Kitabı oku: «Osterläuten», sayfa 2

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4.

Jemand hatte den Garten in all den Jahren gepflegt. Die Sträucher zurückgeschnitten, die Beete in Schuss gehalten. Hie und da spitzten Krokusse aus dem Rasen, und der Weißdorn in der Hecke bildete erste grüne Blättchen aus. Der Regen hatte aufgehört, der Himmel riss ein Stück auf. Mia schritt langsam durch den Garten. Unter ihren Boots schmatzte der Boden. Vor der Pergola standen große Terrakottatöpfe, in denen Reste von Tomatenpflanzen kompostierten.

Sie war nie wieder hier gewesen, seit André ausgezogen war. Das Studium hatte sie abgelenkt, Bamberg lag seinerzeit in weiter Ferne. Dann war sie zurückgekehrt. Wahrscheinlich, weil jeder irgendwann zurückkehrte und die Konfrontation mit irgendetwas suchte. Und wenn es nur die Konfrontation mit der Wirklichkeit war, dass sie keinen Job fand mit ihrem Abschluss. Jedenfalls nicht so schnell und nicht so leicht, wie sie es sich erhofft hatte.

Damals, zu Ostern, hatte Monika die Sträucher mit selbst bemalten Ostereiern geschmückt. Einen Strauch mit gelben, einen mit blauen. Sie hatte Spaß daran gehabt. Eine Macherin, die andere an ihrer Kreativität gern teilhaben ließ.

Mia blieb stehen. Die Fenster sahen sauber aus, als hätte jemand sie gerade erst geputzt. Bestimmt würde das Haus nicht allzu lange leerstehen. Nicht in der Lage. Sie trat in die Pergola. Stühle und Tisch duckten sich unter einer Plastikfolie. Bald würde man wieder draußen sitzen können. Wie damals, in jenem Sommer, als Mia und Monika beratschlagt hatten. Was soll ich studieren?, war Mias drängendste Frage gewesen. Sie hatte so viele Interessen. Jede Entscheidung für ein Studienfach bedeutete eine Entscheidung gegen ein anderes.

Eine Hummel surrte durch die Luft.

So früh im Jahr?

»Aber es ist doch bald Ostern«, hörte Mia eine Stimme.

Sie fuhr herum. Da war niemand. Das Haus lag leer und still. Kein Lebenszeichen.

Mias Herz hämmerte. Es tat ihr nicht gut, hier zu sein. Monika war tot. Das bewies der Schädel. Sie und André hatten eine Aufgabe vor sich: herauszufinden, was mit Monika geschehen war.

Jemand hatte sie umgebracht. Suizid kam einfach nicht infrage. Monika Böhme war ein lebensbejahender, offener, praktischer Mensch gewesen. Sie und André hatten Träume und Pläne: Dieses Haus, anschließend eine Familie, möglichst zwei Kinder, ein Hund. Das hatte Monika oft gesagt und dabei herzlich gelacht. Weil der Hund unbedingt zu dem Bild einer perfekten Familie dazugehörte. Genauso wie das Haus mit Garten.

Auch im Job gab es keine Probleme. Als Monika verschwand, hatte sie längst eine Festanstellung in einem großen Architekturbüro. Eine kluge, ehrgeizige Frau, die ihr Job mit Freude erfüllte.

Nein. Sie hatte sich nicht umgebracht. Sie war getötet worden, und der Mörder lief seit elf Jahren da draußen in der Welt herum, ohne je belangt worden zu sein. Ein Mensch, den niemand als Täter in Betracht gezogen hatte. Und Monika Böhme bestand nur noch aus einer Datenspur in der Vermisstenkartei der Polizei.

Ich muss herausfinden, was passiert ist. Wenigstens das.

Die Wolken zogen sich weiter zurück, Sonnenstrahlen brachten den nassen Garten zum Glitzern. In Kürze würden Büsche und Bäume üppig blühen. Mia schluckte die Tränen hinunter. Sie drückte die Nase gegen die Fensterscheibe. Im Wohnzimmer, von Monika und André so liebevoll eingerichtet, standen nun schlichte Möbel, frisch aus dem IKEA-Katalog: Tisch und Stühle, ein Sofa, eine Schrankwand. Wahrscheinlich vermietete besagte Firma das Haus möbliert.

Ich muss Monikas Mörder finden.

