Kitabı oku: «Die Vier-in-einem-Perspektive», sayfa 2
Wir kommen zu dem Schluss, dass in alledem, in Überforderung und Unterforderung, in Überarbeit und Arbeitslosigkeit, in Rastlosigkeit und Abwarten eine allgemeine tiefe Ungerechtigkeit herrscht. Sie betrifft die Arbeitsteilung in der Gesellschaft und in ihr Raum und Zeit für Entwicklung ebendieser Gesellschaft und der Menschen in ihr.
Daher entwerfen wir als perspektivische Leitlinie unserer Politik eine grundlegende Veränderung von Arbeitsteilung. Worauf wir aus sind, das ist eine Verknüpfung jener vier Bereiche menschlicher Tätigkeit:
– der Arbeit an den notwendigen Lebensmitteln in der Form der Erwerbsarbeit;
– der Arbeit an sich selbst und an anderen Menschen, was wir als das Menschliche an Menschen zu nennen gewohnt sind und was Marx dazu brachte, mit Charles Fourier zu erkennen, dass »der Grad der weiblichen Emanzipation das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation« sei (MEW 2, 208), weil »hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint« (ebd.), weil, wenn auch die Schwächeren in gleichem Maße wachsen können, das wahrhaft Menschliche sich zeigt, wozu auch die Liebe gehört; oder noch einmal in Marx’ Worten (Pariser Manuskripte 1844): Es entscheidet sich am »Verhältnis des Mannes zum Weibe […], inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis […] geworden ist, inwieweit er in seinem individuellen Dasein zugleich Gemeinwesen ist« (MEW 40,535).
– Zum Dritten geht es darum, die schlummernden Anlagen zu entwickeln, sich lebenslang lernend zu entfalten, das Leben nicht bloß als Konsument, sondern tätig zu genießen und damit auch eine andere Vorstellung vom guten Leben entwerfen zu können.
– Und schließlich geht es übergreifend darum, dass wir auch Zeit brauchen, in die Gestaltung von Gesellschaft einzugreifen, also uns alle politisch zu betätigen.
Das Erste, die Politik um Arbeit, ihre Qualität, Dauer, Zeit, Entlohnung, kann auf Erfahrung bauen in den zur Arbeit gehörenden Bewegungen.
Das Zweite, die Frage der Arbeit am Nachwuchs, aber auch an allen anderen und an sich selbst, gemeinhin Reproduktionsarbeit genannt, bündelt Patriarchatskritik, indem sie diesen Raum menschlicher Entfaltung für alle Geschlechter erstreitet.
Das Dritte, die Zeit, die für eigene Entwicklung gebraucht wird, stößt an die Politik des Zeitregimes in unserer Lebensweise, in die wir uns daher als Viertes einmischen und das Stellvertretermodell in der Politik in seine Schranken weisen müssen.
So sieht der Umriss eines von Frauen formulierbaren umfassenderen Begriffs von Gerechtigkeit aus, der seinen Ausgang nimmt bei der Arbeitsteilung und der damit verbundenen Zeitverausgabung. Gehen wir davon aus, dass jeder Mensch etwa 16 Stunden am Tag in die so umfassend gedachte gesellschaftliche Gesamtarbeit einbringen kann, so wird sogleich offenbar, dass das Gerede von einer Krise, weil uns die Arbeit ausgehe, von einem äußerst restriktiven Arbeitsbegriff ausgeht und daran festhalten will, koste es, was es wolle. Vom Standpunkt des gesamten Lebens und seiner menschlichen Führung sieht die Sache radikal anders aus:
In der Politik um Arbeit wird Leitlinie die notwendige Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle auf ein Viertel der aktiv zu nutzenden Zeit, also auf vier Stunden – perspektivisch erledigen sich auf diese Weise Probleme von Arbeitslosigkeit (wir haben dann weniger Menschen als Arbeitsplätze) mitsamt Prekariat und Leiharbeit – so gesprochen gehen alle einer Teilzeitarbeit nach, bzw. der Begriff hat aufgehört, etwas sinnvoll zu bezeichnen, und wir können uns auf die Qualität der Arbeit konzentrieren, verlangen, dass sie den menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten entspricht.
