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Kitabı oku: «Der Tee der drei alten Damen», sayfa 15

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Neuntes Kapitel

1

Herr Staatsrat Aristides Martinet saß im Hintergrund des schon ganz geleerten Saales einem Manne gegenüber, der den weißen Anzug eines Koches trug. In der linken Mundecke des Herrn Staatsrates baumelte eine Meerschaumpfeife, aus der alle drei Sekunden kurze, kleine Rauchwolken stiegen. Der Mann im Kochdreß verteilte mit affenartiger Geschwindigkeit Karten, die Herr Martinet mit Gemütlichkeit zwischen seine dicken Finger steckte.

O'Key durchquerte den Saal (die Stühle standen schon auf den Tischen, die meisten Lampen waren ausgelöscht, nur über Herrn Martinets Glatze leuchteten noch drei Tulpenlampen) und blieb vor den Spielern stehen. Herr Martinet, in Hemdsärmeln, blickte auf.

»Äpfuuu«, sagte er zur Begrüßung, »was ist los, Sie Perle unter den Journalisten? Was wollen Sie? Mich in meinem Pikett stören? Setzen Sie sich und halten Sie vorerst Ihren Mund. Sie waren heut morgen beschwipst… Keine Widerrede. Sie waren beschwipst. Protest nützt nichts. Sie bekommen vorläufig auch nichts zu trinken. Sie dürfen mir beim Spiel zusehen. Pikett ist ein altes ehrwürdiges Spiel, merken Sie sich das. Man spielt es zu zweit, auch das ist ein Vorteil. Die Hauptsache, junger Freund, beim Pikett, ist das Abwerfen. Sehen Sie, hier liegen fünf Karten, die darf ich aufnehmen, sobald ich mich entschlossen habe, fünf Karten, die ich nicht brauchen kann, aus meinem Spiele auszumerzen. Ohne Bedenken opfere ich alle meine Karos, denn Pik ist immer meine Farbe gewesen. Und auch die Cœurs kann ich nicht brauchen…« Herr Martinet klatschte drei Karos und zwei Cœurs auf den Tisch, hob die Ecken der vorrätigen und blinzelte mit kindlicher Freude. Es waren fünf Piks.

»Sagen Sie mir, Patron«, wandte sich Herr Martinet an den Mann im Kochdreß, »wo wollen Sie diesmal liegen?« Seine Stimme wurde zärtlich. »Sie sind ›capot‹ lieber Freund, Sie machen nicht einen Stich. Ich habe sieben Karten in Pik mit einer hohen Septim, sieben und siebzehn macht vierundzwanzig und drei Asse sind siebenundzwanzig… siebenundzwanzig«, und Herr Martinet begann mit sanften Bewegungen eine Karte nach der anderen auf den Tisch zu legen und zählte dazu: »achtundzwanzig, neun… sechzig, einundsechzig macht siebenzig mit dem letzten und vierzig, weil Sie ›capot‹ sind, macht hundertundzehn… Wir sagen hundertundzehn und schreiben sie auch, was mit den hundertundzwanzig, die der Herr Staatsrat schon früher gemacht hat, unzweifelhaft zweihundertunddreißig macht, worauf sich der Herr Staatsrat bedankt und noch eine Flasche Neuenburger leeren wird, die Sie, Patron, wohl oder übel werden stiften müssen. Dann können Sie uns allein lassen, der junge Mann hier platzt vor Neuigkeiten, die Sie nichts angehen, Patron, Sie könnten ein verkappter Spion sein, nicht wahr?… Hähä, Hähähähä…«

»Sie sind lustig, Herr Staatsrat«, stellte O'Key fest.

»Nein, lieber Freund«, wehrte Herr Martinet ab, »im Gegenteil, ich bin wie alle Humoristen ein großer, ein schwerer Melancholiker. Und wie alle Melancholiker im Grunde Nihilist, oder wenn Ihnen diese Benennung Angst macht, ein Skeptiker. Nihil das heißt nichts, es ist ein schönes Wort, ich glaube an nichts, ich bemühe mich, alles amüsant zu finden, das ist das einzige, was ich für das Fortbestehen des Staatsrates Martinet machen kann. Sonst würde sich nämlich besagter Staatsrat ohne weiteres aufknüpfen, trotz der schauerlichen Lücke, die dieser Tod in der Genfer Politik hinterlassen würde. Ich finde die Menschen so komisch, lieber junger Freund, und nur weil ich sie komisch finde, gelingt es mir, weiter zu leben. Fände ich die Menschen nicht lächerlich, was hätte ich dann vom Leben? Äpfuuuh! Und noch dazu bei dieser Hitze!«

Das Taschentuch trat in Aktion und Herr Martinet putzte so sorgfältig seine Glatze, daß sie das Bild der drei Tulpenlampen zurückwarf, wie ein konvexer Spiegel.

