Kitabı oku: «Wachtmeister Studer», sayfa 8

Yazı tipi:

Anastasia Witschi, geb. Mischler

Studer hatte Frau Witschi nur flüchtig gesehen, damals, bei seiner Ankunft. Und dass er sie Anastasia getauft hatte, ganz unbewusst (merkwürdigerweise hatte der Name gestimmt), das hatte doch einen ganz verständlichen Grund gehabt.

Frau Witschi sah nämlich aus wie eine Karikatur der Zensur. Und die Franzosen hatten während des Krieges die Zensur Anastasie getauft …

Nachdem Frau Witschi ihre Fragen abgeschossen hatte, verschnaufte sie ein wenig. Ihre Blicke ruhten missbilligend auf Studers Begleiter. Was der da wolle, fragte sie, und diese letzte Frage war ganz besonders giftig; ihre Stimme überschlug sich. Schreier wurde rot.

Studer fühlte sich unbehaglich, aber er ließ sich nichts anmerken. Und dass seine Zehen in den Schuhen kleine Tänze aufführten, das sah niemand.

»Wir haben Sie gesucht, Frau Witschi«, sagte Studer, und seine Stimme wurde ganz tief, wahrscheinlich als Ausgleich gegen die allzu hohe der Frau. »Wir haben uns den Garten angesehen. Ein schöner Garten, wirklich ein wunderbarer Garten. Es fehlt ein wenig an der Pflege, aber natürlich, das ist begreiflich …«

»Sind Sie noch nie hier oben gewesen?« fragte Frau Witschi. Studer sah sie an. War die Frage eine Falle? Nein …wahrscheinlich nicht … Also hatte Sonja nichts von seinem Besuch erzählt. Übrigens wartete Frau Witschi gar nicht auf eine Antwort.

– Wenn der Wachtmeister etwas zu fragen habe, so solle er nur eintreten … »Ich habe nichts zu verbergen«, sagte sie. »Nein, gewiss nicht. Unser Gewissen ist rein, was nicht alle Leute behaupten können.«

Jetzt wurde Schreier blass. Er zitterte. Merkwürdig, wie empfindlich diese anscheinend abgebrühten Burschen im Grunde waren! …

»Ruhig, ruhig«, sagte Studer leise und legte die Hand auf die Schulter des Burschen. »Geh’ wieder zurück. Ich dank’ dir auch. Du hast mir viel geholfen. Leb’ wohl.«

Schreier gab dem Wachtmeister schweigend die Hand. Die alte Frau grüßte er nicht.

» Sie sind viel zu gut mit diesen Leuten, Herr Wachtmeister.« (Frau Witschi betonte das Sie, Studer sollte merken, dass sie nicht zu den gewöhnlichen Leuten gehöre, die alle Welt ihren.) »Treten Sie ein, wir wollen nicht vor der Tür stehen bleiben.«

Die Küche war sauber. Kein schmutziges Geschirr stand mehr im Schüttstein. Der Strähl war verschwunden. Auch das Wohnzimmer war aufgeräumt.

Die Vase unter Wendelin Witschis Bild fehlte.

»Nehmen Sie Platz, Herr Studer. Ich hol’ etwas zum Trinken. Sie werden sicher Durst haben.«

Und Frau Witschi kam zurück mit einer Flasche Himbeersirup und zwei Gläsern. Studer musste wohl oder übel mittrinken. Es schüttelte ihn gelinde.

»Mein armer Mann«, sagte Frau Witschi und zog die Luft durch die Nase. Sie wischte sich die Augen mit ihrem Taschentuch. Aber die Augen waren trocken und blieben es.

»Ja, ja«, meinte Studer und hielt die Hand über sein Glas, das Frau Witschi wieder mit der klebrigen Flüssigkeit füllen wollte. »Es ist traurig, dass er so hat ums Leben kommen müssen. Aber es war vielleicht doch ein Glück …«

»Ein Glück? Wieso ein Glück? Was meinen Sie?«

»Eh, wegen der Versicherung …« sagte Studer und zündete umständlich eine Brissago an. Eine Sturzflut von Worten ergoss sich über ihn. Und Studer ließ sie brausen …

Es war merkwürdig, fast wie eine Vision.