Auch die Politik ums Grundeinkommen gerät in einen lebensbejahenderen Zusammenhang. Da alle ein Recht auf einen vierstündigen Erwerbsarbeitsplatz haben und dieser dann ja auch verfügbar ist, kann es nicht mehr die Frage sein, ob das Grundeinkommen bedingungslos ist. Es versteht sich vielmehr von selbst, dass alle Einzelnen über ein ausreichendes Einkommen zum Leben verfügen und dass sie ebenso in jedem der vier Bereiche sich betätigen: in der Erwerbsarbeit, in der Sorgearbeit um sich und andere, in der Entfaltung der in ihnen schlummernden Fähigkeiten, schließlich im politisch-gesellschaftlichen Engagement. Probeweis kann man dies auch so ausdrücken, dass jeder Mensch in die Lage versetzt wird, sein Leben so einzurichten, dass er oder sie je vier Stunden in jedem dieser Bereiche pro Tag verbringt. Das ist nicht dogmatisch zu verstehen, als ob man mit der Stechuhr in der Hand von Bereich zu Bereich gehen müsste, in keinem mehr genügend zu Hause. Vielmehr wird man, sobald man anfängt, die eigne Lebensführung in diesen Dimensionen zu fassen, schnell bemerken, dass die Grenzen nicht fest sind, die Bereiche einander durchdringen und innerlich zusammenhängen. Die Aufteilung in vier mal vier Stunden ist so ein Modell, das eben wie ein Kompass Strategien der Veränderung entscheidend orientieren kann. Dabei ist im Übrigen die im Märchen zu Beginn mehrfach angerufene Scham aufgehoben in der Schuldigkeit gegenüber sich selbst und anderen, sich tatsächlich so vielfältig als Mensch zu betätigen.
Für die Reproduktions-Familienarbeit bedeutet dies zuallererst eine Verallgemeinerung. So wie niemand aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sein kann, so auch nicht aus der Reproduktionsarbeit – alle Menschen, Männer wie Frauen, können und sollen hier ihre sozialen menschlichen Fähigkeiten entwickeln. Das erledigt den Streit ums Erziehungsgeld, ohne die Qualität der Arbeit, die hier geleistet wird, abzuwerten; ja im Gegenteil, jetzt erst, in der Verallgemeinerung statt in der alleinigen Zuweisung auf Frauen und Mütter, kann der allgemeine Anspruch verwirklicht werden, dass diese Arbeit qualifizierte Arbeit ist und also erlernt werden muss wie andere Arbeit auch. – Die vielen Meldungen über misshandelte und verwahrloste Kinder legen hier ein beredtes Zeugnis ab.
In einem Gespräch mit Vätern, die an der allgemeinen Sorge über die Entwicklung ihrer Söhne zwischen Verweigerung, Drogen, Gewalt und Verzweiflung teilhatten, hörte ich mit Interesse, dass der Zivildienst in einer Intensivstation eines Krankenhauses bei dem einen, in der Altenpflege bei dem anderen einen Humanisierungsschub bewirkt hatte: Statt Zynismus schien Sinn im Leben auf. Warum nicht Zivildienst für alle Menschen ins gesellschaftliche Bildungsprogramm aufnehmen?
In der Frage individueller Entwicklung geht es um die Möglichkeit, von Anfang an, unabhängig von Geschlecht, Klasse und Hautfarbe, die den Menschen eigenen vielfältigen Möglichkeiten zu ergreifen – ein Prozess, der lebenslang anhält. Oder anders: Es sollte nicht mehr hingenommen werden, dass die einen so und so viele Sprachen sprechen, musizieren, dichten, malen und reisend wie Goethe sich weiter vervollkommnen, während andere froh sein müssen, wenn sie überhaupt lesen und schreiben können.
