind ungepflegt und abgetreten. In diesem ganzen Schmutz haben sich Kakerlaken, Spinnen, Flöhe und Mäuse häuslich eingerichtet. Es vergehen mehrere Tage, bis Sonja und ich die Wohnung vollständig gereinigt und von Ungeziefer befreit haben. Der Geruch von Petroleum und Putzmitteln durchzieht das Haus. Mit Vorhängen, einem Tischtuch und einigen Bildern an den Wänden gelingt es, ein Gefühl von Häuslichkeit zu erzeugen.

Schließlich haben wir uns eingerichtet. Jeden Tag verbringen wir lange Stunden damit, nach frischen Lebensmitteln anzustehen. Noch mehr Zeit erfordert es, heimlich Konserven und geräucherte oder gedörrte Lebensmittel von wohlwollend gestimmten Ariern zu erstehen. Wir zahlen den doppelten Preis, da uns das Risiko, das sie eingehen, bewusst ist.

Durch das Wohnzimmerfenster beobachte ich, wie jeden Tag Männer- und Frauen-Kolonnen unter strenger Bewachung durch Zivilisten und deutsche Soldaten aus dem Ghetto zu verschiedenen Arbeitsstellen gebracht werden.

Wir haben uns noch nicht zum Arbeiten registrieren lassen. Wir warten so lange wie möglich damit ab. Niemand erhält Lohn für die Arbeit, auch keine Lebensmittel.

Am 24. Oktober ist das Ghetto mit einem hohen doppelten Stacheldrahtzaun vollständig von der Außenwelt abgetrennt. Das zentrale Zugangstor am Anfang der Sadovņikova iela wird geschlossen, in einer neben ihm aufgestellten Bude befindet sich die Wache. Von diesem Tag an ist der freie Verkehr zwischen der „arischen“ Welt und dem Ghetto unter Todesstrafe verboten.34

Abends statten häufig betrunkene SS- und Pērkonkrusts-Leute dem Ghetto einen Besuch ab und verursachen großes Chaos. Wehe dem, der ihnen über den Weg läuft! Die Opfer werden zusammengeschlagen und häufig auch an Ort und Stelle erschossen. Oft dringen sie in Häuser ein, rauben sie aus, schlagen die Einwohner zusammen und verschleppen den einen oder anderen. Keiner von ihnen kehrt zurück.

Die Wache überprüft penibel die Kolonnen, die ins Ghetto zurückkehren. Wenn die Nazis Lebensmittel bei jemandem entdecken, werden sie ihm abgenommen, und die Schutzleute lassen einen Hagel von Schlägen auf den Schuldigen niederprasseln. Viele werden zu Tode geprügelt, andere erschossen. Die Versorgungslage wird immer schlechter, im Laden gibt es kaum noch Lebensmittel, hauptsächlich nur verfaultes Gemüse. Bislang können die Menschen noch auf ihre Vorräte zurückgreifen, die sie als sie ins Ghetto zogen noch mitbringen konnten, doch in vielen Häusern herrscht bereits Hunger.

Der Winter 1941 bricht früh an und ist streng. Es gibt kein Brennholz. So kommt zum Hunger noch fürchterliche Kälte hinzu. Die Menschen fangen an, die wenigen dort wachsenden Bäume zu fällen, und verheizen ihre Möbel, um sich aufzuwärmen.

Wie können wir weiterleben? Diese Frage quält uns alle. Doch schon sehr bald „erlösen“ die Nazis die Ghettobewohner von dieser Sorge …

Die erste Aktion

Am 28. November erteilen die deutschen Verwaltungsbehörden den Befehl zur Liquidierung des Ghettos: Frauen mit Kindern, Greise und Arbeitsunfähige würden in ein anderes Lager verlegt werden, die arbeitsfähigen Männer wiederum in einem abgesonderten Teil des Ghettos bleiben und Arbeiten in der Stadt verrichten. Gleichzeitig wird bekannt gemacht, dass sich ein jeder reisefertig zu machen habe, wobei pro Person höchstens 25 Kilogramm Gepäck und Lebensmittel mitgenommen werden dürften. Dieser Befehl kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel und verursacht Panik und Chaos. Wohin sollen bei dem strengen Winterwetter so viele Menschen gebracht werden – und obendrein fast ohne Habe? Würden die Familien die Strapazen der ungewissen Reise ohne die Hilfe der Ehemänner, großen Brüder und Väter überstehen?

