Kitabı oku: «Anderswelt», sayfa 2
NUR NETTE MENSCHEN AUF DEN BERLINER STRASSEN
Samstag, der 29. August. Der Tag der Demo. Von den Themen, die mir noch vom Donnerstag aus den klassischen Medien her im Gedächtnis geblieben sind, also einheitliche Corona-Regeln, Belarus, US-Wahlkampf und der dortige Rassismus, finde ich in allen von mir verfolgten Medien nichts.
Die Berliner Demonstration überstrahlt alles: »Wir hier unten, ihr da oben« zieht sich als Grundgedanke durch alle Artikel, alle Videos. Der Tag heute, Tag zwei meiner Reise in die Anderswelt, ist eine echte Herausforderung für den News-Junkie in mir. Der Reflex, ins Netz zu gehen, um mich auf den bisherigen Wegen zu informieren oder einen Nachrichtensender einzuschalten, ist kaum zu unterdrücken. Am Abend fange ich dann an, nachzulesen und nachzusehen, was denn in Berlin passiert sei.
Alexander Wendt auf der Website von Tichys Einblick hat praktisch keine Rechtsradikalen, keine Verschwörungstheoretiker gesichtet. Das ist weit weg von dem, was ich, bis vor Kurzem ausschließlich informiert durch klassische Medien, erwartet habe.
Alexander Wendt
geb. 1966 in Leipzig, war freier Journalist u. a. bei Wirtschaftswoche, Stern, Tagesspiegel. Wendt war Redakteur für Wirtschaft, Politik, Wissenschaft beim Focus, er ist Buchautor und schreibt häufig für Tichys Einblick und die Achse des Guten.13
Wendt schreibt: »Es ist elf Uhr dreißig, Unter den Linden, und der Sturm der Extremisten auf Berlin fällt aus.« Er macht fünf Strömungen unter dem blauen Berliner Himmel aus: Corona- und Medienskeptiker, »Grundgesetzanhänger«, die dies laut Wendt auch auf T-Shirts vor sich hertragen. »Ich bin gegen alle Grundrechtseinschränkungen im Zusammenhang mit Corona« lässt sich »Christian, 30«, zitieren.14 Dann gibt es noch die »Leute mit den Merkel-muss-weg-Schildern, die offenbar finden, dass 15 Jahre unter der uckermärkischen Vorsteherin reichen«. Eine weitere Gruppe seien die »völlig Corona-Ungläubigen« und dann noch die Sonderabteilung »der Jesus-Freaks«, die »den Heiligen Geist anrufen«.
Zusammengefasst: »Sicherlich gab es auf der Demo-Meile auch Leute mit diversen Sockenschüssen. Dem Reporter scheint es, dass sie irgendwo auf der Skala zwischen einem halben Lauterbach und anderthalb Thunberg liegen, also im Toleranzbereich einer normalen Gesellschaft.«
Der Tag sei auch, so Wendt weiter, »Großkampftag für viele Journalisten, die nicht drei Tage umsonst Tatütata-Beiträge über die große Rechtsextremistenmobilisierung geschrieben und gesendet haben wollen.« Was Wendt, etwas kompliziert, sagen will: die etablierte Presse hätte ein Vorurteil geschürt. Wer von beiden Seiten recht hat, daran gibt es für ihn keinen Zweifel.
Eine Teilnehmerzahl findet sich bei Wendt nicht, aber eine sehr persönliche Zusammenfassung eines netten, eigentlich harmlosen Demo-Nachmittags. »Am Abend berichtet ZDF-heute-Journal von 38.000 Teilnehmern, wichtigste Meldung: ›Promi-Corona-Leugner Hildmann festgenommen.‹« Und weiter: »Was würden manche Qualitätssender eigentlich berichten, wenn sie Hildmann nicht hätten?«
Das Schema wenig Fakten, sehr viel Meinung, klare Feindbilder vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zur Kanzlerin, wird in den nächsten Monaten immer wiederkehren. Die Palette kennt nur zwei Farben: schwarz und weiß.