Mia hatte das Gefühl, der Satz sei tief aus ihrem Inneren hervorgekrochen. Ein unumstößlicher Entschluss. Eine Entscheidung, an der sie sich festhalten konnte.

Tief durchatmend wandte sie sich vom Haus ab und ging langsam zum Grundstück ihrer Eltern zurück.

Die Meldung im Internet – die würden nicht nur sie und André gesehen haben.

Sondern sehr wahrscheinlich auch der Mörder.

5.

»Merkst du was? Das ist eine Behörde«, flüsterte André Mia zu. »Trostlos wie damals.«

Sie hockten auf grünen Stühlen. In einem Gang mit grauen Türen.

Mia zuckte mit den Achseln. »Die kennen uns hier nicht mehr.«

Sie waren Stammgäste in der Polizeidirektion gewesen. Über Monate. Damals. 2008. Mit einem Mal kam es Mia so vor, als sei sie wieder in diese Phase des Suchens und Niemals-Findens zurückkatapultiert worden.

»Es ist, als wären wir gestern erst hier gewesen«, murmelte sie.

Wie aus dem Nichts materialisierte sich eine junge, durchtrainierte Frau vor ihnen. Cargohosen, Pullover. Hochgestecktes braunes Haar.

»Hauptkommissarin Hanne Schuster. Ich leite die Vermisstenabteilung.«

Damals war es ein Mann gewesen. Ein runder, gemütlicher Herr Ende 50 mit Glatze. Der genoss vermutlich mittlerweile seine Pension.

André erhob sich.

»André Böhme. Und das ist Mia Wagner. Eine Freundin unserer Familie.«

Mia schüttelte Frau Schusters Hand. Sie bewunderte, wie André so sachlich reden konnte. In dieser Situation. Wo sie gleich offiziell aussagen würden, dass die Internetzeichnung Monika abbildete.

»Kommen Sie bitte mit. Darf ich Ihnen Kaffee anbieten?«

Sie bejahten beide. Nahmen Platz in einem Büro, durch dessen Fenster sich ein wenig Sonne bemühte. Auf dem Sims standen Töpfe mit Kräutern, dazwischen ein Osternest mit bunten Eiern.

»Ich habe die Kräuter nur wegen ihres Duftes«, erklärte die Kommissarin. »Zum Kochen komme ich selten. Also: Sie sind hier wegen unseres Aufrufs.«

»Mia hat mich heute Morgen angerufen, weil …« André schluckte.

»Sie haben Monika Böhme erkannt?« Hanne Schuster warf einen Blick auf einen Stapel Unterlagen auf ihrem Schreibtisch. Es hörte sich an, als lobte sie ihre Besucher wegen der korrekten Antwort auf eine Quizfrage.

»Genau.« André räusperte sich. Er war blass im Gesicht.

Die Tür ging auf, ein Mann brachte drei Tassen und eine Kanne, Milchtüte und Zuckerdose.

»Danke.« Hanne Schuster nickte ihm zu. »Bedienen Sie sich bitte.«

Sie bemühte sich um eine freundliche, empathische Atmosphäre. Deshalb der Kaffee, und Koriander und Rosmarin auf der Fensterbank. Für all die Leute, die ihr Leben lang auf der Suche sein würden. Nach dem Menschen, der ihnen am meisten bedeutet hatte. Mia roch den Duft des Kaffees. Nicht so gut wie bei André, aber akzeptabel.

Die Kommissarin reichte ihnen ein Blatt. Die Zeichnung. Ausgedruckt. Gestochen scharf.

»Wir hatten anfangs absichtlich keine Haare hinzugefügt. Nach Ihrem Anruf hat ein Mitarbeiter ein Foto von Monika Böhme unterlegt und eine konkretere Zeichnung angefertigt.«

Sie hielt ihnen ein weiteres Papier hin.

Mia nahm es. Eine Zeichnung von Monika. Schmaler. Mit den kurzen krausen Locken. Sogar den Ohrringen. Verblüffend.

»Charakteristisch an einem menschlichen Gesicht ist vor allem das Verhältnis zwischen Augen- und Nasenpartie. Außerdem natürlich die Länge und Breite.«

»Meine Frau war sehr zierlich. Die erste Zeichnung im Netz«, sagte André mit neuerlichem Räuspern, »wirkte etwas zu rund.« Seine Stimme brach. »Verzeihung«, brachte er hervor.