– Das Zimmer ist dunkel, ganz plötzlich. Die Lampe, von einem grünen Schirm verhangen, gibt ein düsteres Licht. Leere Teller stehen auf dem Tisch. Am oberen Ende sitzt der verstorbene Wendelin Witschi. Rechts neben ihm seine Frau, links Sonja, ihm gegenüber der Sohn.

Witschi schweigt, Müdigkeitsfalten liegen um seinen Mund, auf seiner Stirn. Ununterbrochen schwatzt die Frau. Sie klagt. Er sei schuld, nur er allein. Er habe die Familie in Schulden gestürzt, nun sei es an ihm, das gestrandete Schiff wieder flott zu machen. Geld habe er aufgenommen, ohne jemanden zu fragen – und die Kreugeraktien, die habe doch er gekauft, oder? Witschi hebt die Hand, die weiße, dürre Hand, so, als wolle er Einspruch erheben. Aber die Frau lafert weiter. Nichts da, er habe zu schweigen, ganz zu schweigen. Und dann flüstert sie plötzlich: Die Versicherungen brächten Geld … Ein Unfall … Nichts Arges. Aber er müsse so ausgeführt werden, dass er wie ein Überfall aussehe … Es seien ja genug Vorbestrafte im Dorf, auf die man die Schuld schieben könne …

Der Sohn mischt sich ein. Die Schwester habe ja ein Verhältnis mit so einem, sie müsse die Sache übernehmen. Den Burschen zu einem Rendezvous bestellen, damit er kein Alibi beibringen könne … Dann könne man ihn anklagen, und wenn der Vater ihn wiedererkenne, dann könne der Bursche gar nichts machen …

Oben am Tisch hat der Witschi die Hände gefaltet, er schüttelt den Kopf, unaufhörlich, aber kein Mensch sieht auf ihn. Der Redestrom geht weiter. Der Sohn löst die Mutter ab, die Mutter den Sohn. Sonja sitzt still da, weint in ihr Taschentuch. Es nützt nichts, Sonja findet nirgends Schutz vor den Plänen der beiden andern …

Wie oft hatte sich die Szene abgespielt, so wie Studer sie sah und hörte, jetzt, im Wohnzimmer der Familie Witschi, während die alte Anastasia auf ihn einredete und ihre Worte an seinen Ohren vorbeisausten wie ein scharfer Nordwind?

Studer nickte, nickte ununterbrochen zu den Worten der Frau. Es war ja alles gelogen, warum also zuhören? …

Er sah den Schuppen vor sich, ganz deutlich.

Die Frau hat eine Stalllaterne in der Hand. Und Witschi probiert den Revolver aus. Er schießt auf das weißgehobelte Rechteck der Tür, immer aus einer Entfernung von zehn Zentimeter. Nicht mehr, nicht weniger. Er probiert es mit einem Zigarettenblättchen, dann mit dreien, dann mit fünfen. Bei welcher Zahl gibt es keine Deflagrationsspuren mehr?

Fünfzehn Patronen, dachte Studer … Wo war wohl die Schachtel? Man sollte sie finden. Und immer das Bild, das sich dazwischenschob:

Der Witschi, der beim Schein der Stalllaterne Schießübungen veranstaltet … Die Frau hält sicher einen Sack, um den Schall abzudämpfen.

War es sonst möglich, dass keiner der Nachbarn etwas gehört hatte? … Vielleicht hatten sie etwas gehört, das nächste Haus stand in etwa fünfzig Meter Entfernung … Sollte man dort fragen gehen?

Und wie aus einem Traum heraus, mitten in den Redestrom der Frau Witschi, sagte Studer mit leiser Stimme:

»Wie Ihr Mann auf die Tür im Schuppen geschossen hat, haben Sie da einen Sack gehabt, um den Schall abzudämpfen?«

Das Glas zerschellte auf dem Boden. Frau Witschi hatte die Augen weit aufgerissen, das Häutchen, das über dem einen lag, war weiß.