»Und?…« fragte der Staatsrat.

»Ich brauche Ihren Rat«, sagte O'Key, »ich kenne mich nicht mehr aus. Ich weiß, ich sollte mich schämen, so etwas zu gestehen, aber… Fräulein Lemoyne ist seit heute nachmittag verschwunden, und da hab ich gedacht, Sie könnten vielleicht Nachforschungen…«

»Oh, und als Landsmann Edgar Wallaces denken Sie natürlich sogleich an finstere Gewölbe, teuflische Henker und mordgierige Affen, die Ihre Dulcinea auf eine Guillotine schnallen wollen… Trösten Sie sich, der Held kommt immer in der letzten Minute zur Rettung und dann wird geheiratet. Ja, ja, das Heiraten! Das haben Sie noch vor sich, junger Freund… und ich werde einmal meine Haushälterin heiraten. Denn nähme ich ein junges Mädchen – doch genug, wir wollen ernst bleiben. Fräulein Lemoyne ist verschwunden, sagten Sie? Und was nun? Haben Sie nachgeforscht? Nicht?… Weil Sie keine Zeit hatten? Und weil ich Ihnen heute morgen sagte, daß meine Kollegen vom Staatsrat zum Papa Martinet kommen, wenn sie nicht ein und aus wissen, haben Sie sich gedacht: Gehen wir den alten Martinet bei einem Pikett stören. Ist sonst noch etwas vorgefallen? Wenn ich raten soll, muß ich zuerst alles wissen.«

»Alles!« sagte O'Key mit einem müden Versuch, zu scherzen. »Wollen Sie dem lieben Gott Konkurrenz machen und allwissend werden? Wenn ich alles wüßte, brauchte ich nicht zu Ihnen zu kommen. Glauben Sie mir, Herr Staatsrat, ich bin auch nicht von heute. Ich habe mancherlei erlebt…«

»Glaub ich, mein Freund, glaub ich…«

»Aber was ich heute habe erleben müssen! Angefangen hat es mit Ihren Andeutungen über alte Damen, die Tee trinken und aufgehört hat es mit… nun ja, mit dem Verschwinden von Fräulein Lemoyne…«

»Sie wollten etwas anderes sagen, O'Key«, sagte Herr Martinet ernst, klopfte mit seiner Pfeife gegen einen riesigen porzellanenen Aschenbecher und stopfte sie nachher bedächtig. »Es ist noch etwas anderes passiert und dieses andere hat Sie mehr aus der Fasson gebracht, als das Verschwinden Fräulein Lemoynes. Aber wenn Sie's mir nicht erzählen können, so lassen Sie's sein. Behalten Sie's für sich. Ich bin nicht neugierig; nur möcht ich Ihnen einen Rat geben. Lockern Sie sich, verkrampfen Sie sich nicht, sprechen Sie den Fall vor sich hin, als Monolog meinetwegen, als Plan, sagen wir für einen Artikel. Ich werde hin und wieder leise Fragen in Ihren Monolog spießen, Sie werden antworten. Und was es auch sei, was Sie mir anzuvertrauen haben, ich werde es nicht verwerten. Stumm werde ich sein, wie das Grab, sowohl dem Kommissar Pillevuit gegenüber als auch gegen meinen Staatsanwalt. Es wird begraben bleiben in dieser Brust«, Herr Martinet schlug sich auf den gepolsterten Oberkörper; – das gab ein Geräusch, wie es beim Zurechtklopfen von Federkissen entsteht, »aber zuerst trinken Sie. Der Neuenburger ist annehmbar, er klärt die Gedanken und erschlägt sie nicht, wie Ihr grauenhaftes, schottisches Gesöff.«

»Auf Ihr Wohl!« sagte O'Key und stieß mit dem Staatsrat an.