Wendt zufolge »rennen am Abend noch zwei Dutzend Leute die Rampe und die Treppe vor dem Reichstagsgebäude hoch«. Gleichzeitig macht er etwa doppelt so viele Polizisten aus, die »die Protestler wieder hinunterbegleiten. ›Polizei verhindert Sturm auf den Reichstag‹, dichtet der Tagesspiegel.«
Was ist da wirklich passiert? Die Andeutungen und Einschübe bei Wendt machen neugierig, aber in meinen Quellen gibt es keine Aufklärung.
Polizeibericht: »Sturm auf den Reichstag«
Die Meldung Nr. 2051 der Berliner Polizei vom 30. 8. 2020: Um kurz nach 19 Uhr strömte eine Vielzahl an Personen aus dem Bereich Brandenburger Tor kommend in Richtung Wiese vor dem Reichstag. Um dies zu lenken bzw. zu unterbinden, sollten für den Bereich Simsonweg Ecke Scheidemannstraße Einsatzkräfte zusammengezogen werden. Diese Phase nutzte eine größere Personengruppe von etwa 300 bis 400 Personen, überwand aufgestellte Absperrgitter und gelangte so auf die Außentreppe des Reichstages. Wie durch den Pressesprecher der Polizei Berlin bereits im Einsatzgeschehen mitgeteilt wurde, haben die zur äußeren Sicherung des Reichstags am Ort befindlichen Einsatzkräfte unverzüglich reagiert und interveniert. Ein Eindringen in den Reichstag war den Personen daher nicht möglich. Mit weiteren zur Sicherung des Bereiches eingesetzten Kräften wurden die Personen von der Treppe zurückgedrängt. Hierbei kam es zu Angriffen auf Einsatzkräfte.15
YouTube empfiehlt mir auf der Suche nach »Berlin-Anti-Corona-Demonstration« ein Video von RT Deutsch, dem deutschsprachigen Sender aus Putins Propaganda-Maschinerie. Ein neuer Seitenweg in die Anderswelt.
Die Putin-Propagandisten liefern ein kurzes, technisch mangelhaftes Video mit Live-Charakter, teilweise schwarz, also ohne Bild, mit einem jungen, ganz sympathischen, sehr älplerischen Reporter und einer ebenfalls jungen, auch nicht unsympathischen Reporterin. Nette junge Leute, die beiden. Ein Kameraschwenk zeigt in der Tat eine beeindruckende Zahl von Menschen auf der Straße des 17. Juni. Der Text schließt mit »und es werden immer mehr«. Den Satz habe ich schon mal gehört, bei der Launch-Party für Tichys Einblick in Berlin vor vier oder fünf Jahren. Damals lief es mir kalt den Rücken runter.
YouTube führt mich jetzt weiter zu einem Video eines jungen Österreichers namens Rin99er. Der junge Mann auf dem Musikvideo ist der Reporter, der gerade von der Demo berichtet hat, und singt im klassischen Singer-Songwriter-Stil der Siebziger ein Protestlied des Jahres 2020. »Wir fahren das Land mit Hochgeschwindigkeit an die Wand«, und weiter: »Werden wir weiterhin blind und taub sein« und dann noch, er ist Österreicher: »Kritisch hinterfragen, ist im Nachbarland schon illegal«. Der Titel des Songs: »Fragen muss erlaubt sein«.16
Ich klicke nochmals zurück auf die Empfehlungsseite: Von neun empfohlenen Videos ist nur eines dabei, das nicht aus dem Umfeld rechter Propaganda oder von Verschwörungstheoretikern stammt: »Climbing in Austria – stairway to heaven«. Ansonsten: ein Video von »Vegains DE«, was mir als Quelle nichts sagt. 3.600 Likes, 3.600 Mal Daumen hoch: Ein junger Mann, anscheinend Hobbyreporter, knapp über zwanzig. Breites offenes Ge sicht. Sanfte Locken, einfacher Haarschnitt, grauer Kapuzenpulli, Typ netter Medizinstudent: »Wir sind einfach nur dahin gegangen, um zu gucken, sind da Tausende von Nazis? Die Antwort ist: nein. Ich habe einfach nur normale Leute gesehen.« Das, was er erzählt, belegt auch sein Video. Ausnahmslos nette Menschen, wie schon bei Mross im erwähnten Vorbericht von gestern.17
DIE KURZEN WEGE IN DIE TIEFEN DER ANDERSWELT
Noch ein Klick und ich bin mittendrin in wilden Theorien. Treffen hier die Wege besorgter Bürger und fanatischer Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker aufeinander? »No to Mafia« ist der Titel der Rede des ACU-Mitbegründers Heiko Schöning.18