Unser Politikanspruch läuft darauf hinaus, dass Gesellschaft zu gestalten keine arbeitsteilige Spezialität sein soll, wobei die einen die Politik machen, während die anderen, und das ist die übergroße Mehrzahl, deren Folgen ausbaden. Vorbildlich können hier für uns die Frauen der Zapatistas sein, die als die Ärmsten der Armen wie selbstverständlich darauf bestanden, dass nicht, wie eine liberale UNO-Politik vorschlug, der umstandslose Schutz der Indigenakultur eine Forderung der Frauen sein kann, weil in ihr Gewalt gegen Frauen eingeschrieben ist, sondern Frauen das Recht der praktischen Teilhabe an allen politischen Entscheidungen brauchen und dort alle Sitten zurückweisen können, die ihre physische oder geistige Würde verletzen. Dafür verlangen sie: die Hälfte der Stimmen in allen politischen Entscheidungsgremien. Das betrifft auch das Gesundheitswesen, medizinische Kompetenz für alle, Mitentscheidung in den Schulen, bei der Auswahl der Lehrer, bei der Qualität der Produktionsstätten, beim Ausbau der Infrastruktur, das Wissen um Empfängnisverhütung und den allgemeinen Zugang zu Informationen und Lernen. Ihr Ziel ist: Gewalt aus dem Alltag zu verbannen (Mesa de Derechos y Cultura Indígena 1995).
Perspektivisch geht es darum, Gesellschaft von unten zu machen: So wie Rosa Luxemburg von der Demokratie gesagt hat, sie müsse
»auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Masse hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen« (GW 4, 363 f).
Man könnte jetzt darangehen, die vier Bereiche Erwerbsarbeit, Reproduktionsarbeit, politische Arbeit und individuelle Entwicklung je für sich zu verfolgen und dies wiederum wie eine Arbeitsteilung zu handhaben, bei der einzelne Gruppen, Parteien oder gar Strömungen in den Parteien je einen isolierten Bereich als ihr Markenzeichen besetzen. Klassenbewusst betreiben die einen eine Arbeiterpolitik, die für Erwerbstätige greifen kann; die anderen suchen eine Perspektive aus der Vergangenheit hervor, eine Utopie für Mütter nach rückwärts, die uns Frauen lebendigen Leibes ans Kreuz der Geschichte nagelt, wie Bloch dies ausdrückt (Ergänzungsband, 295); auf Entwicklung einer Elite setzen die Dritten, einer Elite, die olympiareif zeigt, was menschliche Fähigkeiten sein können; partizipative Politikmodelle in unwesentlichen Bereichen verfolgen die Vierten, etwa das Fernsehen zu einer Modellanstalt von Zuschauerwünschen zu machen, die Belegschaft an der Gestaltung des Weihnachtsfestes zu beteiligen, die Bevölkerung an der Mülltrennung usw. In allen Fällen wird man erfahren, dass jeder Bereich, für sich zum Fokus von Politik gemacht, geradezu reaktionär werden kann.
Die politische Kunst liegt in der Verknüpfung der vier Bereiche. Keiner sollte ohne die anderen verfolgt werden, was eine Politik und zugleich eine Lebensgestaltung anzielt, die zu leben umfassend wäre, lebendig, sinnvoll, eingreifend und lustvoll genießend. Dies ist kein Nahziel, nicht heute und hier durchsetzbar, doch kann es als Kompass dienen für die Bestimmung von Nahzielen in der Politik, als Maßstab für unsere Forderungen, als Basis unserer Kritik, als Hoffnung, als konkrete Utopie, die alle Menschen einbezieht und in der endlich die Entwicklung jedes Einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann.
Erwerbsarbeit
Der politische Umgang mit Erwerbsarbeit braucht die Einbeziehung von Fragen der Lebensweise. Wie verarbeiten die handelnden Subjekte vor allem die Brüche, die die Entwicklung der Produktivkräfte hervorrufen und die auch die Politik von oben verändern?
