Kitabı oku: «Anderswelt», sayfa 3
ABSURDE THEORIEN VERKAUFEN SICH
Die abenteuerlichste Version zur Stürmung des Reichstags werde ich fünf Monate später in Buchform finden. Der Autor wird im Klappentext als erfolgreicher, ernst zu nehmender Journalist vorgestellt. Studium der Politikwissenschaften in München, seit mehr als 30 Jahren Journalist, Schriftsteller und Dokumentarfilmer. »Der auf seinem Buch ›Das RAF-Phantom‹ … beruhende Fernsehfilm ›Das Phantom‹ erhielt im Jahr 2000 den Grimme-Preis.« Der Grimme-Preis, gestiftet vom deutschen Volkshochschulverband ist die renommierteste deutsche Auszeichnung für Fernsehproduktionen.
Gerhard Wisnewski beschreibt in seinem Jahrbuch 2021 »Verheimlicht, vertuscht, vergessen«, »wie der Reichstag gestürmt wurde – oder auch nicht«. Es ist der Eintrag vom 29. August, Seite 200. »Die nächsten sieben Seiten sollen beweisen, dass alles ganz anders war.«40
Unter dem frischen Eindruck der Erstürmung des Kapitols in Washington lese ich Mitte Januar 2021 Wisnewskis Version der Geschehnisse am Reichstag. Kein Sturm auf den Reichstag, sondern eine gezielte Aktion der Polizei, um die Querdenker-Bewegung zu diskreditieren. Zum Auftakt mokiert sich der Autor über die Berichterstattung der Bildzeitung: »Herrje: Krieg am Reichstag! Horden von Wilden stürmen das Reichstagsgebäude, nur wenigen Helden (Bild) der Polizei gelingt es, das Parlamentsgebäude vor der Besetzung durch Reichsbürger, Chaoten und Rechtsextreme zu schützen! Doch ehrlich. Das stand schließlich in der Bildzeitung.« Und dann gleitet Wisnewski ins Reich der Fantasie ab: »Nur ganz knapp, und auf der Regierungsbank hätten Reichsbürger Angela Merkel vom Stuhl gequetscht, das Mineralwasser der Saaldiener geschlürft, und am Rednerpult hätten Verschwörungstheoretiker ihre wirren Reden geschwungen.«
Doch Wisnewski zufolge war das alles erstens halb so wild und zweitens von der Polizei inszeniert. Eine angebliche V-Frau der Polizei namens Tamara K. hätte zum Sturm auf den Reichstag aufgerufen und später dies auch in YouTube-Interviews klar zugegeben. »Ja, es war tatsächlich auch so, dass es abgesprochen wurde mit der Polizei«, sagte sie klipp und klar laut Wisnewski am 31. August in einem Interview. »›Wir haben dahin auch Kontakte, dass wenn die ihre Helme ausziehen und sich von dem Gebäude entfernen, ist das unser Startschuss, das heißt, sie haben uns den Weg frei gemacht. Wir stehen mit denen in direktem Kontakt‹, erklärt sie weiter.«41
Tamara K.
ist ein bekanntes Gesicht in der Esoterik-/Reichsbürger szene. Die Heilpraktikerin lebt in einem 8.500-Einwohner Dorf in der Eifel, in dem es laut Verfassungsschutz genau einen Reichsbürgerfall gibt. Nach dem Sturm auf den Reichstag wird gegen sie wegen aufwieglerischen Landfriedensbruchs ermittelt.42
Wisnewski führt einen auf den ersten Blick glaubhaften Zeugen für seine These an, den ehemaligen »Kriminalbeamten Thomas Wüppesahl«. Er könne belegen, »dass die Polizei das bewusst zugelassen hat«.