ACU
ist laut Eigenbeschreibung die Abkürzung für »Außerpar lamentarischer Corona-Untersuchungsausschuss«. Dieser Ausschuss wiederum ist Teil der »World Freedom Alliance«. Das Ziel der Organisation, in der Heiko Schöning Vizepräsident ist: »Ein Ende der unbegründeten und teilweise lebensgefährlichen Corona-Maßnahmen und ein Ende der unsinnigen weltweiten Krise.«19
Es sind offensichtlich Zehntausende, die Schöning auf der Demo am 29. 8. in Berlin zuhören. Dunkelblauer Anzug, selbstsicheres Lächeln, fast weiße, halblange Haare, kräftige, warme Stimme. Er begrüßt alle »auf dieser größten Demonstration der europäischen Geschichte«. Er stellt ein Buch vor: »Corona Fehlalarm?« von Dr. Karina Reiss und Dr. Sucharit Bhakdi, »auf der Spiegel-Bestsellerliste auf Platz eins«. Es ist zwar nicht die Bestsellerliste aus dem gedruckten Spiegel, das Buch findet sich aber auf den Taschenbuchlisten bei Spiegel Online und wird in den nächsten Wochen zur Bibel der Corona-Gegner.
Die Autoren werde ich in den nächsten Monaten immer wieder sehen, vornehmlich als Interviewpartner auf YouTube-Medien, aber auch bei der umstrittenen Talkshow »Hangar-7« im österreichischen Servus TV. Sie werden zu den Stars der Szene.
Dr. Karina Reiss
ist Professorin am Biochemischen Institut der Universität Kiel und Vollmitglied des dortigen Exzellenzclusters »Precision Medicine in Chronic Inflammation«.20 Ab April 2020 tritt die Biochemikerin zusammen mit ihrem Mann Dr. Sucharit Bhakdi, mit dem sie auch das Buch »Corona Fehlalarm?« geschrieben hat, in der Anti-Corona-Szene auf.21 Fünf Fachschaften der Universität sprachen dem Buch die Wissenschaftlichkeit ab, eine gemeinsame Stellungnahme der medizinischen Fakultät und des Exzellenzclusters spricht von »unbelegeten und im Gegensatz zu seriösen internationalen wissenschaftlichen Erkenntnissen stehenden Behauptungen«. Das Anstellungsverhältnis besteht jedoch weiterhin.22
Dr. Sucharit Bhakdi
ist Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie. Bis 2012 war er Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und hat das dortige Institut für Medizinische Mikrobiologie und Hygiene geleitet.23 Sein »Durchbruch« in der Anti-Corona-Szene gelang ihm mit einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin, den er auf YouTube vorgetragen hat.24 Mit seinen Anti-Corona-Videos erreichte er in kürzester Zeit 50.000 Abonnenten. Der Kanal ist inzwischen gelöscht. Neben zahlreichen Medizin- und Forschungspreisen wurde Bhakdi wegen seiner pseudowissenschaftlichen Äußerungen zur Corona-Pandemie im Dezember 2020 der Negativpreis »Das goldene Brett vorm Kopf« verliehen.25
Heiko Schönings Redetext ist frei von Argumenten oder gar schlüssigen Fakten.
»Wir haben eine Gleichschaltung in der Welt«, so Schöning, »wir sehen, dass dieses Virus nicht die Toten fordert, auch nicht, dass diese Kranken in den Krankenhäusern da sind. Das sehen Ärzte überall«. Und dann kündigt er an, »dass bei uns ein Lockdown für September oder Oktober geplant ist, ähnlich wie in Melbourne«.
Gerade wollte ich für heute aufgeben. Dann habe ich mich doch noch ein bisschen durch die ACU-Seite geklickt und ein Video-Kurzinterview mit Robert F. Kennedy gefunden. »Das ist der schlimmste Kampf, den die Menschheit erlebt hat«, wird er übersetzt, »Regierungen lieben Pandemien, weil es ihnen die Fähigkeit gibt, Angst zu nutzen, Terror einzusetzen, totalitäre Kontrolle über die Gesellschaft auszuüben, Gehorsam zu erzwingen.«26
Wer das glaubt, müsste in der Tat dagegen aufstehen und Widerstand leisten. »Wir hier unten gegen die da oben« ist auch hier der Tenor. Und jemand mit dem Leumund eines Kennedy muss doch ernst genommen werden. Viel glaubhafter geht es doch für den Normal-User nicht mehr.