Das Feld der Arbeit ist ein hochgradig umkämpftes Terrain. Die vier Beiträge in diesem Bereich setzen je andere Schwerpunkte. Der erste geht zurück an den Anfang individueller Selbstfindung, an die Erfahrung mit Arbeit, wo sie noch Horizont ist, der erreicht werden will. In gewisser Weise umreißt dieser erste Beitrag die Utopie des Neuanfangs und beginnt von vorn die Blockierungen aufzuspüren, die das Utopische in die Entfremdung führen. – Konsequent wird vorangeschritten zur subjektorientierten Arbeitsforschung in der von Hochtechnologie bestimmten Arbeitsweise. Hier wird früh die Fruchtbarkeit deutlich, die die Hereinnahme der Kategorie Geschlecht und damit die Wahrnehmung der weiblichen Arbeitssubjekte bedeutet. Dieser Beitrag wurde vor 20 Jahren geschrieben und berichtet aus zwei empirischen Projekten. Man könnte daher annehmen, dass er inzwischen von der schnellen technologischen Entwicklung und den Fortschritten in der Arbeitsforschung überholt sei. Der Aufsatz endet mit einem Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der Arbeitsforschung, der diese erst zu einer brauchbaren Wissenschaft für die Arbeitssubjekte beider Geschlechter macht. Vergleicht man neue Arbeitsforschung zur Problematik der Geschlechterungleichheit in der Arbeitsteilung, der Kompetenz, der kulturellen Barrieren, des Entgelts, der Wertschätzung usw. (etwa Buhr 2006), so erhellt, dass die 20 Jahre zuvor erarbeiteten Vorschläge noch nicht gegriffen haben und in dieser Weise aktuell bleiben. – Der Aufsatz zur Terrainverschiebung ist am deutlichsten als Vorarbeit zur Vier-in-einem-Perspektive erkennbar. Er führt die Integration von Forderungen aus der Frauenbewegung ins neoliberale Projekt vor und ist Zeugnis, wie notwendig und zeitgemäß ein solcher Eingriff in den Arbeitsbegriff, ins Zeitregime und vor allem in die Politik ist. Er zeigt, wie ein Sieg eine Niederlage sein kann und lehrt zugleich, mit solchen Widersprüchen umzugehen. – Dafür ist der vierte Text zu Hartz IV ein wichtiges Lehrstück. Er führt aus den lähmenden Politiken gegen das Elend, das Hartz IV für viele bedeutet, in die Empörung, die dem gesamten Menschenbild gilt, das hinter der Arbeitspolitik der Regierung steht. Als Analyse, die den Zorn stärkt, ist er zugleich heiter zu lesen und nutzt Humor als Waffe. Vier-in-einem statt Hartz IV ist die befreiende Losung.
In der Arbeit zu Hause sein?
Die zeitgemäße Kritik an der Bedeutung von Arbeit für sozialwissenschaftliche und auch feministische Theorie und gesellschaftliche Praxis erfahre ich als persönliche Verunsicherung. Denn Arbeit erinnere ich als fast magisches Zentrum meines Lebens von klein an.
Arbeitsbiographie
Da war zunächst das Milchholen beim Bauern. Meine um zwei Jahre ältere Schwester durfte das, ich nicht. Milchholen war Arbeit. Vor mir ein abenteuerliches Leben voller Bedeutung und Wichtigkeit. Ich würde eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, weil ich etwas Großes vorhatte; ich würde einen weiten Weg alleine gehen, auf dem ich Gänse passieren musste, vor denen ich mich fürchtete; ich würde die Milch nach Hause bringen, die nötig war und gut schmeckte, und ich würde mich weder verlaufen, noch etwas verschütten, noch zu lange brauchen. Dann würde ich wesentlich älter sein als mein zwei Jahre jüngerer Bruder. Milch holen – die Worte verbanden sich mit Gefühlen von Wildheit, Unabhängigkeit, Größe und Welt und mit einer Unsicherheit, die ich unbedingt wollte. Endlich. Das Hochgefühl hielt einige Wochen an. Ich entdeckte Abkürzungen mit anderen Gefahren. Die schreienden Gänse mit vorgestreckten Hälsen ließen sich umgehen, wenn ich vom Weg abwich und einen eingezäunten Acker durchquerte. Dafür musste ich so schnell laufen, dass der Bauer mit dem Stock mich nicht erreichte. Beim Klettern über die Zäune verschüttete ich oft Milch, aber ich brauchte fast 5 Minuten weniger Zeit. Wenn ich hinfiel, kam Dreck in die Kanne. Langsam wurde das Milchholen zu einer lästigen Aufgabe, der ich mich so dringlich zu entledigen suchte, wie ich sie zuvor gewünscht hatte. Glücklicherweise hatte mein Bruder das gleiche Verlangen nach Größe. Die Pflicht ließ sich abgeben. Aber das Milchholen war ja nur ein Anfang gewesen. Ich war jetzt groß genug, andere häusliche Aufgaben zu übernehmen. Die Enttäuschung über die vergangene Lust spornte mich an, frühzeitig auf Abhilfe zu sinnen. Ich verschwand, wenn es ans Abwaschen ging; ich wurde krank, wenn der Frühjahrsputz nahte; kurz, ich verwendete all meine Energie auf die Vermeidung von Arbeit. Für die Schule entwickelte ich Rationalisierungsstrategien. Alle Fächer wurden von mir so gelebt, dass ich ohne Arbeit durchrutschen konnte. Wenn irgendeine Note sich in den Gefahrenbereich »4« begab, war ich untröstlich, denn das bedeutete: ich musste arbeiten. Als Fahrschülerin verbannte ich solche Hausaufgaben in die Zeit im Zug und in die Pausen, sodass alle übrige Zeit »frei« war zum Lesen, Träumen und Durch-die-Wälder-Streifen. Hier arbeiteten wir schwer, indem wir Hütten bauten, Stollen gruben, ja Bäume fällten und Zweige flochten.