Hanne Schuster goss Kaffee ein. André starrte auf seine Tasse. Seine Hände zitterten. Er verkrampfte sie auf seinem Schoß.

»Mir ist bewusst, dass Ihnen diese Situation viel abverlangt«, sagte die Kommissarin. »Gibt es etwas, was ich zunächst für Sie tun kann?«

Mia berührte behutsam Andrés Arm. »Wir fragen uns«, sagte sie, »warum nur der Schädel gefunden wurde.«

»Da stehen wir bisher vor einem Rätsel.« Sie blätterte in den Akten. »Vom Zustand des Schädels her zu schließen, wurde er mit einem scharfen Messer oder einer Axt vom Rumpf getrennt. Es ist allerdings nicht mehr zu erkennen, ob dies vor oder nach ihrem Tod erfolgte. Sie hatten also recht, als sie damals Suizid kategorisch ausschlossen.«

»Ja«, sagte André. Seine Hautfarbe wurde eine Spur fahler.

»Sie sagten auch, Ihre Frau wäre niemals allein im Wald wandern gegangen.«

»Nein. Sie war ein Stadtmensch.« André schluckte hart. »Hat jemand ihr im Wald aufgelauert? Um ihr den Kopf abzutrennen? Glauben Sie das? Wer würde so etwas tun?«

»Der Fundort muss nicht der Tatort sein. Zunächst werden wir einen DNA-Abgleich machen, um den eindeutigen Beweis zu erbringen, dass es sich wirklich um den Schädel Ihrer Frau handelt, Herr Böhme. Vergleichsmaterial haben wir, das stellt kein Problem dar.«

»Wann wissen Sie Bescheid?«

»In wenigen Tagen, noch vor dem Osterwochenende.«

»Und dann? Was geschieht dann?« Endlich griff André nach der Kaffeetasse. Verschüttete ein klein wenig. Trank.

Mia beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Als er die Tasse abstellte, merkte sie, dass sie die Luft angehalten hatte.

Hanne Schuster faltete die Hände. »Dann übernimmt die Mordkommission. Die Kollegen werden zunächst versuchen, einen Bezug zum Fundort herzustellen.«

»Ich möchte die Stelle sehen.« André sah die Kommissarin fest an.

»Das lässt sich einrichten. Ich bringe Sie hin.«

»Was für ein Bezug sollte das sein?«, fragte Mia.

»Wie gesagt, der Fundort muss nicht der Tatort sein. Daher gilt es zu klären, wie der Schädel in dieses Waldstück kam. Wurde sie in der Nähe umgebracht? Oder an einem völlig anderen Ort, und der Mörder hat den Leichnam im Wald abgelegt? Dies sind Fragen, die wir hoffentlich klären werden.«

»Und wo sind die anderen Überreste?« André klang wütend.

Hanne Schuster ließ sich davon nicht aus der Fassung bringen.

»Wir wissen nicht, wo Ihre Frau umgebracht wurde. Ob es überhaupt in dem Waldstück war. Wir sind dabei, das Gebiet, in dem wir den Schädel gefunden haben, weiträumig und gründlich abzusuchen. Allerdings verschleppen Tiere Knochen oft über viele Kilometer.«

Mias Magen rebellierte. Ihr wurde bewusst, dass sie außer Kaffee heute noch nichts in den Magen bekommen hatte. Es war schon nach 2 Uhr.

»Tiere?«, krächzte sie.

»Das wäre die wahrscheinlichste Erklärung. Wenn der Leichnam im Wald liegt, wird er zur Beute der Natur, so grauenvoll der Gedanke uns auch vorkommt.«

Wolken schoben sich vor die Sonne, im Büro wurde es unversehens dunkel. Hanne Schuster knipste die Schreibtischlampe an. Eine Weile sagte niemand etwas.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

Mia starrte auf die Kaffeekanne.

»Ich glaube nicht«, antwortete André. »Vielen Dank.«

»Wenn es Ihnen passt, würde ich Sie morgen Vormittag zum Fundort begleiten. Kann ich Sie in Ihrer Wohnung in der …«, sie blätterte in den Dokumenten, »Königsstraße abholen?«

»Sicher.« André stand auf. »Wiedersehen.«

Mia folgte ihm.

An der Tür sah sie sich um. Hanne Schusters linke Gesichtshälfte lag im Schatten. Die andere Seite wurde von der Schreibtischlampe beleuchtet. Sie notierte etwas.