Thomas Wüppesahl,
ehemaliger Bundestagsabgeordneter für die Grünen und bis 2005 Kriminalbeamter in Hamburg. Mitte der 70er-Jahre trat Wüppesahl den Grünen bei und zog 1987 über deren Landesliste Schleswig-Holstein in den Bundestag ein. Im selben Jahr trat er wegen interner Streitigkeiten aus der Partei aus und blieb als Fraktionsloser im Bundestag. Hier trat er vor allem für die Rechte fraktionsloser Abgeordneter ein. Ebenfalls 1987 gründete Wüppesahl mit einigen Arbeitskollegen die Vereinigung kritischer Polizisten.43 Nach mehreren niedergeschlagenen Strafanzeigen in den späten 90ern und frühen Nullerjahren wurde Wüppesahl 2005 wegen Vorbereitung und Versuchs der Beteiligung an einem Raubmord und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Er hatte mit ehemaligen Kollegen geplant, einen Geldboten zu erschießen, dessen Arm mit einem Beil abzuhacken und diesen zu nutzen, um den fingerabdruckgesperrten Geldtransporter zu knacken. Er verteidigte sich mit dem Hinweis, er habe Missstände bei der Polizei aufdecken und einen verdeckten Ermittler überführen wollen.44 Seit 2020 tritt Wüppesahl als Redner auf Anti-Corona-Demos auf.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft kritischer Polizistinnen und Polizisten (Hamburger Signal) e.V.
wurde 1987 von drei Polizeibeamten als Reaktion auf die gewalttätigen Polizeieinsätze gegen die Anti-AKW-Bewegung gegründet. Die Bürgerrechtsbewegung setzt sich hauptsächlich aus Polizist*innen des grünen und sozialdemokratischen Spektrums zusammen und engagiert sich für mehr demokratische Gesinnung und Strukturen in der Polizei. Seit Beginn der Corona-Pandemie vertreten die Kritischen neben ihren üblichen, eher linken Positionen, wie z.B. Kritik am Rassismus innerhalb der Polizei, auch – und dies vor allem bei Corona-Themen – Querdenker-Positionen.
Laut Wisnewski erhielten die »Demonstranten eine Einladung erster Klasse, die Reichstagstreppe zu besetzen«. Die Polizei hätte bewusst die Auseinandersetzung gesucht und ermöglicht, »um das Spiel wieder zu beenden, sobald die gewünschten Bilder im Kasten sein würden«. Denn »die ganze Welt sollte sehen, wie gefährlich die Anti-Corona-Bewegung ist«. Und weiter: »Die Staatsmacht selbst hat die Demonstranten zum Erklimmen der Reichstagstreppe eingeladen.« Das könnte man als verrückte Räuberpistole abtun, wäre Wi snewski nicht, wie es im Klappentext von »Verheimlicht, vertuscht, vergessen – 2021. Das andere Jahrbuch« heißt, »führender Vertreter der Gegenöffentlichkeit und zählt zu den Pionieren des aktuellen Gegenzeitgeistes«. Erschienen ist das Buch in Deutschlands erfolgreichstem Verlag für rechte Sachbücher und obskure Romane: bei Kopp.
Gerhard Wisnewskis Buch springt im Januar 2021 neu auf Platz 10 der Spiegel-Bestsellerliste »Sachbuch«.
Der Kopp-Verlag, so schreibt der Literaturwissenschaftler Michael Butter, »fristete lange ein Nischendasein, hat aber in den letzten Jahren durch seine Präsenz im Netz – und natürlich durch das Erstarken des Rechtspopulismus – ungemein an Popularität gewonnen.«45
Gegründet wurde der Verlag 1994 von dem ehemaligen Stuttgarter Polizisten Jochen Kopp. Lange Jahre eher ein esoterischer Nischenverlag, ist er mittlerweile der wichtigste Umschlagplatz für gedrucktes rechtes Gedankengut in Buchformat. Beworben werden die verschiedenen Publikationen vorwiegend im rechten Umfeld von der Jungen Freiheit bis hin zu »Politically incorrect«.