In dieser Zeit nannte man mich zuweilen »Schneckchen«, weil ich herausgefunden hatte, dass Arbeiten im Hause weniger werden, wenn man sich ihnen so widerwillig und langsam nähert, dass ein anderer sie stattdessen ergreift. Meine gesamte Lebensorganisation war bestimmt durch Arbeit bzw. ihre Vermeidung. Ja meine Moral wurde durch sie zersetzt, weil ich häufig ihretwegen lügen musste.
Das Gefühl vom ersten Milchholen wiederholte sich, als ich an die Universität kam. Mein größtes Unglück war, dass in den ersten zwei Wochen fast nichts los war. Aber dann warf ich mich in den Rausch des Lernens. Ich belegte zwanzig Seminare und Vorlesungen, übernahm sieben Referate im ersten Semester. Die Universität betrat ich um acht Uhr früh und verließ sie abends um zehn Uhr, um dann noch tanzen oder schwimmen zu gehen und endlos zu diskutieren. Meine Nahrung war Schokolade. Ich war begeistert. In den folgenden Semestern verschob ich die Lernstunden nur wenig; mehr Zeit für die Bibliotheken ergab sich durch ein kritischeres Urteil über einige Veranstaltungen, die ich darum aus dem Stundenplan strich. Nur in zwei Semestern änderte ich meine Lebensorganisation: einmal, weil ich zu verliebt war, um überhaupt in die Universität zu gehen; ein andermal, weil ich in zu viele politische Veranstaltungen und Demonstrationen verwickelt war, um die davon noch unberührten Seminare bei den Historikern besuchen zu können. Mein Studium wurde lediglich dadurch gestört, dass ich arbeiten musste, um Geld zu verdienen. Aber auch dieses konnte ich durch Erlangen einer der so begehrten »Hilfswissenschaftlerstellen« schon im dritten Semester regeln. Ach, wenn es ewig so bleiben könnte!
Nach dem zehnten Semester mehrten sich Fragen nach dem Studienabschluss; viele, mit denen ich begonnen hatte, schrieben an ihren Examensarbeiten oder hatten die Universität ohne Abschluss verlassen. Der Gedanke an eine Dissertation machte mich krank. Ich schrieb mehr und mehr Referate, um das große Referat nicht schreiben zu müssen. Da plötzlich erfuhr ich in einer ansonsten langweiligen Vorlesung etwas Aufregendes: In der frühen Sowjetunion hatte es »Arbeitseinsätze« gegeben, in denen große Menschengruppen unentgeltlich ihre Samstage damit verbrachten, einen Beitrag für den gesellschaftlichen Aufbau zu leisten. Sie wurden Subbotniks genannt. Lenin selbst beteiligte sich an ihnen. Er, den ich mir als Tag und Nacht arbeitend, schreibend, bedenkend und aufrüttelnde Reden haltend, als ständig überarbeitet und erschöpft dachte. In die Lethargie des drohenden Examens kam die Lust des frühen Milchholens, bereichert um den Hüttenbau der Schulzeit und die Ausdehnung der Universitätsjahre. Hier war in meiner Vorstellung ein ganzes Volk gemeinsam unterwegs in dieser begeisterten Lust, zusammen lebendig zu sein in der Arbeit.