Doch zum Nachdenken ist keine Zeit – morgen, am 29. November, hat man bereit zu sein, das Ghetto zu verlassen und in ein anderes Lager umgesiedelt zu werden – so lautet die Anordnung.

Im Ghetto herrscht großer Tumult. Die Menschen wimmeln umher wie Ameisen in einem Ameisenhaufen – sie beginnen, fieberhaft Bündel und Rucksäcke mit den allernotwendigsten Dingen und Lebensmitteln zu packen. Die Leute heben die Gepäckstücke an, probieren, wie es sich damit gehen lässt, schätzen ab, wie viel zu tragen ein jeder die Kraft hat. Besonders tragisch ist die Situation für Mütter, die ihre Säuglinge auf dem Arm tragen müssen.

Es war eine grauenvolle Nacht vom Freitag, dem 28. November, auf den Samstag – die letzte Nacht vor der Trennung von den nächsten Angehörigen, den Vätern, Söhnen und Brüdern. Die Menschen begriffen, dass es eine Trennung für alle Zeit sein würde. Sie vermochten weder zu essen noch zu schlafen, aber auch Gespräche wollten nicht in Gang kommen. Gegen Morgen hatte man schon keine Tränen mehr zum Weinen, und alle waren von Hoffnungslosigkeit ergriffen.

Beim ersten Morgengrauen werden die Männer, die im Ghetto bleiben sollten, an der Ecke Ludzas iela und Sadovņikova iela zusammengetrieben. Sie müssen sich in einer Kolonne aufstellen und bei der bitteren Kälte stundenlang warten. Gegen ein Uhr mittags kommt die Anordnung, alle Männer innerhalb einer halben Stunde zu kasernieren. Dabei handelt es sich um einen mit Stacheldraht abgetrennten Teil des Ghettogeländes, der später die Bezeichnung „Kleines Ghetto“ erhielt. Es ist unmöglich, das Durcheinander und das Entsetzen zu beschreiben, die diese Anordnung auslöst. Die Männer laufen zu ihren Familien, um sich zu verabschieden, um ihnen Lebensmittelpakete zu übergeben oder in Empfang zu nehmen. Aufgrund der Erfahrungen der ersten Tage der NS-Okkupation dachten die meisten von uns, alles werde vorbereitet, die arbeitsfähigen Männern zu liquidieren, weshalb sie auf jede erdenkliche Weise versuchten, ihre halbwüchsigen Söhne und jüngeren Brüder ins Große Ghetto zu schleusen – ohne zu ahnen, dass genau das ihren Tod bedeutete.

Auch in unserer Wohnung sind alle beim Packen, bitten um Rat, was man unterwegs am meisten benötigen würde, alle sind außerordentlich beunruhigt, und trotzdem bemühen wir uns, logisch zu denken: Wenn man uns an einen Ort bringt, wo wir leben sollen, dann können wir so oder so nicht alles Nötige mitnehmen, wenn man uns hingegen … dann ist gar nichts mehr nötig.

Wir beschließen, nur das Allernotwendigste mitzunehmen – möglichst viele warme Kleidungsstücke übereinander anzuziehen und alles andere außer dem Reiseproviant seinem Schicksal zu überlassen.