»Wie? … Was? …« stotterte Frau Witschi.

»Nichts, nichts«, Studer winkte müde ab. »Es hat ja alles keinen Wert, der Schlumpf hat ja gestanden.« Aber unter den halbgesenkten Lidern beobachtete Studer neugierig die Frau.

Ein Aufatmen. Frau Witschi stand auf, ging in die Küche, kam mit einer Küderschaufel zurück und wischte die Scherben zusammen.

»Scherben bringen Glück«, sagte Studer leise.

Ein giftiger Blick der Frau. Dann:

»So! Hat der Mörder endlich gestanden! Ein Glück! Dann habt Ihr ja hier nichts mehr zu tun, Wachtmeister!« (›Ihr‹ statt ›Sie‹! Studer lächelte.)

»Sie haben ganz recht, Frau Witschi, ich hab’ nichts mehr zu tun …«

Wie spät war es? Draußen war noch heller Tag. Der Schuppen stand am Ende des Gartens, man sah ihn gut durchs Fenster. Studer blickte lange hin. Er dachte: Diese Nacht sollte ich hier in der Nähe Posten stehen, die Mutter und der Sohn werden versuchen, die Tür zu verbrennen. Hätt’ ich nichts sagen sollen? Doch, es war ganz gut. So ein Schreckschuss ist manchmal ganz gut. Obwohl der ganze Fall hoffnungslos ist. Düster, düster … Er hat recht, der Kommissär Madelin! Ein Mordfall auf dem Land! … Wollen wir den Witschi in Frieden lassen? Er hat sich geopfert für die Familie … Er hat sich erschossen, damit die Versicherung zahlt … Hat er wirklich geschossen? … Mit dem rechtwinklig abstehenden Arm? … Vielleicht steckt doch mehr hinter dem Fall … Aber wer hat dann geschossen? … Der Schlumpf? … Doch der Schlumpf? … Kann man einen Mord aus Liebe begehen? … Warum nicht? Gleichwohl, es ist unwahrscheinlich … Der Armin? … Der Maquereau? … Nein, nein, zu feig … Die Mutter? … Chabis! … Wer dann? Wenn man nur wüsste, wer den Revolver gekauft hat, vielleicht gäbe das einen Anhaltspunkt …

»Wo schafft Ihre Tochter in Bern?« fragte Studer laut.

»Beim Loeb«, die Stimme der alten Frau zitterte. Man sollte sie in Ruhe lassen, die Frau Anastasia, dachte Studer. Er streckte die Hand aus, um sich zu verabschieden. Aber Frau Witschi sah die Hand nicht. Sie ging mit winzigen Schritten zur Tür, öffnete sie. Auf ihrem Gesicht stand ein gefrorenes Lächeln.

»Auf Wiedersehen, Herr Wachtmeister«, sagte sie.

Studer neigte stumm den Kopf …

Schwomm

Auf der Straße schon hörte Studer die Musik. Besonders laut tönte die Handharfe. Schreier schien wieder seinen Platz eingenommen zu haben …

Und wer saß am Tisch, eifrig auf Armin Witschi einredend, mit hohem Stehkragen und schwarzen, hohen Schnürschuhen zu grauen Flanellhosen?

Der Lehrer Schwomm.

Er sprang auf, als Studer an ihm vorbeiging. Sein Gesicht war ratlos und kindlich. Ober der Oberlippe saß ein blondes Schnurrbärtchen.