»Danke«, erwiderte Herr Martinet, »ich werde mir Mühe geben, es mir wohl sein zu lassen.«

»Aber wo soll ich beginnen?« O'Key stellte sein Glas ab und blickte durch den leeren Saal. Vor den Spiegelscheiben der Brasserie rollten die eisernen Läden mit donnerndem Getöse herab. Herr Martinet ließ in Zwischenräumen von drei Sekunden kleine Rauchwölkchen steigen. Er schwieg. Ein paar Fliegen summten verschlafen.

2

»Beim Anfang natürlich«, sagte Herr Martinet und blickte auf. »Sie erhielten ein Telegramm…«

»Zwei Telegramme sogar«, unterbrach O'Key hastig. »Eines vom großen Chef und eines von meiner Zeitung.«

»Und was sagten diese Telegramme?«

»Abreiset Genf stop untersuchet Giftmord Crawley stop Ferien verschiebet stop Globe.«

»Und das andere?«

»Chiffriert, Vertragsentwürfe seien verloren gegangen, ich solle mich beim Colonel melden.«

»Und dieser Colonel?…«

»Ist Kammerdiener bei Sir Bose.«

»Ja, ja«, seufzte Herr Martinet. »Heutzutage herrscht überall der Grundsatz: Warum etwas einfach machen, wenn es kompliziert auch geht.«

»Sehr richtig«, bestätigte O'Key. »Wann gedenken Sie Ihre Aphorismen in Buchform herauszugeben, Herr Staatsrat?«

»Weiter, weiter, Herr O'Key, ich bin nicht empfindlich. Mich können Sie nicht aufregen…«

»Das glaube ich, Herr Staatsrat. Aber meinen Sie nicht auch, man könnte Ihren Aphorismus auch auf den ganzen Fall anwenden?«

»Finden Sie?« fragte Herr Martinet und ließ auf seiner Stirnhaut ein sanftes Wellengekräusel erscheinen. »Vielleicht haben Sie recht, dann wäre aber die Kompliziertheit schon eine halbe Erklärung. Also, die scheinbare – ich sage mit Absicht die scheinbare – Kompliziertheit des Falles ist ihnen aufgefallen. Wollen Sie mir nicht diese Kompliziertheit näher erörtern?«

»Nun«, meinte O'Key leicht verärgert, »das scheint mir doch klar. Ein sonst ganz harmloser Mensch, korrekt bis zum Äußersten, zieht sich mitten in der Nacht auf einem öffentlichen Platze aus und stirbt. Ein Apotheker, der einen miserablen Ruf als Rauschgiftlieferant hat, wird nach einer Nacht, in der es reichlich lärmend und liturgisch in seinem Geschäfte zugegangen ist, am Morgen bewußtlos aufgefunden und stirbt im Spital. Ein Professor, der sich früher mit okkulten Phänomenen beschäftigt hat, der Morphinist ist, kennt die beiden. Dann finde ich bei dem Apotheker das Stück eines Rezeptes – Hexensalbe – sowie eine Münze, die ohne Zweifel auf das Vorhandensein einer gnostischen Sekte schließen läßt…«

»Woher stammt eigentlich Ihre profunde Kenntnis gnostischer Systeme und Ihre Bekanntschaft mit Attalus III. Philometor, letztem König von Pergamo?«

»Angelesene Weisheit, Herr Staatsrat. Als Achtzehnjähriger habe ich für die ›Versuchung des heiligen Antonius‹ von Flaubert geschwärmt. Und da kommen alle diese gnostischen Sekten vor. Und ein Onkel von mir hat sich sehr für Hexenprozesse interessiert, in einem seiner Bücher war das Rezept vollständig. Es war also nicht schwer, es zu entziffern. Und wenn Sie einmal in Lewins ›Gifte in der Weltgeschichte‹ blättern, werden Sie sicher auf Attalus stoßen; Sie sehen also, ich habe die reine Wahrheit gesprochen, als ich Kommissar Pillevuit mitteilte, das sei alles Bluff.«

»Entschuldigen Sie sich nicht, O'Key; Bluff ist die ernsteste Sache der Welt. Ohne Bluff würde die Welt stillstehen. Glauben Sie mir, auch das Sonnensystem, in dem wir leben, ist nur ein astronomischer Bluff. Ihr Bluff hat übrigens einen Nutzen gehabt, die Leute haben Angst bekommen…«