In sämtlichen Häusern herrscht Aufregung und fiebrige Geschäftigkeit. Einige sind sich unschlüssig, was sie mit ihrem Schmuck machen, ob sie ihn mitnehmen oder verstecken sollen. Die einen nähen ihr Gold in die Kleidung der Kinder, andere wiederum suchen Verstecke in den Wänden, unter den Dielenbrettern oder im Hof, wo sie alles Wertvolle in der Erde vergraben.

Es wird Abend. Die Stimmung ist extrem angespannt. Kolonnen bewaffneter Schutzleute überschwemmen das Ghetto. Einige von ihnen sehen merklich angetrunken aus. Hier und da sind Schüsse zu hören. Es beginnt zu dämmern, immer häufiger ertönen Schüsse.

Gegen sieben Uhr abends kommen Schutzleute in unser Haus gestürmt und befehlen brüllend, sofort auf die Straße hinauszugehen und uns in Fünferreihen zu einer Kolonne aufzustellen. Die Ludzas iela ist bereits voller Menschen. Wir werden von der endlosen Kolonne aufgesogen.

Es herrscht klirrender Frost. Wir, die wir uns zu einer Fünferreihe aufgestellt haben, drängen uns eng aneinander, um ein wenig die Wärme zu halten. In der Nähe wird ununterbrochen geschossen. Nachdem wir so ein paar Stunden dagestanden haben, sind wir bis auf die Knochen durchgefroren. Schutzleute sind keine mehr da, sie sind weitergestürmt, wahrscheinlich treiben sie die Menschen aus anderen Teilen des Ghettos zusammen.

Vorsichtig schlüpfen wir zurück ins Haus, um uns aufzuwärmen. Auch andere folgen uns auf dem Fuß. Bald ist unsere Wohnung so voller Menschen, dass man weder herumlaufen noch sich hinsetzen kann. Alle drängen sich in der Wärme, irgendwie gegen die Wände und Fenster gelehnt, sogar ohne die warme Winterkleidung und die Rucksäcke abgelegt zu haben, denn jeden Moment kann der Befehl zum Aufbruch ertönen.

Stunde um Stunde vergeht mit Warten. Die Kinder fallen vor Erschöpfung in den Schlaf, auch der eine oder andere Erwachsene nickt ein, und allmählich werden alle vom Schlaf übermannt. Nie zuvor habe ich Menschen im Stehen schlafen sehen.

Gegen sieben Uhr morgens werden alle vom Gebrüll der Schutzleute geweckt:

„Alle raus auf die Straße!“

Draußen ist es noch dunkel. Verwirrt und verschlafen eilen die Menschen sich drängelnd aus dem Haus und stellen sich wieder in Fünferreihen auf. Bald darauf erscheinen Schutzleute mit Armbinden und geben bekannt, dass heute nur diejenigen abmarschieren würden, die im Teil des Ghettos zwischen der Lāčplēša iela und der Daugavpils iela wohnen.35 Die Übrigen dürften nach Hause gehen.

Wir laufen zurück, glücklich, dass wir noch eine Weile zu Hause bleiben und uns von der entsetzlichen Nacht erholen können. Man möchte so schnell wie möglich den Rucksack ablegen, sich hinlegen und aufwärmen.

Es beginnt zu dämmern. Ich trete ans Fenster, um nachzusehen, was draußen vor sich geht. Eine von bewaffneten Schutzleuten begleitete endlose Kolonne von Menschen zieht vorüber. Junge und Alte, Frauen mit Säuglingen auf dem Arm, Knaben und Mädchen, Geschwächte, die sich auf die neben ihnen Gehenden stützen – sie alle marschieren irgendwohin … Da höre ich plötzlich mehrere Schüsse und sehe unmittelbar vor unserem Fenster eine entsetzliche Szene. Ein deutscher SS-Mann schießt wahllos in die Reihen der Kolonne. Die von den Kugeln niedergemähten Menschen brechen auf dem Pflaster zusammen. Die Kolonne gerät ins Stocken, Panik bricht aus, die Leute drängen gegen die vorderen Reihen, steigen über die Verletzten hinweg, um schneller an dem bestialischen SS-Mann vorbeizukommen. In der Angst und Hast werden die am Boden Liegenden zertrampelt. Um voranzukommen, werfen einige ihre Bündel fort.