Wer bei Google das Suchwort »Kopp« eingibt, bekommt folgende Vorschläge: Eva Hermans »Blutgericht Europa«, Thor Kunkels »Lügenpresse«, Gerhard Wisnewskis Jahrbuch 2021, aber auch Trockenbrot, sechs Dosen im Karton: »Langzeitlebensmittel speziell entwickelt für die Krisenvorsorge.«
Bis 2017 hat der Verlag auch die Website Kopp online betrieben, die wegen wirtschaftlichen Misserfolgs dann eingestellt wurde. Dort raunte die ehemalige Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, bei der tödlichen Loveparade-Massenpanik hätten »ganz andere Mächte eingegriffen«.46 Oder Wisnewski fragte nach einer eventuellen Transsexualität Michelle Obamas, oder Udo Ulfkotte fabulierte vom »Fäkalien-Dschihad«: Erntearbeiter, die ihre Notdurft in den Feldern verrichten, um mit Absicht die deutsche Bevölkerung krank zu machen.47 Seit 2015 hat sich Kopp laut FAZ »zu einem der maßgeblichen Ideenlieferanten für die Anhänger von AfD und Pegida, Rechtsextremisten und anderen Kritikern der Merkel’schen Flüchtlingspolitik entwickelt.«48
Das passt auch zur Verlags-Ideologie. Nach eigenen Angaben hat man es sich zum Ziel gesetzt, »auf unbequeme Wahrheiten, unterdrückte Informationen und geheime Entdeckungen hinzuweisen«. Und: »Die Ausweitung von Zensur, Political correctness und Tabuthemen« soll untersucht werden. Kopp hat längst die Nische des esoterischen Kleinverlags verlassen. Für Michael Butter sind die Bücher des Kopp-Verlags »keine Randphänomene, sondern erreichen ein beträchtliches Publikum. In der Württembergischen Landesbibliothek, an die Kopp seine Pflichtexemplare abliefern muss, gehören die Bücher sogar zu den am meisten nachgefragten in der Abteilung für Zeitgeschichte.«49
DEUTSCHLANDS BEKANNTESTER VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKER
Den Corona-Protest befeuert hat ein Mann, dessen Ziel es offensichtlich ist, Zweifel in breiten Schichten der Bevölkerung zu säen.
Er stellt sich am 4. Mai 2020 in einem Video vor. »Mein Name ist Ken Jebsen, ich bin ein freier Journalist in Deutschland und arbeite seit über 35 Jahren in diesem Land mit einem Presseausweis.«50
An diesem 4. Mai hofft Deutschland auf Lockerungen der Corona-Beschränkungen. Zwei Tage später werden die Einschränkungen des ersten Corona-Lockdowns dann auch reduziert werden.
Der Titel des Videos, das Jebsen bei YouTube hochlädt: »Bill Gates kapert Deutschland.«51 Es wird innerhalb von drei Tagen drei Millionen Mal angeklickt. Mehrere hochkarätige Faktenchecker entlarven das Video umgehend als Lügengespinst.
Jebsen im Vordergrund ist leicht überbelichtet, aber jede Faser des ernsten Gesichts strahlt Entschlossenheit aus. Und er kommt direkt zum Thema. Die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung habe sich in die Welt-Demokratien gehackt, die Weltgesundheitsorganisation WHO sei zu 80 Prozent von eben dieser Stiftung finanziert, die Bundesregierung sei korrupt, die Wissenschaftler Drosten und Wieler auf der Gates’schen Lohnliste, Demonstranten würden verhaftet, weil sie das Grundgesetz hochhalten, Menschen, die nicht gegen Corona geimpft seien, würden die Grundrechte aberkannt.
In rasend schneller Abfolge knallt Jebsen seine Sätze, seine offensichtliche Wut ins Netz: Nach etwa zehn Minuten ist der düstere Mann so richtig in Rage. »Vor hundertzwanzig Jahren gab’s einen ganz starken Trend auch auf diesem Globus, einen Euthanasie-Trend […] Wo ist das alles gelandet? In Auschwitz.« Bevor der Zuhörer zum Nachdenken kommt, auf welchem Globus denn sonst noch solche Trends vorkommen könnten, hämmert Jebsen weiter. So wirr das alles ist: Er trifft offensichtlich den Nerv bei vielen, die die Anti-Corona-Maßnahmen ablehnen.