Robert Francis Kennedy junior
geb. 1954 in Washington, ein Neffe des US-Präsidenten John F. Kennedy. Rechtsanwalt, Umweltaktivist, Autor. Vertritt die inzwischen widerlegte These, Impfungen riefen Autismus hervor. War als Umweltaktivist für eine Position unter Obama im Gespräch, als Impfgegner für eine Kommission unter Trump. Unterzeichnete den umstrittenen fundamentalistischen Aufruf katholischer Würdenträger zu Corona. Polemisiert gegen Bill Gates. Angehörige des Kennedy-Clans warfen ihm öffentlich vor, »gefährliche Falschinformationen« zu verbreiten.27
Drei Klicks bis zum Abgrund: Dieses Internetprinzip funktioniert tatsächlich. Ich bin verblüfft und auch entsetzt, wie schnell das geht.
Diesen Weg ins Extreme hat die kanadische Soziologin Zeynep Tufekci schon 2016 in einer beeindruckenden Studie skizziert. Der Auslöser war eher zufällig: Die Autoplay-Funktion lotste sie bei einer Recherche zu Trumps Wahlkampf bei Google immer tiefer zu Videos von Holocaust-Leugnern und Rassisten. Tufekci machte, aufgeschreckt, mehrfach die Probe aufs Exempel, legte unterschiedliche Accounts an und kam immer wieder zur selben Erfahrung: von den Stichworten »Joggen« und »Vegetarier« zum Ultramarathon und zum aggressiven Veganismus waren die Klickwege gerade und kurz. Der Titel ihres 2016 in der New York Times erschienenen Artikels: »YouTube, der große Radikalisierer«. Sie folgert, es sei das erklärte Ziel der US-Konzerne, ihre User so lange wie möglich auf ihren Seiten zu halten. Warum das so ist, lässt sich einfach erklären: Längere Verweildauer bedeutet mehr Fläche, um Werbezeit zu verkaufen. Kaum jemand bestreitet heute, dass die Verweildauer des Besuchers und damit der User selbst das Produkt ist, das an die Werbewirtschaft verkauft wird. YouTube geht diesen Schritt, wenn man Tufekci folgt, noch entschiedener: Ihre Beobachtungen deuten darauf hin, dass Nutzer häufiger dranbleiben, wenn man beim nächsten Video ein kleines Stück aggressiver wird.28
Für diese Reise in die Anderswelt habe ich schon vor ein paar Tagen versucht, mich zu kalibrieren. Zu Beginn des Versuchs bot mir YouTube auf der Startseite auf meine bisherige Nutzung hin folgende Videos an: »Tauchen in Mozambique«, »Ausrastender Politiker«, »Ski-extrem«, einen Porsche-Testbericht, Wingsuit-Flüge und ein Interview mit Cem Özdemir. An dieser Stelle muss ich einflechten, dass ich YouTube kaum nutze und diese Auswahl meinen vielleicht fünfzig YouTube-Aufrufen in den letzten drei Jahren folgt. Was wird der Algorithmus vorschlagen, wenn ich intensiv meinen neuen Informationsquellen folge?
Binnen drei Tagen habe ich subjektiv denselben Eindruck wie Zeynep Tufekci. In den nächsten Wochen und Monaten werden mir Videos vorgeschlagen, zu denen ich nie einen Bezug hatte und nach denen ich nie gesucht hatte, von Videos mit den Kriegserlebnissen verschiedener SS-Gefreiter bis zu ausführlichen Waffentests wie der Erklärung einer »Volkssturmwaffe namens MP 3008«.
DER TAG DANACH
Es ist jetzt Sonntag, der 30. 8.: Alle Quellen, die ich heute lese, sind randvoll mit ihrer Darstellung der Berliner Ereignisse des Vortags.