»Welche Leute, Herr Staatsrat?«

»Das möchte ich eben gerne selber wissen. Sehen Sie, O'Key, ich bin auch in einer schwierigen Situation. Ich habe fast alle Fäden in der Hand, ich kenne die alten Damen, die Tee trinken, sie wären ganz harmlos, diese drei alten Damen, aber es steckt einer dahinter, den ich nicht finden kann…«

»Der Meister der goldenen Himmel, der Mann mit dem hölzernen Gesicht…?«

»Richtig, O'Key, eben gerade dieser Herr. Er paßt verteufelt auf. Kommissär Pillevuit hat Ihnen doch die Geschichte des Bankkassiers und der verschwundenen 30 000 Franken erzählt, nicht wahr? Und daß wir nun Jane Pochon mit dieser Angelegenheit in Verbindung bringen können, nicht wahr? Dabei ist die Jane Pochon im Grunde eine harmlose Natur, hysterisch, jawohl, aber was heißt schließlich hysterisch?«

»Harmlos? Die Pochon?«

»Harmlos in dem Sinne, lieber O'Key, daß sie nur Befehle ausführt. Ich kann aber eine Entlarvung, wie man sagt, nicht meinem guten Kommissär übertragen. Der würde mit seinen riesigen Pfoten alles zerquetschen. Darum hab ich immer auf einen Menschen gewartet, der mir helfen könnte, die Sache in Ruhe aus der Welt zu schaffen. Wir können keine großen Prozesse brauchen, verstehen Sie? Ich habe einen Abscheu gegen Skandale, begreifen Sie? Sie werden mir helfen, O'Key. Sie müssen schauen, daß Sie von den alten Damen einmal zum Tee eingeladen werden.«

»Herr Georg Whistler, dem ich heute abend vorgestellt worden bin, hat eine Einladung erhalten…«

»Äpfuuuh«, schnaufte Herr Martinet, »wenn ich nicht eine so ausgezeichnete Kinderstube genossen hätte, würde ich jetzt fluchen. Diese Frechheit! Aber desto besser. Sie wissen doch, wer George Whistler ist?«

»J, Herr Staatsrat.«

»Gut, ich werde mit dem Maha… mit Herrn George Whistler sprechen. Wir werden einen Plan vereinbaren.«

»Kennen Sie den Sohn der Witwe Pochon?«

»Den Jules? Von weitem, ja. Warum?«

»Halten Sie den auch für harmlos?«

»Ach, lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem ›harmlos‹. Im Grunde genommen sind alle Menschen harmlos. Sie tun nur manchmal so, als ob sie dämonisch wären. Jules?« Herr Martinet ließ zehn Rauchwölkchen aus seiner Pfeife steigen, so daß seine Nachdenklichkeit gerade dreißig Sekunden währte. »Einen Raubüberfall hat er auf alle Fälle auf dem Kerbholz. Das weiß ich ganz bestimmt. Damals ist ihm dafür eine tüchtige Tracht Prügel verabfolgt worden. Ich habe mir sagen lassen, er habe sich an einem seiner Bestrafer gerächt, und den andern wolle er sich auch noch kaufen…«

»Von wem haben Sie sich das sagen lassen, Herr Staatsrat, von Ihrer geheimen Privatpolizei?«

»Sie brauchen nicht anzüglich zu werden, werter Freund. Ich gleiche hierin Napoleon, und es ist nicht die einzige Ähnlichkeit, die ich mit diesem Genie teile. Sie wissen, daß der Kaiser seine privaten Spitzel hatte, die Fouché überwachen mußten, aber Fouché war klüger als der Kaiser und kaufte sich die Spitzel. Mir kann man meine Privatspitzel nicht fortkaufen. O nein! Die sind dressiert, sage ich Ihnen! Und ich brauche sie. Man muß so etwas haben, will man in der Politik Erfolg haben. Ich kann dann meinen Untersuchungsrichter, meinen Staatsanwalt überraschen. Das gibt so kleine Triumphe, die als Annehmlichkeiten des Lebens nicht zu verachten sind.«

»Aber Herr Staatsrat, ich bitte Sie, erklären Sie mir, wie Sie indische Petroleumquellen, amerikanische Missionare als Delegierte der Standard-Oil, Geheimagenten der Sowjets, basilidianische Gnosis, Giftpflanzen, Hexenrezepte, indische Maharajas, an lebendem Material experimentierende Psychologen, verschwundene Psychiatrinnen, als irrsinnig eingelieferte harmlose Menschen, den Meister der goldenen Himmel mit dem Holzgesicht, gestohlene und wieder auftauchende Mappen, und zum Schluß noch teetrinkende alte Damen unter einen Hut bringen wollen!« O'Key hatte sich in Eifer geredet und wischte sich die Stirn.