„Schneller, schneller!“, brüllen die Schutzleute unablässig, wobei sie mit ihren Peitschen fuchteln.

Ich beginne unbändig zu schreien:

„Sie erschießen Juden! Sie erschießen Juden! Kommt her, schaut, wie entsetzlich!“

Mit meinem Geschrei schrecke ich die Mitbewohnerinnen auf. Eine nach der anderen kommen sie zu mir und versuchen mich zu beruhigen. Sie fordern mich auf, vom Fenster wegzukommen, sonst würde man mich noch entdecken und auf uns schießen.

Ich kann mich nicht rühren, stehe da wie angewurzelt, als würde eine unsichtbare Macht mir sagen: „Du musst es sehen! Du bist Zeugin. Vor deinen Augen vollzieht sich die Tragödie deines Volkes. Präge dir die Ereignisse ein und vergiss sie nicht!“

Die Kolonne flutet ohne Ende dahin – halb laufen die Menschen, halb marschieren sie, dann stürzen sie wieder rennend vorwärts … Einer fällt hin, der Nächste fällt … Die Leute steigen über sie weg, von den Schutzleuten zur Eile getrieben: „Schneller, schneller!“

Ich bleibe bis mittags am Fenster stehen, bis der Zug des Grauens endet. Plötzlich herrscht Stille, keine lebende Seele ist mehr auf der Straße. Überall tote Menschen, das Blut sickert aus den reglosen Körpern. Es sind überwiegend Greise, Schwangere, Kinder und Behinderte – alle, die das unmenschliche Tempo des Zuges nicht durchhalten konnten.

Die Männer aus dem Kleinen Ghetto erhalten den Befehl, die Straßen innerhalb weniger Stunden zu säubern. Sie legen die Getöteten auf Schlitten und bringen sie zum Alten Jüdischen Friedhof. Ohne Abschied, ohne Segen … Die Leichen werden am Zaun auf einen Haufen gestapelt. Als der Frost ein wenig nachlässt, hebt man zwischen den alten Grabstätten eine große Grube aus und begräbt die Opfer. Uns ist untersagt, dort hinzugehen.

Am nächsten Tag fahren SS-Offiziere in einem offenen Pkw durch die Ghettostraßen. Es sind noch immer Blutlachen zu sehen, nur sind sie jetzt gefroren. Niemand verlässt das Haus. Zufrieden mit dem Ergebnis, fahren die Offiziere wieder weg.

Wohin wurden die Leute gebracht? Es ist nicht möglich, so viele Leute auf einmal zu töten! Genaues weiß niemand, aber jeder hat irgendeine Vermutung. Gerüchte machen die Runde, die Ghettobewohner seien in ein Lager in der Gegend von Salaspils gebracht worden. Wir glauben es und hoffen, dass man auch uns in das Lager bringen wird. Wir, die im Ghetto Gebliebenen, waren immer noch so naiv! Die Menschen dachten, dass es am wichtigsten sei, das Marschtempo durchzuhalten und ans Ziel zu gelangen. Deshalb war jeder bemüht, sich so gut wie möglich auf den Weg vorzubereiten, indem man trainierte schnell zu marschieren und zu rennen.

Seit mehreren Tagen liegt eine ungewöhnliche Stille wie in einer Geisterstadt über dem Ghettogelände. Man sieht weder Deutsche noch Schutzleute, es wird nicht geschossen … Bald tauchen aber wieder die ersten Menschen in den Straßen auf. Sie kommen zusammen und besprechen das Vorgefallene. Man kommt zu dem Schluss, dass sich etwas Derartiges schließlich nicht wiederholen könne, und nach und nach kommen alle in den gewohnten Ghettoalltag zurück. Obwohl sich die Menschen nur langsam von dem Schock erholen, stellt sich die Alltagsroutine wieder ein. Aus Furcht vor Hunger werden die Lebensmittel streng und sparsam auf Tage und Wochen im Voraus eingeteilt.