Der »aktuell wichtigste Beitrag« bei KenFM ist ein Interview mit einem freundlichen Mitvierziger, erste graue Haare, offenes Siegerlächeln: Michael Ballweg.29
Michael Ballweg
gilt als Initiator der Demonstrationsbewegung »Querdenken 711« ab April 2020 zuerst in Stuttgart – Telefonvorwahl 0711. Geboren 1975, studierte er BWL und gründete 1996 die IT-Firma »Media Access GmbH«. Am 11. 8. 2020 kündigt seine Firmenhomepage ihre Abschaltung an, weil namhafte Kunden ihre Referenzen zurückgezogen hätten.30 Seither hat sich Ballweg zur Führungspersönlichkeit der Querdenken-Bewegung aufgeschwungen und nutzt sie nicht nur, um seine Ideologie zu verbreiten, sondern auch, um Geld zu verdienen. So sichert sich Ballweg die Rechte an den Namen vieler Querdenken-Ortsgruppen, verdient an den Einnahmen lokaler Quer-Denken-Merchandising-Verkäufen mit und lässt sich mitunter für Auftritte auf Querdenken-Demonstrationen bezahlen. So erhielt er für die Bewegt-bildrechte eines gemeinsamen Auftritts mit Thomas G. Hornauer auf einer Querdenken-Demo in Stuttgart im Juni 2020 von diesem 5.000 Euro.31 Im Dezember 2020 wurde bekannt, dass der Verfassungsschutz Baden-Württemberg »Querdenken 711« als Beobachtungsobjekt einstuft.
Thomas G. Hornauer
verdiente in den 90ern ein Vermögen mit Astrologie und Erotikpartner-Hotlines. Er kaufte den angeschlagenen Sender B.TV und produzierte dort den esoterischen TV-Kanal »Telemedial«. Zuletzt machte Hornauer als esoterische »königliche Hoheit« bei YouTube auf sich aufmerksam.32
Die erste Frage an Ballweg, was denn in der Nacht passiert sei, ist eigentlich einfach. Die Antwort ist dann eher kompliziert. »Wir haben die Demo gestern um 20:30 Uhr beendet, und danach habe ich die Versammlung ›Querdenken kämpft‹ eröffnet. Danach hat die Polizei mir mündlich erklärt, dass die Versammlung verboten wäre, dann habe ich nachgefragt […] Bundesverfassungsgericht eingeschaltet […] die Polizei hat geräumt dann heute Nacht, mit unschönen Bildern und auch Verletzten Bilder, in diesem Fall Beleg- oder Beweisbilder von dem angesprochenen Einsatz, fehlen. Die der Stimme nach junge Reporterin fasst bei dem Mann im T-Shirt mit dem Aufdruck »Berlin invites Europe« nach. Mein Eindruck nach drei Minuten Interview: Wir leben in einem Polizeistaat. Von Hunderttausenden Views ist jetzt die Rede, und unterwürfig, anders kann man das nicht sagen, beendet die junge Frau das Interview mit den Worten: »Du dankst der Community, die Community dankt dir.« Diese Art des Interviews wird sich in den nächsten Monaten praktisch immer wiederfinden. Innerhalb der »Community«, innerhalb der Anderswelt gibt es keine kritischen Fragen. Eine Szene, die aller Welt Mangel an Meinungsvielfalt und -freiheit vorwirft, kommt unter sich mit harmonischer Meinungseinfalt zurecht.