Arbeit, so hatte ich zunächst geglaubt, das ist das Glück des Lebens. Arbeit ist Langeweile, Mühsal, ja Elend und tritt an die Stelle des Lebens – dies waren die Erfahrungen und Lehren insbesondere aus meiner Schulzeit. Der Stachel blieb. Arbeit, so empfand ich jetzt wieder, das ist Zukünftiges und schon wirklich heute.
In kühnem Schwung verband ich die Mühseligkeit der Arbeit mit der Entwicklung der Theorie von Aristoteles bis Hegel und ihre Lust mit der Wirklichkeit der Subbotniks und der Theorie des Marxismus. In diesen Rahmen spannte ich mein Dissertationsprojekt. Es scheiterte nicht daran, dass ich zu wenig arbeitete. In stummem Vorwurf stehen vor mir noch die vielen Bücher, die das Feuer der Subbotniks ebenso erstickten wie meine Lust am Arbeitsvorhaben und damit meine Möglichkeit, diesen Text überhaupt zu schreiben. »Die Erziehung zur Liebe zur Arbeit« – das war der Tenor der Schriften aus der Sowjetunion und aus der DDR, die ich mit so viel Hoffnung aufgeschlagen hatte. Übrig blieb der staubige Geruch aus dem Schulzimmer, der Geist jener Arbeiten, denen ich in meiner Kindheit so erfolgreich aus dem Wege gegangen war. Eine Moral sollte installiert werden; gegen einen angenommenen Sinn für Faulheit sollte die Formierung zur Arbeitsamkeit treten. Disziplin, Gehorsam, Ordnung hatten die Plätze der freudigen, schöpferischen, neuen, lebendigen Freiwilligkeit eingenommen. Ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, das war nicht mehr Geheimnis, Aufbruch, Lust und Gemeinsamkeit – das war individuelle Pflichtübung, gefordert von Lehrern, die darüber ebenso lustlos schrieben, wie die Schüler sich offenbar dazu verhielten – will man den Büchern Glauben schenken. Aus dem Frühlingssturm des lebendigen Wollens war der eisige Wind der Arbeitspflicht geworden. Aus der Lust, ein Mensch sein zu wollen, wurde die Not eines Zöglings in einer Besserungsanstalt. Ich gab auf. Mein Projekt schob ich ins Vergessen. An seine Stelle rückte eine Tochter.
Die Unruhe trieb mich zurück in die Universität. Acht Jahre später gründete ich das Projekt Automation und Qualifikation (vgl. zuletzt PAQ 1987). Hinter dem eher nüchternen Namen suchte ich erneut jenem Geheimnis des frühen Milchholens auf die Spur zu kommen. War es nicht möglich, dass die Entwicklung der Technologie die Arbeit so weit von aller Last, von Monotonie und Dummheit befreien konnte, dass die Arbeitenden endlich anfingen, ihre lebendige Tätigkeit wie Menschen schöpferisch und lustvoll zu leben? Könnte Arbeit jetzt so gestaltet werden, dass lebenslanges Lernen eine Gewohnheit wurde? Zusammenarbeit zur wechselseitigen Stärkung führte? Phantasie zur Notwendigkeit? Und müsste nicht eine solche Technologie aus den privaten Verwertungszwecken ganz unabdingbar zurückgeholt werden ins Gesellschaftliche? Allerdings dachten wir solche Möglichkeiten nicht als harmonische automatische Folge der Entwicklung der Produktionsmittel. Vielmehr folgten wir auch hier Marx, der solche Zusammenstöße von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Katastrophe, als Fragen von Leben und Tod annahm.