»Herr Wachtmeister«, sagte der Lehrer Schwomm atemlos, »ich habe gehört, dass Sie sich mit dem Fall Witschi beschäftigten. Ich habe lange gezögert, Ihnen anzuvertrauen, was ich von der Sache weiß. Aber nun drängt es mich, der Gerechtigkeit meines Vaterlandes Genüge zu tun, und …«

»Red’ nicht so viel, Schwomm«, sagte Armin grob. Studer blickte den Burschen streng an. Der nickte mit dem Kopf, als wolle er sagen: »Du kannst mich lang anstarren, mir machst du keine Angst …«

»Wollen Sie nicht an meinen Tisch kommen, Herr Lehrer Schwomm?« fragte Studer höflich und wies mit der Hand gegen den Tisch, an dem noch immer der alte Ellenberger saß und gedankenvoll sein Weinglas zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte …

Schwomm nahm Platz. Das heißt, er setzte sich auf die äußerste Kante des eisernen Gartenstuhls, zog dann sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Seine Gesichtshaut war fast so gelb wie seine gelockten Haare.

»Ich habe nämlich am Abend, an dem der arme Witschi durch Mörderhand umgekommen ist«, sagte der Lehrer Schwomm und knetete an seinen Händen, »zufällig zwei Schüsse gehört …«

»So?« sagte Studer trocken.

»A bah!« meinte der alte Ellenberger und zog die Mundwinkel in die Wangen.

»Ja«, der Lehrer nickte. »Zwei Schüsse. Ich bin an jenem Abend zufällig im Wald spazieren gegangen … In Begleitung … Ich brauche doch nicht anzugeben, mit wem ich im Walde war?«

Ellenbergers dröhnendes Basslachen machte den Lehrer noch verlegener.

»Könnte ich nicht unter vier Augen mit Ihnen sprechen, Herr Wachtmeister?« fragte er und wurde rot.

Studer schüttelte den Kopf. Ihn interessierte weniger, was der Lehrer ihm zu erzählen hatte, als das, was er offenbar verschweigen wollte. Und man konnte aus dem Verhalten des Mannes auf das schließen, was er zu verbergen hatte.

Der Lehrer Schwomm räusperte sich.

»Es war ungefähr zehn Uhr, als ich die Landstraße verließ und einen Seitenweg einschlug. Ich ging im Walde so für mich hin, wie es im Gedicht heißt, und ich dachte auch an nichts. Der Abend war still und weich, verschlafene Vögel zirpten in den Zweigen …«

»A bah!« krächzte wieder der alte Ellenberger, aber Studer winkte ab. Der Tisch Armins war leer. Gerber tanzte wieder mit Sonja, verfolgt von den gehässigen Blicken der ›Convict Band‹, der ›Maquereau‹ tanzte mit der Kellnerin und schien ihr eifrig etwas zu erklären (vielleicht wollte er sie zu etwas überreden?).

»… Und von Zeit zu Zeit eilte ein flüchtiges Tier seiner Ruhestätte zu. Ich mochte mit meiner … mit meinem Begleiter schon ziemlich weit in die sanfte Tiefe des Waldes eingedrungen sein, als ich das Knattern eines auf der Straße sich nähernden Motorrades vernahm, eines leichten Motorrades möchte ich hinzufügen …«

»Fügen Sie nur ruhig hinzu«, sagte der alte Ellenberger und krächzte heiser. War es ein Lachen?

Aber der Lehrer ließ sich nicht mehr stören.

»Das Geräusch, wenn ich es so nennen darf, hörte plötzlich auf. Ich hörte Zweige knacken …«

»Können Sie etwa die Distanz schätzen, ich meine die Distanz, die Sie von der Straße trennte?« fragte Studer und ließ seine Brissago qualmen.

»Nicht genau«, antwortete Schwomm leise. Er schien entrückt zu ein. Seine Augen blickten verschwommen ins Weite – und das Weite war hier ein dichtbesetzter Wirtsgarten. »Vielleicht könnte ich die Stelle wiederfinden, an der ich gestanden bin …«

»Gut«, sagte Studer. »Weiter, Herr Lehrer Schwomm.«

»Diesen ersten Teil, nämlich das Herankommen des Motorrades und dessen plötzlichen Stillstand, habe ich natürlich im Augenblick nicht beachtet. Es ist mir erst später eingefallen, als im Dorfe von der Auffindung des Leichtmotorrades Marke ›Zehnder‹ gesprochen wurde, des Motorrades, das dem verunfallten Wendelin Witschi gehört haben soll …«

Verunfallten? dachte Studer. Warum sagt der Mann zuerst durch Mörderhand umgekommen und jetzt verunfallt? Sollte er? Und es fiel ihm ein, wie grob Armin Witschi den Lehrer angelassen hatte.