»Wir haben ja Glück, dass wir es bei Covid-19 mit einer relativ harmlosen Grippe zu tun haben.« Belege für diese These brauchen er und anscheinend auch sein Publikum nicht. Das Bild, das Jebsen von der bevorstehenden Zukunft zeichnet, ist der total überwachte Mensch. »Wir schlittern hier mit Riesenschritten in eine digitale Diktatur.« Bei Minute 17 geht es dann unter die Gürtel linie: »Diese Regierung baut, seit sie im Amt ist, dermaßen Scheiße, ist dermaßen korrupt … sie zwingt jetzt die ganze Welt zusammen mit Bill und Melinda Gates, sich eine Scheiße in die Vene zu pumpen.«
Faktencheck
Laut Faktenchecks strotzt das Video vor Falschaussagen. So ist zum Beispiel die Aussage, die WHO würde zu 80 Prozent von Bill und Melinda Gates finanziert werden, falsch. Die Spenden der Gates’ machten 2018 lediglich knapp 5 Prozent des WHO-Budgets aus. Auch wurden auf den »Hygienedemos« Menschen nicht festgenommen, weil sie ein Grundgesetz bei sich trugen, wie Jebsen sagt, sondern weil sie gegen die Berliner Eindämmungsverordnung verstoßen hatten. Sie wurden also nicht wegen des Grundgesetzes verhaftet, nur mit ihm. Ebenfalls als faktisch falsch stellte sich Jebsens Behauptung heraus, es sei eine »Impfpflicht durch die Hintertür« in Planung. Dies dementierte das Gesundheitsministerium auf Nachfrage von Correctiv.52 Ähnliches gilt für die Aussagen, die WHO-Gelder gingen nicht in die Forschung, sondern direkt in die Taschen der beteiligten Forscher und die deutsche Regierung riskiere Impfschäden durch vorschnelle Zulassung der Impfstoffe.53 Die Behauptung, Covid-19 sei wie eine relativ harmlose Grippe, wurde bereits des Öfteren im Verlauf der Pandemie widerlegt.54
Wer ist der Mann, der so schnell redet, dass der Zuschauer glaubt, er hätte aus Versehen auf den Vorspulknopf gedrückt?
Jebsen wirkt sportlich, fährt Motorrad, springt mit dem Fallschirm aus dem Flugzeug. Sportarten, die gefährlich sind und perfekt zum Image des Outlaws passen. Er hat ein jugendlich-freundliches Lächeln, mit einem Hauch von Melancholie. Mitte fünfzig schätzungsweise, leicht angegrautes Haar. In allen Interviews strahlt er überbordendes Selbstbewusstsein aus.
Während Jebsen beispielsweise dem russischen Propagandasender RT Deutsch gerne und häufig Interviews gibt, hat er unsere Interviewanfrage nicht beantwortet. Im Internet und in Büchern gibt es viele Interviews mit ihm, die Interviewer waren fast immer Gleichgesinnte.
Einer davon ist Mathias Bröckers, der an einem gemeinsamen Wochenende mit Jebsen ein Gespräch geführt hat, aus dem ein etwa 250 Seiten dickes Buch geworden ist: »Der Fall Ken Jebsen – Wie Journalismus im Netz seine Unabhängigkeit zurückgewinnen kann.«55
Mathias Bröckers,
geboren 1954, schrieb u. a. für die taz und Telepolis. Er betreute die Satireseite »Die Wahrheit« der taz, trat auch als Kabarettist auf und engagierte sich unternehmerisch für Hanf- und Haschischprodukte. Mit Publikationen über 9/11 und unbewiesenen Theorien dazu fand er zunehmend Gehör in rechten und verschwörungsaffinen Zielgruppen. Mehrere Bestseller veröffentlichte er unter dem Pseudonym John S. Cooper. Sein Buch »Wir sind die Guten« zum Ukraine-Konflikt fand auch außerhalb der Szene Beachtung. Zur Pandemie vertritt Bröckers die Auffassung, die Grundrechtseingriffe stünden in keinem Verhältnis zur Gefährdungslage, die seit Mai 2020 nicht mehr gegeben sei.56,57
Der Klappentext ist ein langes Jebsen-Zitat: »Wir sagen als Fallschirmspringer ›in die Tür und Exit‹. Und das gab es in meinem Leben permanent: in die Tür und Exit. Du bist irgendwo drin, hast auch die Fähigkeiten, aber irgendwann musst du sagen, jetzt raus! Du musst im wahrsten Sinne des Wortes loslassen, in den freien Fall gehen, du brauchst Urvertrauen. Wo springst du da rein? In so ein Standbild aus vier Kilometern Höhe. Und so war das immer: als mein Vater die Kurve kratzte, auf der Waldorfschule, als ich bei der Bundeswehr dumm aufgefallen bin, als ich beim rbb rausflog. Überall in die Tür und Exit. Und dann, bamm! Geht der Schirm auf. Und du denkst: Wow, das Ding kann man ja lenken, das hätte ich ja schon längst machen sollen.«
2007 gewann Jebsen den angesehenen CIVIS-Medienpreis. 2011 dann im November folgte ein brutaler Absturz.58 Jebsen, damals Hörfunkmoderator beim rbb, hatte laut Tagesspiegel einem Hörer in einer E-Mail geschrieben, er wisse, dass Edward Bernays »den Holocaust als PR erfunden hat«. Joseph Goebbels habe das Buch gelesen und entsprechende Kampagnen umgesetzt. Bernays war einer der ersten Spindoktoren und gehörte mit zu den Vätern von Public relations, Politikberatung und Propaganda. Jebsen gab zu, die Mail geschrieben zu haben, bestritt aber den Vorwurf des Antisemitismus. Schließlich trennte sich der rbb von Jebsen mit der Begründung, er habe mehrfach journalistische Standards des rbb nicht eingehalten. Jeden, der in diesem Zusammenhang schreibt, er sei wegen antisemitischer Äußerungen gekündigt worden, überzieht Jebsen mit einer Klage.