»Äpfuuuh«, sagte Herr Martinet, wieder wanderte sein Taschentuch über die Glatze. »Glauben Sie nicht, daß ein italienischer Salat zuerst aus Blumenkohl, Bohnen, Tomaten, Rettich, Eiern, Öl, Senf bestanden hat? Ist die Mischung dieser Ingredienzen ein Mysterium? Oder, um mich Ihrer Begriffsfähigkeit noch besser anzupassen: Sie gehen von dem falschen Standpunkt aus, daß ein sogenanntes kriminelles Problem mit einem Schachproblem vergleichbar sei. Natürlich, diese Theorie finden Sie in allen Schmökern vertreten. Und bei einem Schachproblem handelt es sich selbstverständlich darum, den Schlüsselzug zu finden. Dieser Schlüsselzug ist gewöhnlich so haarsträubend idiotisch, daß er in einer regelrechten Partie unmöglich wäre, weil in einer Partie eben zwei Persönlichkeiten miteinander kämpfen, die seelische Verfassung der beiden Kämpfer, ihr Charakter doch die ausschlaggebende Rolle spielt. Darum ist eben ein Schachproblem etwas Ausgefallenes, Totes. Das Leben, mein lieber Journalist, ist viel komplizierter. Nehmen wir Ihren Freund zum Beispiel, den russischen Agenten Nummer Zweiundsiebzig, der sich hier Baranoff nennt. – Staunen Sie nicht, ich sage Ihnen ja, ich bin auf dem laufenden. – Also, dieser Baranoff: er ist nicht nur Mitglied der Dritten Internationale, bewegt sich also nicht nur, wie der schwarze Läufer im Schachspiel, auf den schwarzen Diagonalen, Ihr Baranoff ist daneben noch ein Mensch, der sich außerordentlich kompliziert benimmt, weil er egoistisch ist, weil die Ideen, auf die er schwört, auch wenn sie volksbeglückend sind, nicht notwendig auch das Individuum Baranoff befriedigen. Wer garantiert Ihnen, daß Baranoff, den ich übrigens schon seit langer Zeit im Auge behalte – er führt interessante Telephongespräche, wissen Sie das? – nicht auch für die eigene Tasche arbeitet? Das nur als Beispiel.«

»Was für Telephongespräche, Herr Staatsrat?«

»Das möchten Sie gerne wissen? Sie waren doch heute morgen in Bel-Air? Nicht wahr? Ist da nichts vorgefallen?«

»Doch, wir haben einiges, das heißt Fräulein Lemoyne hat mit meiner Hilfe einiges aus einem Patienten namens Nydecker herausgeholt, und nachher ist der Patient an einer harmlosen Spritze gestorben…«

»Was Sie nicht sagen? An einer Spritze gestorben? Und wenn ich Ihnen nun verrate, daß gestern ein Anruf Baranoffs aufgefangen worden ist, der besagte, der Patient müsse stumm gemacht werden, würden Sie dann die Spritze auch als harmlos bezeichnen?«

»Aber warum haben Sie dann das Unglück nicht verhindert, Herr Staatsrat?«

»Weil ich gerne Pikett spiele. Und die Hauptsache beim Pikett ist das Ablegen, verstehen Sie? Karten, die man nicht brauchen kann, legt man ab, nimmt neue auf. Das habe ich Ihnen doch erklärt, nicht wahr? Ich will keine Probleme. Heutzutage hat alle Welt Probleme. Wir ersticken in Problemen. Ich liebe nur Tatsachen. Die Tatsachen, die mir nicht passen, lege ich ab, und spiele mit den Tatsachen, die mir besser passen. Nicht? Wollen Sie meine Methode einmal probieren?«