»Weiter«, sagte Studer.

Aber Schwomm bedurfte dieser Aufforderung nicht. Er sprach und begleitete seine Rede mit pathetisch sein sollenden Bewegungen.

»Da, plötzlich, in der Stille des Waldes, erdröhnten zwei Schüsse. Meine … mein Begleiter zuckte zusammen. Ich beruhigte ihn. Es werde wohl nichts Schlimmes sein. Aber da ich Angst hatte, oder vielmehr, da meine … Begleitung Angst hatte, wir könnten überfallen werden, verließen wir, einen großen Umweg machend, den Wald, gelangten weit vor dem Dorfe wieder auf die Landstraße und folgten ihr. Nach einiger Zeit sahen wir am Rande der Straße ein verlassenes Motorrad stehen. Es war an einen Baum gelehnt …«

Schwomm machte eine Pause.

»Gesehen haben Sie niemanden?« fragte Studer nebenbei.

»Gesehen? Nein. Nur gehört. Nach den beiden Schüssen das Geräusch vieler Schritte. Einen dunklen Schatten bemerkten wir auch, aber nicht gegen die Landstraße zu, sondern in der entgegengesetzten Richtung, dort, wo der Wald an die Baumschulen des Herrn Ellenberger grenzt.«

»Einen Schatten?« fragte Studer. »Können Sie den Schatten näher beschreiben?«

Statt einer Antwort fragte Schwomm sehr sanft:

Der Fall ist doch eigentlich durch das Geständnis des Schlumpf erledigt? Oder?«

»Gewiss, gewiss.« Studer sah auf seine gefalteten Hände. Er lauschte dem Tonfall von des anderen Stimme. Warum wohl hatte der Lehrer mit einem Zeugenbericht begonnen, um plötzlich, noch vor dessen Ende, die Frage zu stellen, ob der Fall nicht erledigt sei? Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder der Lehrer wollte sich wichtig machen, um im Prozess eine Rolle zu spielen, und es war sehr wahrscheinlich, dass diese Möglichkeit stimmte, – oder Schwomm wusste etwas, wagte jedoch aus irgendeinem Grunde nicht die Wahrheit zu sagen und half sich aus der Klemme, indem er die Hälfte des Wahrgenommenen mitteilte, gewissermaßen als Beruhigungsmittel für sein belastetes Gewissen. Denn der Mann wusste etwas, das war sicher. Nicht umsonst ergeht sich ein immerhin gebildeter Mann – er war Sekundarlehrer – in einer ziemlich öden Phraseologie, wie ›verschlafene Vöglein zirpten in den Zweigen‹. Und dann war da das Wort, das dem Lehrer wahrscheinlich ganz unbewusst entschlüpft war: ›… verunfallten‹.

Schweigen am Tisch. Die Musik verstummte, das Stück war zu Ende, und lauter ertönte das Stimmengesumm. Die drei am Nebentisch kehrten zurück. Sonja blickte unbeteiligt auf den Lehrer – sie schien also nicht die ›Begleitung‹ des Lehrers gewesen zu sein, wenn man überhaupt aus Blicken Schlüsse ziehen konnte. Armins Gesicht hingegen war leicht verzerrt. Er schien jemanden zu suchen. Manchmal streiften seine Blicke über den Lehrer Schwomm, schweiften ab, schienen wieder auf die Suche zu gehen, blieben an der Türe hängen, die aus der Wirtschaft in den Garten führte …

Dort stand die Kellnerin. Und Studer fühlte mehr, als dass er richtig gesehen hätte, wie sie ganz unmerklich winkte – eine leichte Bewegung des Kopfes, ein Mundwinkel, der zuckte … Armin lehnte sich zurück, gähnte, hielt die Hand vor den Mund. Ein kaum merkliches Nicken, – das Gähnen war wohl nur ein Versuch, die Beobachter von der Bewegung des Kopfes abzulenken …

Studer war nicht mehr müde. Es kam ihm vor, als stehe er wieder mitten in den Ereignissen. Er war nicht mehr ausgeschaltet. Vor allem: Es schien etwas vorzugehen, Ereignisse waren zu erwarten, Studer fühlte es in allen Gliedern. Er blieb ruhig. Zuerst aus diesem badschwammblonden Menschen, diesem Lehrer, alles herausholen, was es herauszuholen gab, und dann …

Studer hatte schon sein Programm für morgen.