Begegnung
Zu dieser Zeit suchte Jebsen Kontakt zu meiner Produk tionsfirma probono.TV. Wir trafen uns – er, seine Anwältin, ich – im Berliner Café »Einstein Unter den Linden«. Jebsen schilderte seine Radiosendung in hellen Farben und hohen Reichweiten, seine Lage im rbb hingegen als stiefmütterlich und heillos unterfinanziert. Sein Anliegen schien mir, mit einer Produktionsfirma seine Sendung weiterzuentwickeln und finanziell besser auszustatten. Wir kamen auf die Kontroverse um seine als antisemitisch bewertete Mail zu sprechen. Er schilderte, nachts und übermüdet nach einer Produktion unbedacht geschrieben zu haben, was seine zahlreichen Rechtschreibfehler belegen würden. Er spekulierte, der Publizist Henryk M. Broder habe die Hörer-Mail lanciert, auf die er dann missverständlich reagiert habe. Damit, so mein Eindruck, gelang es ihm zunächst auch, die Zusammenarbeit mit dem rbb fortzusetzen. Ende November trennte sich der rbb dann doch von Jebsen. Im Gespräch beeindruckte mich Jebsens hohes Energielevel, sein missionarisches Auftreten. Gefühlt kam ich in anderthalb Stunden fünf Minuten zu Wort – zu wenig, um belastbare Chancen für eine Zusammenarbeit auszuloten. – Ende 2017 untersagte der Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Linke) eine Veranstaltung mit Jebsen und attestierte ihm »offenen, abgründigen Israelhass, die Verbreitung typisch antisemitischer Denkmuster und kruder Verschwörungstheorien«. Der Dresdner Soziologe Felix Schilk bescheinigt Jebsen anhand ausführlicher Analyse seines Beitrages »Zionistischer Rassismus« von 2012 »alle Formen des Antisemitismus«.59,60 Im Januar 2021 sperrt YouTube den Kanal KenFM, weil Videos dort »gegen unsere Covid-19-Richt linien verstoßen haben«. Vorhergegangen waren eine Werbesperre im Mai 2020 und kurze Sperren im Herbst des Jahres.
Schon vor dem Rauswurf hatte sich Jebsen persönlich die Namensrechte an KenFM gesichert. Der ausstrahlende Sender rbb konnte den Sendungstitel nach der Trennung nicht weiter nutzen.