»Aber gern…« O'Key saß da mit offenem Mund, raffte sich zusammen und versuchte zu spötteln: »Ich hab gar nicht gewußt, daß Sie eine ganz neue Methode zur Lösung krimineller Rätsel ausgearbeitet haben!«

»Spotten Sie nur, junger Freund, ich habe doch recht. Und ich will es Ihnen beweisen. Haben Sie gehört, daß im letzten Jahresbericht der kantonalen Irrenanstalt Bel-Air mitgeteilt wird, die Aufnahmen hätten sich gegen die früheren Jahre auffallend vermehrt? Alle diese Leute zeigten die gleichen Symptome: die Männlein und Weiblein, die eingeliefert wurden, hörten Stimmen, fühlten sich verfolgt, sprachen vom Fliegen. Das steht natürlich nicht im Jahresbericht, das hab ich sonst erfahren. Viele wurden schon nach Ablauf einer Woche, manche nach zwei Wochen als gebessert entlassen. Und die Ärzte haben sich über diese prompten ›Remissionen‹ weidlich gewundert. Verstehen Sie, wohinaus ich will?«

»Nein, Herr Staatsrat.«

»Nicht? Und dabei haben Sie eine Freundin, die Seelenärztin ist! Dabei zitieren Sie tiefsinnige Stellen, von römischen Historikern, die den Feldzug gegen die Parther schildern und von einem Kraut erzählen, das die Menschen wahnsinnig mache, bevor es sie töte. Lassen Sie sich einmal von Fräulein Lemoyne etwas über die Meskalinversuche Behringers erzählen. Das sind Tatsachen, keine Probleme. Tatsachen, die ebensoviel wert sind wie eine hohe Septim im Pikett und man ist am Ausspielen. Und daß ich am Ausspielen bin, wenn die Partie beginnt, dafür will ich garantieren. Was brauchen Sie noch mehr? Stört Sie die Rolle des Professors? Besessenheit braucht nicht immer dämonisch zu sein. Es gibt auch eine wissenschaftliche Besessenheit. Der alte Professor hat doch allerlei ›Probleme‹ gewälzt, hat Schlafkuren gemacht. Und Schlafkuren wozu? – Um Geisteskrankheiten zu heilen, nicht wahr? Aber kennen Sie die wissenschaftliche Mentalität? Ich will es Ihnen leichtfaßlich darstellen: es genügt den Herren nicht, einen Menschen gesund zu machen, sie wollen, wenigstens die Besessenen unter ihnen, auch die Ursache der Krankheit wissen. Mit andern Worten: es muß bewiesen werden, wie aus einem geistig Gesunden ein Verrückter wird. Und da haben Sie ja alles beieinander, die ganze Theorie unseres Professors: Geisteskrankheiten, hat er einmal gesagt, sind erstens Vergiftungen und zweitens Besessensein. Was wollen Sie eigentlich noch mehr? Sie haben einen okkulten Zirkel und Sie haben die Gifte. Können Sie sich einen günstigeren Boden für Versuche vorstellen? Ich bin sicher, daß Sie etwas Ähnliches gedacht haben, heute morgen, bei dem Assoziationsversuch…«

»Wer hat Ihnen davon erzählt?« fragte O'Key angstvoll.

»Oh«, sagte Herr Martinet, klopfte mit heftigem Geräusch die Pfeife aus, leerte sein Glas auf einen Zug und blies sich auf, »der Staatsrat Martinet ist alt, zugegeben, er ist dick, auch zugegeben – aber glauben Sie, daß dies ein Grund ist, von klugen Frauen verachtet zu werden?«

»Sie wissen, wo Fräulein Lemoyne ist?«

»Aber natürlich, lieber Freund, ich weiß, wo sie ist. Sie ist in Gefahr, vielleicht – nein, brausen Sie nicht auf. Die Gefahr ist vorbei. Ich habe ihr Instruktionen gegeben. Kurz bevor Sie kamen, wurde mir angeläutet. Es ist alles in Ordnung. Sie schläft jetzt. Stören Sie sie nicht. Aber Fräulein Lemoyne hat leider nicht den Meister zu sehen bekommen. Er war abwesend. Er hatte zu tun. Trägt Fräulein Lemoyne eigentlich gerne kurze Ärmel? Nein? Nun, Sie werden sich mit dem Zeichen in der Ellbogenbeuge befreunden müssen. Sie wird es auch tragen…«

»Das Hexenzeichen?« fragte O'Key atemlos.