»Ihr Vorgänger, der den Fall damals bearbeitete …«, begann sie.

»Pius Geuter?«

»Ja. Er ist nicht mehr im Dienst?«

»Er ist fast 70. Nein, nicht mehr im Dienst.« Die Kommissarin lächelte. Im scharfen Licht der Lampe und nur halb zu sehen, wirkte ihr Gesicht düster und streng.

Dienstag der Karwoche

6.

Der Hang war steil. Mia begann zu schwitzen. Der Tag hatte verregnet begonnen, doch nun schien seit einer Stunde die Sonne und brachte die feuchten Äste und Zweige zum Glitzern. Es roch nach vermoderndem Laub. Hinter ihr keuchte André. Er war nie sehr sportlich gewesen, eher die typische Couchkartoffel. Vor Mia bahnten sich die langen Beine eines Polizisten den Weg, der sich als Chef der Mordkommission Harald Eyrich vorgestellt hatte. Ein groß gewachsener, drahtiger Mann mit kurzen blonden Haaren, aber auffallend langen Koteletten. Ganz am Ende ging Hanne Schuster. Auf der Fahrt durch das Ellertal hatte Mia die meiste Zeit geschwiegen und mit verhangenem Blick aus dem Beifahrerfenster geblickt.

»Hier wurden Fichten gefällt, die durch die Trockenheit der letzten beiden Sommer abgestorben sind.« Eyrich blieb stehen und deutete in den Wald hinein, wo vereinzelt Baumstümpfe zu sehen waren. ».Dabei haben die Waldarbeiter den Schädel gefunden.«

Weder Mia noch André hatten zu fragen gewagt, es war auch so klar genug: Eyrichs Anwesenheit in diesem Wald bedeutete, dass Monika Böhmes Fall von der Vermisstenabteilung zur Mordkommission gewechselt hatte. Jemand hatte Monika ermordet. Mia biss sich auf die Lippen. Jetzt war es amtlich.

In diesem Wald? Was hatte Monika hier gesucht? Sie war ganz bestimmt kein Mensch gewesen, der freiwillig mit Rucksack und Wanderschuhen durch das Gestrüpp gestreift wäre. Monika war der Typ, der es sich im Café gemütlich machte, um Zeitung zu lesen oder einfach Löcher in die Luft zu gucken.

»Dass es keine anderen menschlichen Überreste in dem Gebiet gibt, muss zunächst einmal nichts heißen. Ihre Frau«, Eyrich sah André offen an, »starb vor elf Jahren. Tierverbiss ist bereits in einem kürzeren Zeitraum ein Thema.«

Obwohl ihr Eyrichs Direktheit einen Schauder über den Rücken jagte, war Mia dankbar, dass er nicht groß um das Furchtbare herumredete.

»Ist es noch weit?«, ächzte André.

»Nur ein paar Minuten.« Eyrich marschierte weiter.

Der dicht bewaldete Hang links fiel steil ab. Felsbrocken lagen im Laub, Totholz hatte sich daran verkeilt. Ein Eichhörnchen flitzte vorbei, Mia verlor es rasch aus den Augen. An manchen Stellen wagten sich Schneeglöckchen und Märzveilchen ans Tageslicht. Rechts neben dem Fußweg erkannte Mia die Spuren eines schweren Fahrzeugs. Wahrscheinlich der Traktor der Waldarbeiter. Regenwasser hatte sich in den Furchen gesammelt. Mia zog die Jacke aus und lockerte ihren Schal. Wartete auf André, der zurückgefallen war. Er warf ihr einen dankbaren Blick zu.

»Bist du okay?«, fragte sie halblaut.

Er zuckte die Achseln.

»Und du?«

»Geht schon.«

Sie stapften weiter. Wenig später sah Mia das rot-weiße Absperrband.

»Das Gebiet ist gestern weiträumig abgesucht worden«, erläuterte Eyrich, während er das Band anhob und die anderen hindurchschlüpfen ließ. »Außer dem Schädel gab es keine brauchbaren Spuren.«

»Ist sie hier umgebracht worden?« Außer Atem sah André sich um. Sie hatten eine Art Plateau erreicht, der Hang zur Linken fiel nun fast senkrecht ab. Ein paar Sträucher krallten sich daran fest.