In allen Publikationen, in denen sich Jebsen darstellen darf, äußert er reichlich krude Gedanken. Zum Beispiel, wenn Kai Stuht,61 Fotograf und offenbar Bewunderer, fragt, ob er sich denn impfen lassen würde: Fünf Sekunden Pause. Jebsen, der es schafft, 15 Worte in fünf Sekunden zu packen, schweigt, lächelt, schlägt die Augen wie in Zeitlupe nach oben. Auf Nachfrage verheddert er sich erst mal und sagt dann: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen – ab 5:45 wird zurückgeschossen – dieser Impfstoff ist getestet auf Nebenwirkungen.« Am Ende räumt er dann doch ein: »Ich bin kein Testkandidat, der sagt, wir haben hier einen Impfstoff aus einem Haus, an dem sich auf jeden Fall Bill Gates finanziell beteiligt hat, sonst, da nehme ich lieber den russischen Impfstoff.«
Ein weiteres Beispiel liefert Jebsen in einem Podcast der Moderatorin und Schauspielerin Annett Fleischer.62 Sie weiß, Jebsen ist umstritten, macht aber kaum ein Hehl aus ihrer Bewunderung für den Gast: »Irgendwann, wenn man die Dinge hinterfragt, stößt man auf die Marke KenFM. KenFM ist zu einer Marke geworden, die hinterfragt, die tief leuchtet, die dem Mainstream nicht hinterherläuft.« Und dann sagt Jebsen: »Ich spiele mein Leben, das ist ein großes Spiel.«
Jebsen ist der wohl bekannteste und auch einflussreichste Verschwörungserzähler in Deutschland, aber ich werde in den nächsten Monaten noch anderen bekannten Köpfen begegnen. Fast alle schreien laut auf, wenn man sie mit dem Begriff »Verschwörungstheoretiker« oder politisch rechts einordnet.
Der Begriff Verschwörungstheorie wird in der öffent lichen Debatte kritisiert: Eine »Theorie« setzt wissenschaftliche Überprüfbarkeit und gegebenenfalls Widerlegung voraus. Beim Gemeinten handele es sich jedoch eher um ungestützte Behauptungen – Verschwörungserzählungen also, oder um tradierte Klischees: Verschwörungsmythen. Wir belassen es der Verständlichkeit halber bei der umgangssprachlichen »Verschwörungstheorie«.
Und es gibt unterschiedliche Schattierungen, aber für alle gilt: »Nichts ist, wie es scheint«. So beschreibt Michael Butter, der ein europäisches Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien leitet, die Szene. Er belegt, neben »mangelndem Vertrauen in die Politik ist der Glaube an Verschwörungstheorien ein Merkmal des populistischen Brodelns«. Sie seien »ein Indikator für die demokratiegefährdende Fragmentierung der Öffentlichkeit«.
»Verschwörung in der Krise« lautet der Titel einer repräsentativen Umfrage, die das »Forum Empirische Sozialforschung« der Konrad-Adenauer-Stiftung 2020 veröffentlicht hat.63 Erhoben wurden die Daten schon in den Monaten vor dem Ausbruch von Corona. Es ist derzeit im Herbst 2020 das für die Bundesrepublik aktuellste Datenmaterial. Die Forschung zur Verbreitung von Verschwörungstheorien ist der Studie zufolge relativ jung, »obwohl das Phänomen alt und bedeutsam ist«. Dass Verschwörungs-Erzählungen nicht harm- und folgenlose Spinnereien sind, sondern im Extremfall fürchterliche Konsequenzen nach sich ziehen können, führt Autor Jochen Roose so aus: »Immer wieder werden Anschläge von durch Verschwörungstheorien angestachelten Tätern verübt, wie beispielsweise von Anders Breivik in Norwegen, dem Attentäter von Christchurch oder dem Attentäter von Halle.«64 Kernpunkt der Studie ist die Frage, »ob geheime Mächte die Welt steuern«. 11 Prozent der Befragten antworteten, dies sei sicher richtig, 19 Prozent, dies sei wahrscheinlich richtig. Das bedeutet, dass fast ein Drittel der Befragten »zu der Annahme einer Weltverschwörung tendieren«.
Grundsätzlich, so die Studie weiter, »gibt es einen deutlichen Bildungseffekt. Das bedeutet aber keineswegs, dass nur Menschen mit formal niedrigen Bildungsabschlüssen an Verschwörungstheorien glauben.« Selbst bei Menschen mit Abitur und höheren Abschlüssen ist jeder »Fünfte der Ansicht, die Welt werde sicher oder wahrscheinlich von geheimen Mächten gesteuert«.
Die Corona-Krise wird über die nächsten Monate das bestimmende Thema in allen von mir intensiv genutzten Medien sein. Und ich werde von Tag zu Tag mehr lernen, was der Begriff alternative Medien im Klartext bedeutet. Und mir wird klarer werden, wie weit verzweigt diese Szene medial ist.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.