So wie die anderen haben auch wir das Haus aufgeräumt und geputzt, lassen aber dennoch für alle Fälle die Rucksäcke unausgepackt.

Auch der Ghettoladen hat wieder geöffnet, nur jetzt hat sich die Situation verändert. Vor der „Massenevakuierung“ konnte man nur begrenzte Mengen und die auch nur mit Lebensmittelkarten kaufen. Jetzt werden diese nicht mehr verlangt: Kohl, Kartoffeln, Rüben, Möhren – alles ist in der benötigten Menge erhältlich. Zwar sind die Lebensmittel qualitativ minderwertig, aber die ausgehungerten Leute kaufen sie trotzdem.

Durch Öffnungen in der Umzäunung kommen immer häufiger Männer heimlich aus dem Kleinen Ghetto, ihre Angehörigen zu besuchen, und erzählen, wie verzweifelt die Leidensgenossen sind, die niemanden mehr haben, zu dem sie kommen können.

Am 3. Dezember erreichen uns Gerüchte, dass in der Stadt Näherinnen benötigt werden. Sie würden im Ghetto bleiben können und nicht ins Lager geschickt. Viele Frauen suchen so eine Chance auf Rettung, indem sie vorgeben, Näherinnen zu sein, auch wenn sie nicht die geringste Fertigkeit in diesem Handwerk haben. Mehrere Frauen kommen zu mir, um zu lernen, wie man mit einer Nähmaschine umgeht, zuschneidet und näht. – Am selben Tag beginnt in der Mazā Kalna iela die Registrierung der Näherinnen. Als ich eintreffe, stehen bereits 300 oder 400 Frauen in einer langen Schlange an. Nach der Registrierung werden alle nach Hause geschickt, um Proviant für zwei Tage zu holen und sich zu festgesetzter Stunde an derselben Stelle zu versammeln, danach würden sie in die Stadt gebracht.

Als wir mit unseren Bündeln eintreffen, werden wir bereits von den Schutzleuten erwartet. Wir werden in einer Kolonne aufgestellt und ziehen los. Während wir durch die „arische“ Stadt marschieren, beobachte ich, dass viele Passanten stehen bleiben und uns mit traurigen Blicken nachsehen. Einige weinen sogar, wischen sich die Tränen ab. Offenbar wussten die Stadtbewohner bereits von dem traurigen Ende der verschleppten Juden.

Wir werden durch die ganze Stadt zum Termingefängnis36 am Bahnhof Brasa geführt. Nach einem kurzen Aufenthalt im Gefängnishof werden wir auf einen Dachboden gebracht, der völlig überfüllt ist. Dort treffen wir auf Jüdinnen, die schon vor uns aus dem Ghetto hergebracht worden sind. Wir stehen dicht aneinandergedrängt da, hinsetzen kann man sich nur auf die Knie der Nebenstehenden. Die Tür wird geöffnet, und einige weitere Neuankömmlinge werden noch in den Raum geschoben. Es ist derart stickig, dass einige Frauen ohnmächtig werden. Wasser haben wir nicht, und es gelingt uns nur mit Müh’ und Not, die Ärmsten wieder zur Besinnung zu bringen.

Bei diesem Luftmangel verbringen wir die Nacht. Von den Wachleuten taucht keiner mehr auf. Wir teilen den mitgebrachten Proviant miteinander, leiden aber schrecklichen Durst. Es scheint, als seien wir eigens hergebracht worden, um gequält zu werden. Am nächsten Tag öffnet sich endlich die Tür, und der Wachtposten fragt:

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