Aber wie viel konnte noch passieren zwischen heut und morgen! … Die ganze Nacht lag dazwischen. Er wusste, der Wachtmeister Studer, dass er die folgende Nacht nicht viel schlafen würde … Aber was tat das? Saubere Arbeit! kommandierte er sich. Und wenn die Sache noch so unordentlich und verworren aussieht! Ordnung muss sein. Sauberkeit! Sauberkeit vor allem!

»Und wie sah der Schatten aus?« Die Frage war ein Überfall. Der verträumte Lehrer schreckte auf.

»Er huschte« (›huschte!‹ sagte der Lehrer Schwomm), »er huschte in zehn Meter Entfernung an uns … eh … an mir vorbei. Größe? Mittelgroß … ja, mittelgroß …« Der Lehrer schwieg plötzlich.

Mittelgroß?« fragte Studer freundlich. »Ich müsste Vergleichsmöglichkeiten haben. Ungefähr wie groß war er, der Schatten? Ich will Ihnen zwar verraten, Herr Lehrer Schwomm, dass der Schatten vielleicht gar keine Wichtigkeit hat, aber möglicherweise bestätigt er unsere Vermutungen. Wäre der Schatten so groß gewesen wie, sagen wir, der Angeklagte Schlumpf, so wäre dies sehr wichtig für die Richter, die ja nichts auf ein Geständnis geben, solange nicht jede Bewegung des Angeklagten vor und nach der Tat samt allen psychologischen Motiven ganz genau festgelegt ist. Ich spreche zu einem Akademiker, nicht wahr, einem einfachen Manne gegenüber würde ich mich weniger gelehrt ausdrücken; also wie groß war der Schatten?«

»Ich habe Erwin Schlumpf eigentlich wenig gesehen. Aber mir scheint, der Schatten war von seiner Größe …«

»Es wäre für uns von größter Bedeutung, wenn wir vielleicht die Ansicht Ihrer … Ihrer Begleitung hören könnten, aber dies wird wahrscheinlich unmöglich sein …«

»Ausgeschlossen, ganz ausgeschlossen … Ich könnte es nie und nimmer verantworten …«

»Schon gut«, schnitt Studer die Beteuerungen ab. Er schielte nach dem Tische Armins. Dort schien etwas los zu sein. Armin flüsterte eifrig auf seine Schwester ein, den Coiffeurgehilfen hatte er mit einer Handbewegung dazu gebracht, nicht zuzuhören. Dann stand Armin auf – die Kellnerin lehnte noch immer am Pfosten der Saaltüre, sie schien plötzlich schwerhörig geworden zu sein und blind obendrein, denn sie kümmerte sich weder um die Rufe noch um das Winken der Gäste. Sie sah aber Armins Aufstehen, drehte sich um und verschwand im Innern des ›Bären‹. Armin schlenderte durch den Garten, den Kopf hielt er gesenkt. Plötzlich beschleunigte er sein Schlendern, er nahm große Schritte – und dann schluckte auch ihn die offene Türe …

»Schon gut«, wiederholte Studer nach einer Pause – und er konnte den Blick nicht von Sonja wenden. Verzweiflung, Angst, Ratlosigkeit brachten Unruhe in das Kleinmädchengesicht.

Wenn sie nur Vertrauen zu mir hätte, grübelte Studer. Er dachte, während er den nächsten Worten Schwomms zerstreut lauschte, immerfort an seine Frau. Wenn die hier wäre … Seit er ihr das Romanlesen abgewöhnt hatte, gelang es dem Hedy (Frau Studer hieß Hedwig) gut, geplagte, schweigsame Menschen zum Reden zu bringen – besonders Frauen.