»Um das mit Sicherheit sagen zu können, ist zu viel Zeit vergangen.« Eyrich streckte den Arm aus. »Bitte, nur noch ein paar Schritte.«

Eine Markierung steckte im Boden.

»Hier lag der Schädel.«

Mia biss sich auf die Lippen. Es klang so normal. Da liegt ein Schädel. Na gut, kann passieren. Doch statt schockiert und traurig fühlte sie sich einfach nur wütend.

»Wenn wir nur wüssten, was genau passiert ist«, flüsterte sie.

»Das wird Gegenstand der Ermittlungen sein«, erwiderte Hanne Schuster. Ihre Stimme klang weich und rauchig. »Wir tun unser Möglichstes.«

»Elf Jahre … mein Gott, Monika!« André verbarg sein Gesicht in den Händen.

Mia machte einen Schritt auf ihn zu.

»Ich bin da«, sagte sie leise.

Er mochte es nicht, berührt zu werden, wenn er ex­trem aufgewühlt war. Aber der Klang ihrer Stimme drang zu ihm durch.

»Danke«, wisperte er.

7.

»André braucht noch ein bisschen Zeit.« Mia rutschte unruhig auf dem Stuhl vor Kommissar Eyrichs Schreibtisch herum. Dort stand der gleiche Teller mit Ostereiern wie auf Hanne Schusters Fensterbank. Allerdings gab es hier keine Kräuter.

»Das ist mehr als verständlich. Wenn Sie nichts dagegen haben, stelle ich Ihnen ein paar Fragen zum Tag von Monika Böhmes Verschwinden.«

Also begann es von vorn. Mia unterdrückte ein Stöhnen. Die Polizei hatte alles in den Akten, was ihr Gedächtnis damals hergegeben hatte. Mehr war da nicht.

»Ich bin mir bewusst, dass elf Jahre eine lange Zeit sind«, fuhr Eyrich fort.

Mia meinte, so etwas wie Mitgefühl in seinen Augen zu sehen.

»Allerdings spielt die Zeit einem Ermittler manchmal in die Hände. Menschen sehen Dinge anders, gewichten sie differenzierter als zu dem Zeitpunkt, an dem das Verbrechen geschah.«

»Ich mache mir Sorgen!«, platzte Mia heraus. »Wurde sie am Tag ihres Verschwindens umgebracht? Oder hat jemand sie über längere Zeit festgehalten? Solche Sachen gibt es doch, oder?«

»Der pathologische Befund sagt uns, dass sie bereits seit mehr als zehn Jahren tot sein muss. Natürlich kann man nichts ausschließen. Bisher allerdings gibt es keine Anhaltspunkte, dass jemand sie gefangen gehalten hat. Wir müssen ganz von vorn anfangen.« Eyrich legte die Hand auf einen Stapel Papiere. »Ich will ehrlich mit Ihnen sein. Ein Durchbruch wäre am wahrschein­lichsten, wenn wir einen neuen Zeugen oder neue Beweise gegen eine bestimmte Person auftreiben könnten.«

»Aber niemand stand damals wirklich unter Verdacht!«

»Sie waren 18 und wohnten mit Ihren Eltern in unmittelbarer Nachbarschaft der Böhmes?« Eyrich schlug eine Akte auf.

»Ja. Ich stand kurz vor dem Abitur.«

»Ihre Eltern, Simone und Carsten Wagner, waren mit den Böhmes befreundet?«

»Schon lange. Schon bevor Monika und André ins Nachbarhaus zogen.«

Eyrich machte sich einen Vermerk.

»Welchen Eindruck hatten Sie damals von der Ehe der Böhmes?«

Mia strich sich das Haar aus der Stirn. Du liebe Zeit, jetzt ging das wieder los. Die Ermittlungen hatten sich festgefahren. André hatte als Hauptverdächtiger gegolten, allerdings war diese Spur bald fallen gelassen worden. Tatsächlich schien nichts absurder als der Gedanke, dass André seine Frau umgebracht haben könnte.