Wir versuchten, uns ein solches Individuum vorzustellen, welches lernend arbeitet und arbeitend vornehmlich seinen Kopf betätigt, in dieser Weise verbunden mit anderen. Wir suchten das »total entwickelte Individuum« und Elemente seines Möglichseins hier und heute. Unversehens stellten wir uns die kommenden Arbeiter als Wissenschaftler vor – eigentlich als Mitglieder unseres Forschungsprojekts. Ungleich uns selber hatten sie jedoch keine Körper – zumindest keine Arbeitskörper. Solch einseitige Betrachtung der Menschen schien uns jedoch auch in eine Perspektive zu verweisen, in der die Kultur der Körper gesellschaftliche Tat wird und an die Stelle des einfachen Verbrauchs von Arbeitskraft treten kann. Klaus Holzkamp war so etwas wie ein Ehrenmitglied unseres Projekts. Wir nannten ihn nach dem damaligen erfolgreichen Radsportler den Eddy Merx der Psychologie – ein Name, der zugleich auf das marxsche Erbe wie auf den unendlichen Arbeitseifer verwies, mit dem Holzkamp die Kritische Psychologie Stein um Stein aufbaute. Eigentümlicherweise hatten wir für diese geistige Arbeit eine Figur als eine Art Code gewählt, die als Radsportler ausdrücklich körperliche Arbeit in physikalisch messbarem Umfang leistete – bis zur Erschöpfung. Nur dies schien uns angemessen, um diese Verwandlung von Lebenskraft in Energie der Veränderung zu kennzeichnen. Zum damaligen Zeitpunkt meinten wir das durchaus nicht kritisch. Vielleicht ist es notwendig, selbst praktisch eine solche Verwandlung von Lebenszeit in selbstgewählte Arbeitszeit zu leben, um schließlich doch – wie Klaus dies in der Grundlegung (1984) tat – die Botschaft von der Identität von gesellschaftlicher Reproduktion und der der Individuen zu hinterfragen. Wenngleich die Einzelnen Gesellschaft wiederherstellen müssen, indem sie ihr Leben erhalten, überlebt doch Gesellschaft, wenn Menschen sich selbst vergessen, zu wenig schlafen, essen, lieben und genießen und schließlich krank werden und sterben, und sie überlebt selbst dann, wenn Einzelne sich parasitär verhalten. Gebraucht wird eine Kultur des individuellen Lebens, gerade weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist.
Welche Rolle spielt eigentlich Arbeit in der Psychologie allgemein und welche in der Kritischen Psychologie? Der erste Teil der Frage ist schnell beantwortet: In den verschiedenen Abteilungen herkömmlicher Psychologie hat Arbeit so lange keinen Ort, wie sie nicht durch ihr praktisches Fehlen – in Gestalt von Arbeitslosigkeit – als Ursache psychischer Störungen behauptet werden kann. Daneben gibt es eine Spezialdisziplin: die Arbeitspsychologie – ihre Domäne sind die psychophysischen Vernutzungen durch den Gebrauch menschlicher Sinne, Muskeln und Nerven. Arbeit selbst aber als spezifisch menschlich zu sehen und von daher als grundlegende Dimension jeder Subjekttheorie zu begreifen, dies tut erst die Kritische Psychologie.
In diesem Selbstverständnis fühlten wir uns als Automationsprojekt im Psychologischen Institut wie die Fische im Wasser. Unsere Hoffnungen auf menschliche Entwicklung in der Automationsarbeit sahen wir gestärkt durch das von Ute Holzkamp-Osterkamp formulierte Konzept der »produktiven Bedürfnisse« (1975, 76). Gehört es nicht zur menschlichen Natur, eingreifen, gestalten und verändern zu wollen, sich die Welt anzueignen, um sie zum Wohle aller bewohnbar zu machen? Unser ungebrochener Optimismus in dieser Frage entstand zwar vor der Zeit, da die Meldung von Umweltkatastrophen fast täglich demonstriert, dass die Menschen ausgezogen zu sein scheinen, die Welt unbewohnbar zu machen. Jedoch wird unter diesen Verhältnissen der Einsatz für die Verwirklichung eines Menschseins umso dringlicher, welches zugleich die Bewahrung und Befriedung der Welt und die Entfaltung der individuellen Kräfte auf die Tagesordnung setzt.
»Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer Spezies, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.« (MEW EB 1, 516)
In diesen Worten des jungen Marx fühlten wir uns aufgehoben, einig in der Kritischen Psychologie und wohlgerüstet für unser Automationsprojekt.