Der Lehrer Schwomm aber sagte:

»Natürlich will ich nicht behaupten, dass ich Erwin Schlumpf auf der Flucht nach seiner ruchlosen Tat ertappt habe …« (Verunfallt – ruchlose Tat, ging es Studer durch den Kopf …) »Aber immerhin schien es mir merkwürdig, dass der Schatten die Richtung nach den Baumschulen des Herrn Ellenberger nahm …«

»Die Baumschulen als Schattenreich, hehehe …« meckerte der alte Ellenberger. Studer sah ihn strafend an.

»Und Sie sind ganz sicher, zwei Schüsse gehört zu haben, und nach den zwei Schüssen haben Sie den Schatten in der Richtung der Baumschulen verschwinden sehen?«

»Ich glaube«, Schwomm stotterte, »Ich glaube, ich habe zwei Schüsse gehört.« Wie hilfesuchend blickte sich der Lehrer um. Aber er vermied es, Studer in die Augen zu sehen.

»Glauben! glauben!« sagte Studer vorwurfsvoll. »Ein Mann wie Sie darf nicht glauben, er muss sicher sein. Also zwei Schüsse? Ja?«

»Jaha«, es klang wie ein Seufzer.

Schweigen. Dann begann die Musik wieder zu spielen. Ausgerechnet: ›Wenn du einmal dein Herz verschenkst …‹ Studer sah den Coiffeurlehrling Sonja zum Tanz auffordern. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie packte ihre kleine Handtasche unter den Arm, rannte durch den Garten. War es eine Flucht? War es nicht vielmehr ein letzter Versuch, jemanden einzuholen?

»Wer hat Ihnen den Auftrag gegeben, mir von zwei Schüssen zu erzählen, während ich durch fünf Zeugenaussagen erhärten kann, dass nur ein Schuss gefallen ist?« (Das mit den fünf Zeugenaussagen war aufgelegter Schwindel, in Murmanns Protokollen stand nichts dergleichen, aber was tat man nicht alles, um die Wahrheit zu finden?)

»Fünf Zeugenaussagen?« Schwomm war bleich. »Erhärten?«

»Ja, erhärten!« sagte Studer grob. »Übrigens interessiert mich das gar nicht. Sie haben ein schlechtes Gewissen, Herr Lehrer Schwomm. Sie haben versucht, das schlechte Gewissen los zu werden, indem Sie mir nur die Hälfte, was sage ich, die Hälfte! … nur ein Viertel der Wahrheit erzählt haben. Ich will jetzt nichts mehr hören«, Studer winkte ab, denn Schwomm öffnete den Mund, um sich zu rechtfertigen. »Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen …«

Wenn Studer hochdeutsch sprach, und das kam selten genug vor, war die Wirkung immer die gleiche – ob es sich nun um die Wirkung auf Zivilpersonen handelte oder um die auf junge Fahnder. Alle spürten dann, es war am besten, man ließ den Wachtmeister in Ruhe.

»Heiß, heiß!« krächzte der alte Ellenberger. »Vous brûlez commissaire!10« Wie es in jenem Spiel üblich ist, in dem ein versteckter Gegenstand gesucht werden muss und die Wissenden den Suchenden leiten mit Worten wie: ›kalt, wärmer, sehr warm, heiß‹, je nachdem der Suchende sich dem versteckten Gegenstand nähert oder sich von ihm entfernt.

»Ihr werdet auch nicht immer spielen können, Ellenberger«, sagte Studer. Sein Gesicht war sehr bleich, er hatte die Hände geballt. Dann zuckte er mit den Achseln und schritt zwischen den lauten Tischen hindurch, auf die Türe zu, in der Armin Witschi verschwunden war.

Im Schieberrhythmus spielte ›The Convict Band‹:

›Muss i denn, muss i denn zum Städtle hinaus …‹

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