»Sie waren ein Herz und eine Seele.«

»André Böhme gab seinerzeit zu Protokoll, dass er seine Frau selten sah. Aus beruflichen Gründen.«

»Er hatte ein Restaurant übernommen und arbeitete bis in den späten Abend, und Monika als Architektin hatte tagsüber zu tun und musste früh raus.«

»Das muss frustrierend gewesen sein.«

Mia dachte an Andrés Gewissensbisse. Die heute so harsch schienen wie damals: »Ich hatte keine Zeit mehr für Monika. Wir haben uns praktisch nicht mehr gesehen.«

»Monika war eine Zeit lang arbeitslos und jobbte nur freiberuflich. Sie suchte dringend eine Festanstellung und war froh, als sie die endlich hatte. Sie hätte diesen Beruf nicht freiwillig aufgegeben.«

»Und Herr Böhme?«

»Er liebte das Restaurant. Es war sein Traum.«

»Nach dem Verschwinden seiner Frau hat er es verkauft.«

Mia zuckte die Achseln. »Er war völlig fertig und konnte nicht mehr so viel schuften.«

Eyrich nickte.

»Sie scheinen gut befreundet mit Herrn Böhme.«

»Ich war mit Monika befreundet. Wir haben uns gut verstanden, und sie hat mir viel geholfen. Als ich mich für ein Studium interessierte und nicht wusste, ob es das Richtige für mich ist, haben wir stundenlang diskutiert. Über Gott und die Welt.«

»Was haben Sie denn studiert?« Eyrich betrachtete sie ehrlich interessiert. Seine blauen Augen schienen Mia ausgerechnet jetzt zum ersten Mal richtig anzusehen.

»Kunstgeschichte und Ethnologie.«

Die brotlosen Fächer, die nur echte Idealisten anstreben.

»In Bamberg ist Kunstgeschichte ja beinahe ein Muss. Bei der Historie!« Er lächelte. Zum ersten Mal. Wahrscheinlich hatte er in der Mordkommission nicht viel zu lächeln.

»Das liegt nahe. Im Moment habe ich allerdings keinen Job. Ich habe darüber nachgedacht, eine Lehre als Restauratorin anzuhängen. Für die praktische Seite.«

Und weil ich sonst nichts zu tun habe.

»Was hält Sie davon ab?«

»Nichts«, entgegnete Mia kurz angebunden. »Ich bin gerade dabei, alles zu organisieren.« Ihre persönliche Misere ging den Kommissar nichts an.

»Herr Böhme war am Tag, als seine Frau verschwand, vormittags mit seinem Beikoch auf dem Großmarkt und danach im Restaurant.«

Ich weiß, dachte Mia. Das perfekte Alibi. Als hätte André Monika jemals Schaden zufügen können. Er hat sie auf Händen getragen.

»Aus dem Protokoll geht hervor, dass er, nachdem er nach Hause kam und seine Frau nicht vorfand, bei Ihren Eltern klingelte. Obwohl es sehr spät war.«

»Ja. Ich schlief schon. Es war nach Mitternacht.« Mia fror plötzlich.

»Ihre Eltern haben eine Zahnarztpraxis.«

»Genau.«

Muss ich wirklich jedes Detail bestätigen?

»Sie wurden wach, als Herr Böhme kam, nicht wahr?«

Mia schwieg.

»Bitte schildern Sie mir, woran Sie sich entsinnen.«

Als könnte jemand so einen Moment vergessen. Andrés Stimme, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte. »Monika ist weg!« Seine Verzweiflung, die rasch in lautes Weinen überging. Er war völlig aus dem Häuschen.

Die Erinnerung an jene Nacht erwischte Mia kalt. Sie hoffte, ihre Stimme würde nicht zittern, als sie sagte:

»André stand total unter Schock. Kam heim, Monika war nicht da. Er dachte, sie würde schlafen, deswegen war er ganz leise reingegangen und hatte erwartet, sie im Schlafzimmer zu finden. Das war leer, das Bett gemacht, nirgends auch nur eine Spur von ihr.«

»Fiel ihm nicht auf, dass ihr Auto nicht da war?«

»Die Böhmes wollten damals ein Carport bauen. Monika hatte es geplant. Die entsprechende Stelle war schon betoniert. Solange sie ihre Autos nicht auf das Grundstück fahren konnten, parkten sie an der Straße. Das klappte nicht immer vor der Haustür, weil eben viele Anwohner ihre Autos am Gehsteig abstellen.«

Ich klinge wie auswendig gelernt.