In Ute H.-Osterkamps Entwurf schließen die »produktiven Bedürfnisse« das Verlangen nach der Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein; der Protest gegen fremdbestimmte Produktionsverhältnisse kann mitgedacht werden. Die Vorstellung, dass der Mensch mit einem Verlangen nach produktivem Tun ausgestattet sein könnte, gab den in Sozialarbeit und Kindererziehung tätigen Psychologen unmittelbar Auftrieb. Sie übertrugen die kategoriale Form umstandslos auf die Wirklichkeit in Kindergarten und Schule – heraus kam eine neuerliche »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Die einschnürende Kälte aus den alten Büchern meines früheren Dissertationsprojekts wurde gelockert durch die warme Fröhlichkeit der Erzieher. Die Umklammerung blieb. Vergeblich versuchten wir auf der methodischen Ebene den Status der Kategorie einzuklagen. Zu verführerisch war es, die alten Erziehungsziele von Fleiß, Disziplin, Ordnung usw. durch die neue Kritische Psychologie nicht nur zu legitimieren, sondern sogar mit dem Atem des Revolutionären zu beseelen.
Wir vom Forschungsprojekt zur Automationsarbeit wussten ›natürlich‹, dass der Begriff der »produktiven Bedürfnisse« nicht unmittelbar empirisch verwandt werden konnte. Aber konnten nicht »Ansätze«, »Triebkräfte«, »Formen« dieser menschlichen Ausstattung hier und heute gefunden werden? Das unlösbare Problem, mit dem wir uns herumschlugen, war kurz gesagt dieses: Die Vorstellung, dass dem Menschen ein Bedürfnis nach Produktion innewohne, ja dass er so sein Menschsein verwirkliche, verengte unseren Blick auf die Entwicklung einzelner Individuen in Bezug auf ihre Fähigkeiten zur Produktion im Denken, Planen, Können und Wollen. Dies trotz besseren Wissens um die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Fragen der Zusammenarbeit mussten wir zusätzlich anfügen; gesellschaftliche Fremdbestimmung war für uns der beengende Rahmen, der das übergreifende Wollen behinderte, nicht selbst eine Form des Denkens und Handelns.
Die einzelnen Menschen gerieten uns zu bewusst tätigen Wesen; aber ihr Bewusstsein kreiste in unserem Entwurf nicht allein ausschließlich um Arbeit, es hatte ihr Sein aufgeschluckt.
Wie erleichtert waren wir, als Klaus Holzkamp in der Grundlegung nicht nur die »produktiven Bedürfnisse« ohne weitere Auseinandersetzung als zentrale Kategorie wieder verschwinden ließ (bzw. ersetzte durch die Wendung »produktiver Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse« [242]), sondern sich sogar an den Hauptbrocken wagte: Marx und die Arbeit. Ohne große Umstände wird jener Kronzeuge der vielen Bücher, die zur Liebe zur Arbeit erziehen wollten, jener historisch belastete Satz von »der Arbeit als erstem Lebensbedürfnis« aus Standpunkt und sozialistischer Perspektive entfernt:
»Nicht die ›Arbeit‹ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern ›Arbeit‹ nur so weit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also ›handlungsfähig‹ macht. Mithin ist nicht ›Arbeit‹, sondern ›Handlungsfähigkeit‹ das erste menschliche Lebensbedürfnis – dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.« (243)
Endlich vorbei mit der Drohung von Arbeitserziehungslagern, der fröhlichen Unterwerfung im Kindergarten, der Lähmung durch die Schule, der puritanischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, dem arbeitenden Gott?
Im Begriff der Handlungsfähigkeit sind die gesellschaftlichen Verhältnisse auf jeden Fall mitgedacht und einklagbar. Der Begriff hat zudem den Vorteil, Bewegung einzubeziehen. Es gibt Stufen von Handlungsfähigkeit, gab es Stufen von Arbeit? Arbeit konnte zum bloßen Produktivismus geraten; der gesellschaftliche Bezug konnte verloren gehen. Im Begriff der Handlungsfähigkeit dagegen denken wir den Kampf um die Balance in Gesellschaft, die Bewegung zu immer größeren Fähigkeiten des Handelns, den Erwerb dieser Fähigkeiten und die Verfügung über die Bedingungen, die beides umfassen. Ja, dies ist das erste menschliche Lebensbedürfnis, ohne Zweifel.