Der Tonfall an diesem Sonntag ist bei allen ähnlich. Mross: »Wir leben in einem Willkürstaat.« Tichys Einblick: »Ein großes Happening mit kleinen Verstörungen«. Junge Freiheit: »AfD nennt Corona-Demonstration in Berlin Erfolg.«
Der Eindruck, den ich aus all meinen Quellen mitnehme, ist der einer friedlichen Demonstrantenschar, praktisch ohne Rechtsextremisten, Reichsbürger, QAnon-Anhänger, denen eine im Lauf des Tages zunehmend aggressiver werdende Polizei gegenüberstand. Bei KenFM liest sich das so: »Am Ende dumpfe Gewalt gegen die Bürger! Es ist schockierend, dass der Berliner Senat, wir sprechen von der neu umjubelten zukünftigen Regierungsvariante Rot-Rot-Grün, für sich diesen Weg gewählt hat … Arm und sexy? Nein, arm und brutal gegen Bürger und Touristen«.33
YouTube verweist mich dann noch auf das Video eines österreichischen Instituts namens »RPP-Institut«
Das »Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie«
will laut Eigenbeschreibung »Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen in ein direktes Gespräch mit Religionswissenschaftlern, Philosophen und Theologen bringen« und organisiert hierfür Kongresse und Diskussionsrunden.34 Im Gegensatz zum Anspruch »Werteneutralität« des Instituts stehen Positionen seines Gründers Raphael Bonelli. Er nutzt den 86.000 Abonnenten starken YouTube-Kanal des Instituts, um gegen Feminismus, die »Genderideologie« und die »Abtreibungslobby« zu wettern.35 Zudem macht er sich in Österreich für die in Deutschland verbotene Konversionstherapie von homosexuellen Männern stark.36
Das empfohlene Video zeigt mit Musik unterlegte Drohnenbilder, immer wieder kaum spürbar aneinandergehängt: Massen von Menschen, die auch bei mir Zweifel erwecken, ob es wirklich nur 38.000 Teilnehmer waren. Alle Videos, die ich heute gesehen habe, haben sechsstellige Abrufzahlen und jeweils 20.000 und mehr Likes.37
Das ist Tag drei meiner Reise in die Anderswelt. Sonntagabend.
ERSTE ZWEIFEL
Am Montag, Tag vier, beschäftigen mich immer noch zwei Themen vom Vortag: die Zahl der Demonstranten und die Frage, was denn auf der Treppe zum Reichstag wirklich passiert ist.
Ich suche und finde das Stichwort »Sturm auf den Reichstag«. Es ist heute noch mal eingebettet in einen Artikel bei Tichys Einblick.38 Beschimpft wird hier der Berliner Tagesspiegel, der anscheinend über so etwas wie »einen Sturm auf den Reichstag« berichtet hat.
Auch in meinen Quellen finde ich, dass die offizielle Zahl der Demonstranten, von der Polizei ermittelt, von der Politik übernommen, bei 38.000 liegt. 38.000 exakt. Nicht knapp 40.000 oder zwischen 35.- und 40.000, nein: 38.000. Aus langer journalistischer Erfahrung, Brokdorf, Wackersdorf, TTIP und so weiter, weiß ich, dass die offiziellen Angaben und die der Organisatoren immer auseinanderklaffen. Im »Regelfall« liegt die Polizei bei der Hälfte dessen, was die Organisatoren angeben, und die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte. Nur wird es keine Mitte zwischen 38.000 und einer Million Menschen geben, die realistisch ist. Aber mein Eindruck aus den Bildern, die ich im Netz gesehen habe, ist eindeutig: das waren mehr als 38.000.
Jede kleine Unschärfe in klassischen Medien taugt zum Anlass, ihre Glaubwürdigkeit grundsätzlich zu bestreiten. Dahinter dann erfindet man sich die Fakten komplett frei. Allmählich fange ich an, den Begriff »alternative Fakten« zu verstehen. Und die Frage, die die leisen Zweifler umtreibt: Wem denn nun glauben?
Ähnlich geht es mir mit dem von den etablierten, den Mainstream-Medien anscheinend sehr gehypten »Sturm auf den Reichstag«. Zitiert wird dieser Begriff immer wieder, als Beleg für maßlose Übertreibung der »System-Medien«. Nach meinen Quellen war es ganz anders: Höchstens ein Dutzend Versprengte, die die Polizeiabsperrung nicht verstanden hätten, seien »die Treppe hochgegangen«.
Tagesdosis nennt sich heute am Montag die Aufmacher-Rubrik bei KenFM. Kein Video, aber gesprochener Text, der mit einem Foto unterlegt ist, das wieder eine beeindruckende Menschenmenge zeigt.39 Grob zusammengefasst ist es das, was ich schon seit Samstag andauernd höre: »Mindestens 300.000 […] Polizei hat ihre Arroganz gezeigt […] bunte Mischung von Teilnehmern«, dann kommt aber eine auch in der Tonalität neue Aussage: »Es waren auch einige dabei, die die Verhältnisse von gestern wieder haben möchten.« Das hatte ich bisher so klar noch nicht gehört oder gelesen. Und: Der Text ist professionell geschrieben und vorgetragen und glaubwürdig.