»Das Hexenzeichen!« Herr Martinet nickte lange und ausgiebig.

»Eine Tätowierung! Ich habe es schon immer behauptet.«

»Ja, Master O'Key, hier haben Sie die richtige Methode gebraucht. Pillevuit hat's mir erzählt. Sie haben zwar wieder geblufft und etwas von der Teufelskralle erzählt… Die Teufelskralle, die in den Hexenprozessen des Mittelalters eine große Rolle spielte. Aber hat je einer der Historiker der Hexenprozesse den einfachen Gedanken erfaßt, es könne sich bei diesem Teufelszeichen um ein Erkennungsmerkmal handeln, gewissermaßen um eine Mitgliedskarte des ›Vereins zur Hebung des Flugverkehrs auf den Blocksberg‹…«

»Aber die gebündelten Drähte? Die gebündelten Drähte, die man in drei Fällen gefunden hat…«

»Wenn Sie Geheimnisse vor mir haben wollen, mein Herr«, sagte Herr Martinet mit eisiger Verachtung, »dürfen Sie sich nicht versprechen. Ich weiß nur von zwei Fällen, bei denen die gebündelten Drähte gefunden worden sind: bei jenem Sekretär und beim Apotheker Eltester. Ist ein neuer Fall zu Ihrer Kenntnis gelangt?«

»Das heißt… nein… oder…«

»Geben Sie sich keine Mühe, O'Key. Ich habe so eine Ahnung, als sei heute abend noch etwas passiert – und Sie waren dabei. Sie haben Verschwiegenheit versprochen. Gut. Halten Sie Ihr Versprechen. Ich will Sie nicht drängen. Es geht dann alles im gleichen Aufwaschen. Wir sprachen von den Drähten. Nicht wahr, die Drähte paßten so gut zu der Theorie der intravenösen Injektion, der alte Professor hat ja selbst in diese Richtung gewiesen – begreiflich übrigens. Sie waren wohl nie neugierig genug, sich den Unterarm des Professors zeigen zu lassen? Nicht? Er hat oft versucht, falsche Spuren vorzutäuschen. Natürlich, Morphinisten gebrauchen derartige Drähtchen, um ihre Hohlnadeln zu reinigen. Aber Sie wissen doch sicher, gerade so gut wie ich, wie man tätowiert. Spielen da nicht auch Drahtbündel eine Rolle? Und nun gehen Sie weiter. Es ist doch unpraktisch, jedesmal den Ärmel zurückstreifen zu müssen, um das Erkennungszeichen zu zeigen. Wie leicht kann man für verrückt gehalten werden. Aber das Drahtbündel als Erkennungsmarke, denken Sie an meinen Mitgliedskartenvergleich, ist es nicht praktisch, unauffällig?«

»So daß Sie, Herr Staatsrat…«

»Jetzt werde ich Sie einmal historisch verblüffen. Um 1850 lebte in Münster ein Mechaniker namens Braunscheidt, der ein Kurpfuscher war. Um Nervenschmerzen zu heilen, nahm er ein Nadelbündel, stach damit in die schmerzende Stelle und rieb dann die leichtblutenden Wunden mit Krotonöl, einem ziemlich gefährlichen Hautreizmittel, ein. Durch diese Behandlung wurde die Stelle später dunkel pigmentiert. Diese Kur wurde dann nach dem Mechaniker Braunscheidtismus genannt. Und die Nadelbündel hießen ›Lebenswecker‹. Sie müssen immer eins bedenken, Verrücktheiten gehen nie verloren!«

Herr Martinet gähnte laut und gründlich. Dann sagte er noch:

»Wir wollen schlafen gehen, O'Key. Morgen, eigentlich sollte ich ›Heute‹ sagen, wird es einen anstrengenden Tag geben. Auf welche Zeit lautete die Einladung, die der Ma…, die Herr George Whistler erhalten hat?«

»Auf fünf Uhr, morgen nachmittag.«

»Nun ja, das ist ganz günstig. Rufen Sie mir den Patron, ich werde heute hier übernachten. Wenn ich jetzt heimginge, könnte es mir vielleicht passieren, daß ich mich um vier Uhr morgens auf der Place du Molard splitternackt wiederfinde. Und wissen Sie, ich bin für die Moral meiner Polizisten verantwortlich.«