»Fahren Sie fort.«

»André war aufgeregt, sprach laut, weinte. Davon wachte ich auf. Als ich hörte, worüber er und meine Eltern sprachen, rannte ich runter zu ihnen. André packte mich an den Schultern und fragte mich, ob ich wüsste, wo Monika wäre. Ich hatte keine Ahnung.«

»Ich nehme an, Sie haben sich mittlerweile oft gefragt, ob Frau Böhme Ihnen nicht doch einen Anhaltspunkt gegeben hat, was sie an jenem Tag vorhatte?«

»Ich habe mich Millionen Mal genau das gefragt. Ich weiß es nicht.« Mia starrte auf ihre Hände, die verkrampft auf ihrem Schoß lagen. Ihr Handy klingelte. Sie ignorierte es.

»Gehen Sie ruhig ran.«

Genervt kramte Mia es aus der Jackentasche.

»Hallo?«

»Lars hier. Du wolltest doch den Schrank anschauen?«

Dieser beknackte Schrank.

»Es ist was dazwischengekommen. Können wir das auf später verschieben?«

»Ich habe dir ja gesagt, es interessieren sich mehrere Leute dafür.«

Ein Kleiderschrank für 30 Euro, kaum gebraucht. Ihre Sachen lagerten seit Monaten in Kartons. Sie hatte kein Einkommen. Zumindest keines, das man so nennen könnte.

»Hör mal, ich habe gerade einen wichtigen Termin. Ich schaue später vorbei, in Ordnung?«

»Wie du willst, aber wenn das Teil dann weg ist …«

Mia legte auf.

Eyrich betrachtete sie nachdenklich.

»Ich habe auf eine Kleinanzeige geantwortet. Es geht um einen Schrank.« Sie steckte das Smartphone weg.

»Was geschah noch an jenem Abend?«

»Wir gingen mit André zu ihm rüber. Dabei fiel uns auf, dass Monikas Handy auf dem Nachttisch lag. Ausgeschaltet. Vielleicht war auch der Akku leer.«

Eyrich starrte in seine Unterlagen.

»War das ungewöhnlich? Dass sie ihr Handy zu Hause ließ, wenn sie wegfuhr?«

»Eventuell brach sie kurz entschlossen oder in Eile auf. Es stellte sich raus, dass sie sich den Nachmittag spontan freigenommen hatte.«

Eyrich nickte. »Könnte sein.«

»Sie war ein bisschen schusselig. Verlegte öfter ihren Schlüssel. Verwechselte Termine. Manchmal trug sie zwei verschiedene Socken. Rot und rosa. Oder so.«

»Ein sympathischer Zug.«

Sie sehen mir nicht so aus, als wenn Ihnen das passieren würde, dachte Mia. Der Mann war akkurat gekleidet. Edeljeans, Hemd, Pullunder. Nur an seinen Budapestern klebte noch Laub vom Wald.

»Nehmen Sie es mir nicht übel«, fuhr er fort. »Monika Böhme war zum Zeitpunkt ihres Verschwindens 34 Jahre alt. Sie waren 18. Eine ungewöhnliche Konstellation für eine so enge Freundschaft.«

»Warum?« Mia fragte nur pro forma. Auf dem Altersunterschied war die Polizei damals schon herumgeritten.

Eyrich hob die rechte Hand, als wollte er sich entschuldigen. »Nun, junge Menschen treffen sich doch eher mit Leuten ihrer Altersgruppe.«

»Das heißt ja nicht, dass ich keine anderen Freunde in meinem Alter hatte. Aber ich mochte Monika sehr, und wir haben uns einfach gut verstanden. Ich konnte ihr alle meine Sorgen erzählen. Zum Beispiel, dass ich mit Mathe auf Kriegsfuß stand. Monika hat mir oft geholfen, sie war ein Mathe-Crack.«

Womöglich schluckte der Kommissar eine praktische Erklärung besser als das, was Mia damals so glücklich gemacht hatte: eine Freundin zu finden, der sie durch und durch vertraute und die nicht so oberflächlich war wie die Mädchen in Mias Schule, sondern eine Frau mit Reife und Tiefgang, die aber nicht die Härte und Autorität ihrer Mutter ausstrahlte.

Ich muss ihren Mörder finden. Es gibt nichts, was ich sonst für sie tun kann.

»Bevor die Böhmes in Ihre Nachbarschaft zogen, kannten Sie die Eheleute bereits?«

Das hatte er vorhin schon gefragt.

»Ja, meine Eltern und die Böhmes waren befreundet.«

»Aber Ihre enge Beziehung zu Monika begann erst, als die Böhmes nebenan wohnten?«

»Das stimmt«, antwortete Mia.

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