Schon nach vier Tagen setzen bei mir Zweifel ein, wo die Wahrheit zu finden ist. Es hat wirklich nicht lange gebraucht, um verunsichert und gleichermaßen beeindruckt zu sein. Auf den Boden zurückgeholt haben mich die haarsträubend unsinnigen Theorien wie die von der »Gates-Verschwörung« oder die »Merkel muss weg«-Passagen, mit denen ich auch immer wieder konfrontiert war. Zumindest für den Moment bin ich über eine Pause froh. Und kann mit Friedrich Küppersbusch darüber reden.
FK: Hans, als Nachrichtenprofi, welche »Alternativen Medien« hast du genutzt, bevor dein Selbstversuch losging?
HD: Ich bin immer mal wieder drüber gestolpert, meist über Social Media. Tichys Einblick und MMnews im Wesent lichen. Schon KenFM kannte ich nur vom Hörensagen, bei der Jungen Freiheit und Compact wusste ich, wie beide einzuordnen sind. Ich hab aber dort nie was entdeckt, keine Fakten, die mein Mainstream-Medium , die von mir verantworteten Nachrichten, bereichert hätten, nur Meinungsäußerungen.
FK: Dann hast du es gelesen, weil es neben beruflicher Lektüre – »sexy« war, frivol?
HD: Offen gestanden: Weil ich einige persönlich kenne! Und mich frage: Was macht der, wohin entwickelt der sich? Ich habe das aber nie als Journalismus gesehen, sondern als frei drehende Meinung. Ihren Zielgruppen nach dem Mund geschrieben.
FK: Hattest du nie Zweifel in Jahrzehnten als Mainstream-Nachrichten-Macher?
HD: Nie.
FK: Nie???
HD: Eigentlich nie. Ich hatte und habe ein Urvertrauen in die deutsche Medienbranche. Ok, das kam jetzt ein bisschen schnell – es gab immer mal Momente, wo ich Fragen hatte, an mich und andere redaktionell Handelnde
FK: Beispiel 9/11: Es gab diese Bewegtbilder, unklare Meldungen, und bei deutschen Sendern Moderatoren, die aus Not zwei Stunden live über defekte Navigationssysteme meditierten. Wir bauen doch auch Mist!
HD: Ja, zugegeben. Es wäre ja völliger Unsinn zu behaupten, es gäbe keine Fehler oder Fehleinschätzungen. Aber eben weitestgehend nicht mit System. Wobei mich dies an meine Zeit beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen erinnert. Die Berichterstattung um die geplante Wiederaufarbeitungsanlage für Kernbrennstäbe im oberpfälzischen Wackersdorf war schon sehr nahe an der Position der damaligen Bayerischen Staatsregierung.
FK: Stichwort Bayerischer Rundfunk: Franz Schönhuber, der Ahn der gegenwärtigen Rechtspopulisten, war dort dein Vorgesetzter?
HD: Zu meiner Ehrenrettung: Als er mich einstellte, galt er als SPD-nah.
FK: Thilo Sarrazin galt auch als SPD-nah. Konnte man denn von Schönhuber etwas über Populismus lernen?
HD: Sarrazin war ja bis vor Kurzem in der Partei. Er war ja auch Finanzsenator in Berlin, Mitglied im Vorstand der Bundesbank. Zu Schönhuber: Er hatte ein sehr gutes Gespür dafür, was die Menschen interessierte, nicht von oben herab wie Direktoren, er konnte wie wenig Andere dem Volk aufs Maul schauen. »Jetzt red i« hieß seine bekannteste Sendung. Das ist immer noch ein großes Stück Fernsehen und hat eine Menge bewegt. Wir als Reporter haben seinen Ideenreichtum oft gehasst: Montags kam er mit dem Taxi ins Büro, und wir mussten dann die Geschichten machen, die ihm der Taxifahrer erzählt hatte.
FK: Klassiker: Taxifahrer und Ommas in Wanne-Eickel haben in unserer Branche eine ungeheure Macht. Schön huber hatte dieses Ortungstalent – was will das Publikum hören – statt journalistischer Kriterien. Wie mächtig ist das?