»Sie meinen, Herr Staatsrat…«

»Ich meine nicht, ich weiß. Es ist diese Nacht bei meinem Freunde Whistler eingebrochen worden. Das gefällt mir nicht. Als Gegenzug ist zwar heute nachmittag beim Professor eingebrochen worden – aber, sicher ist sicher. Was ist los, O'Key?«

O'Key hatte während des Gespräches in all seinen Taschen nach einem Schnupftuch gesucht. Jetzt stieß er plötzlich ein leises »Ah!« aus, zog seine Hand aus der Tasche, auf seinem Daumen bildete sich ein kleiner Blutstropfen. O'Key wurde bleich.

»Schnell«, keuchte er. »Herr Martinet, binden Sie mir den Arm ab. Sonst…«

»Na, na«, sagte Herr Martinet gemütlich, »tragen Sie Klapperschlangen oder Kobras in Taschenformat bei sich? Was ist los? Ich will Ihnen ja gern die Freude machen mit einer Bandage… aber wozu, lieber Freund?« Klein und dick stand Herr Martinet vor O'Key, der auf einen Stuhl gesunken war.

»Hier, sehen Sie, der Giftpfeil, der heute auf den Professor abgeschossen worden ist…« O'Key zog den winzigen Kautschukball aus der Tasche, die Spitze der Hohlnadel war leicht von Blut gerötet. Herr Martinet fiel auf einen Stuhl und begann zu lachen. Es war ein elementares Ereignis, dieses Lachen. Herrn Martinets Fettpolster hüpften, sie hüpften am Kinn, auf der Brust, über dem Bauch, schließlich sprangen zwei Knöpfe seiner Weste ab und schepperten über den Boden.

»Er will bluffen!« keuchte Herr Martinet, gluckste wie eine Henne, bekam den Schluckauf. »Er will bluffen, der junge Mann will bluffen und fällt auf den erstbesten Schwindel herein. Geben Sie das Ding. Schauen Sie.« Herr Staatsrat Martinet litzte die Ärmel zurück, stach sich die Nadel in den Unterarm, preßte den kleinen Kautschukballon mit Daumen und Zeigefinger. Es gab eine kleine Geschwulst unter der Haut.

»Schwindel, lieber O'Key, nichts als Schwindel. Pillevuit wäre darauf nie hereingefallen. Der Professor ist nämlich schon einmal zu ihm ins ›Palais‹ gekommen, mit einem ähnlichen ›Pfeil‹. Destilliertes Wasser fand man bei der Untersuchung.«

»Aber warum…?« stotterte O'Key.

»Warum? Die alte Geschichte. Sie glauben noch immer an die alte Geschichte mit dem schwarzen Läufer, der nur die schwarzen Diagonalen benützen darf. Ein Wissenschaftler geht der Wahrheit nach, gut. Aber irgendwo muß die Lüge, die in uns allen sitzt, die Phantasie meinetwegen, heraus. Kein Mensch denkt daran, dem Professor ein Leids zu tun. Ja, mein Staatsanwalt will ihn einsperren. Aber das hat noch Zeit. Doch nicht einmal der ›Meister der goldenen Himmel‹ denkt daran, den Professor zu töten. Dominicé aber kann es nicht vertragen, nicht wichtig genommen zu werden. So erfindet er kleine Mordanschläge…«

»Ja, aber die Fliegen…«, wollte O'Key beschämt wissen.

»Ja, die Fliegen sind eine Tatsache. Eine schwer erklärbare Tatsache, aber so wirklich wie meine heutige Septim im Pikett. Gute Nacht, O'Key, ich bin schon ganz heiser. Von mir hören Sie heute abend kein Wort mehr.«

Dann stand O'Key auf der Straße. Seine Wohnung war nicht weit. Er zog sich im Dunkeln aus. Er hatte Angst, in einen Spiegel zu blicken, so sehr fürchtete er sich vor dem dummen Gesicht, das ihm entgegensehen würde.

Yaş sınırı:
12+
Litres'teki yayın tarihi:
30 ağustos 2016
Hacim:
300 s. 1 illüstrasyon
Telif hakkı:
Public Domain
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