HD: Ich war ja auf den verschiedenen, entgegen gesetz ten Seiten – Berichterstatter und Gegenstand von Berichterstattung – und habe gelernt: Applaus, Preise, Quoten, Schulterklopfen am Stammtisch, Auflagen sind Triebfedern. Das bringt aber auch das Geld für neue Projekte, Recherchen, Programme. Heute kann man sich anschauen, was passiert, wenn es fehlt: Redaktionen werden geschrumpft und gestrichen.
FK: Nun scharen sich Nutzer um neue Publikationen. Du hast sie bisher eher aus exotischem Reiz angeschaut.
HD: Extrem linke oder rechte Publizistik gehörte für mich nie dazu zum professionell Notwendigen.
FK: Nach den Lehrjahren im BR hättest du selbst dich in Richtung Populismus, Boulevardjournalismus radikalisieren können?
HD: Nichts gegen Boulevard – ich habe das ja auch gemacht. Es bedeutet zuerst einmal, Texte und Themen so aufzubereiten, dass es die Leute gerne lesen, und deren Interessen ernst zu nehmen. Boulevard im guten Sinn heißt ja nicht Geschäftsmodell statt Journalismus. Populismus ist eine andere Spezies. Das ist das, was wir gerade jetzt bei den Rechten erleben. Ich nenne dir drei Gründe. Erstens – einige Macher befällt anscheinend so etwas wie Alterskonservativismus. Stichwort Sarrazin. Zweitens: Haschen nach Anerkennung und Applaus. Drittens: Geschäftsinteressen, Marktlücken. Schau dir Abrufzahlen bei YouTube an oder die Auflagen der neuen Organe.
FK: Ok. Hans, hast du Angst?
HD: Ein … Ein bisschen. Ja.
FK: Wovor?
HD: Das Erste: Mich selbst politisch festzulegen. Meine Meinung sollte nie Leitschnur meines journalistischen Handelns sein. Und dann: Ich habe schon Angst davor, dass es mich … das habe ich in den ersten Tagen schon gespürt – dass es mich im Denken verändert. Gerade beim Thema Corona – da zeigten sich die »Mainstream-Medien« anfangs schon sehr regierungsnah, staatsfromm, fast als Teil der Pandemie-Bekämpfung.
FK: Du hast »ein bisschen Angst« – kann dabei herauskommen, dass dein Lebenswerk umfällt? Du erkennst, dass du den »falschen« Journalismus gemacht hast?
HD: Hm … Ok, es ist eher die Angst vor einem Zahnarztbesuch als die Angst vor einem Tiger, der vor dir das Maul aufreißt. Aber immerhin die Angst, dass es mein Denken verändert, wie ich es nie verändert haben wollte.
FK: Ist der Zahnarzt schon an einen Nerv gekommen bei deinem ersten harten Selbstversuch?
HD: Ja. Beim Demo-Wochenende in Berlin. Aus Erfahrung weiß ich um die Kalamitäten bei den Zuschauerzahlen. Voriges Mal waren nach meinem Kenntnisstand 30.000 da, QAnon, Neonazis, Knallköpfe, in erster Linie eine Demo extremer Positionen. Nächste Demo eine Million – das glaube ich nicht. Was ich in diesen sogenannten alternativen Medien gesehen habe, war etwa der in seiner Argumentation kaum nachvollziehbare Kennedy-Neffe. Also: Meine Widerstandskraft gegen all das war relativ hoch. Aber was ich gesehen habe, die Bilder, bringt mich dazu, die offizielle Zahl von 30.-, 35.000 anzuzweifeln. Was ich auch mitgenommen habe: Sehr viele Demonstranten kamen augenscheinlich aus der »bürgerlichen Mitte«. Der Profi in mir sagt: Ja gut, Frage der Auswahl. In der gesamten Berichterstattung habe ich keine Reichsflagge, schon gar keine Reichskriegsflagge gesehen, nichts von einem »Sturm auf den Reichstag«. Das tauchte nur indirekt auf. In den »alternativen Medien« sah das nach einem Grüppchen Versprengter aus, die sich auf dem Weg zur U-Bahn verlaufen haben.
FK: Du verwendest den Begriff Berichterstattung?
HD: Ja.
FK: Hans in Gefahr.