Kitabı oku: «Blind am Rande des Abgrundes», sayfa 5
7. Aufstieg
Das Jahr 1935 brachte Hitlers ehrgeiziger Militär- und Außenpolitik sichtbare Fortschritte. Der neue „Volksempfänger“, den Goebbels im August 1933 auf der großen Funkausstellung in Berlin als besonderen Schlager herausgestellt hatte, trug jetzt schon die Erfolgsmeldungen in viele Haushalte. Wir hatten noch kein Rundfunkgerät und waren deshalb auf die Zeitungen angewiesen. Mit sensationellen Meldungen begann schon der Januar. In diesem Jahr hatte die Altenburger Landeszeitung auch noch manch weitere Gelegenheit, uns mit Schlagzeilen zu versorgen:
Dienstag, 15. Januar 1935
Die Saar ist heimgekehrt. … Die Altenburger Kundgebung beginnt heute Abend um 7.45 Uhr.
Selbstverständlich war die Hitlerjugend wieder mit auf dem Marktplatz, die Reichswehr jedoch diesmal auch. Nicht lange danach stand das Militär sogar bevorzugt im Blickfeld der Presse:
Montag, 18. März 1935
Allgemeine Wehrpflicht … Altenburg ehrt die gefallenen Helden. … Heldengedenkfeier auf dem Marktplatz … von Neindorff, Major und Standortältester hielt Ansprache … Parademarsch und Vorbeimarsch der Soldaten der Reichswehr … Gedenkfeier mit Pfarrer Löbe auf dem Heldenfriedhof.
Es war bei unserer Erziehung kein Wunder und auch nicht zu übersehen, dass wir Jungen beim Anblick paradierender Soldaten in Begeisterung gerieten. Solch ein Ereignis kannten wir ja nur von Bildern. Die Machthaber nutzten diese Gelegenheit geschickt aus, um die Jugend noch fester auf den Kurs der Militarisierung einzuspuren, wie die folgende Zeitungsnotiz zeigt:
Dienstag, 19. März 1935
Der thüringische Minister für Volksbildung, Fritz Wächtler, hat am 18. März folgende Anordnung erlassen: „Der Führer und Reichskanzler hat mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die deutsche Wehrfreiheit wieder aufgerichtet ….Unter dem Eindruck dieser großen geschichtlichen Wende … ordne ich folgendes an: Bis zum Ende des laufenden Schuljahres ist in allen mir unterstellten Schulen vom 6. Schuljahr ab, das Reichsgesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts zu stellen … Es muss in der Jugend das tiefbeglückende Bewusstsein wachgerufen werden, dass ihr das Erleben größter und welthistorischer Entscheidungen beschieden ist …“
Diese „welthistorischen“ Entscheidungen waren damit verbunden, dass bereits im Juni zur Musterung der Jahrgänge 1914 und 1915, also der 20- und 21-Jährigen aufgerufen wurde. Im gleichen Monat verordneten neue Gesetze die Arbeitsdienst - und die Luftschutzpflicht. Altenburg wurde auch bald wieder eine Garnisonstadt. In seine Kasernen an der Leipziger Straße zog, wie schon im zweiten Deutschen Kaiserreich, die Infanterie ein. Das Leben der Menschen in der Stadt verband sich von nun an immer enger mit dem Leben der hier stationierten Soldaten. Wie alles Neue, zog uns Kinder dieses Geschehen an. Wir rannten anfangs überall hin wo Soldaten übten und marschierten. Das ließ mit der Zeit wieder etwas nach, wie alles was zur Gewohnheit wird. Zur Gewohnheit wurden auch bald das Knattern der Platzpatronen auf den Wiesen vor der Stadt, das Marschieren der zur täglichen Übung ausrückenden Marschkolonnen und ihr lauter Gesang in unserer Straße. Das Interesse der heiratsfähigen jungen Mädchen blieb groß. An den Wochenenden sah man immer mehr von ihnen mit ihrem schmucken Soldaten spazieren gehen. Größere Militärveranstaltungen zogen allerdings auch die übrige Bevölkerung in ihren Bann. Die Uniform als Repräsentation höchster Macht im Staate hatte unter den Deutschen leider noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt.
Hierzu wieder ein paar Notizen aus der Altenburger Landeszeitung, die zeigen, dass man dieses Interesse wachzuhalten gewillt war:
Montag, 1. Juli 1935
Rückkehr des II. Bataillons … Von unserem II. Bataillon erhalten wir die Nachricht, dass die Übungen auf dem Truppenübungsplatz beendet sind. Das Bataillon wird einen Teil des Rückweges, und zwar von Mittweida bis Altenburg im Fußmarsch zurücklegen.
Dienstag, 24. September 1935
Willkommen im neuen Standort! Die Ankunft der IV. Abteilung des Artillerieregiments Naumburg. Gestern sind zwei Batterien des Art. Rgt. Naumburg in Altenburg, ihrem neuen Standort eingetroffen. Die offizielle Begrüßung wird am 30. September stattfinden.
Das war etwas für uns Jungen. Es gab nun auch noch Kanonen in unserer Stadt. Für die Artillerie war in Altenburg eine Erweiterung des Kasernenkomplexes vorgenommen worden. Außerdem hatte man eine ehemalige Fabrik im Ortsteil Kauerndorf für die zu Kurzübungen einberufenen Reservisten der Infanterie eingerichtet. Das war jenes oben genannte II. Bataillon. Sie hießen bei allen Leuten nur „die 8-Wochen-Soldaten“. Aus der Reichswehr der Weimarer Republik wurde die Deutsche Wehrmacht. Die Presse jubilierte:
Donnerstag, 7. November 1935
Die neuen Flaggen der Wehrmacht … Altenburgs Rekruten schwören Treue der Reichskriegsflagge …
Von der Entwicklung Deutschlands zu einem Militärstaat blieb keine Organisation der Partei unberührt. Damit ging auch für das Deutsche Jungvolk die Phase des romantisch eingefärbten Jugendlebens zu Ende. Es verschwanden bald die bunten, selbst entworfenen Wimpel und Fahnen .Die farbig geflammten Landsknechts Trommeln wichen den einheitlich schwarz-weiß geflammten. Außerdem erhielten wir Dienstgrade und Rangabzeichen. Der Dienst wurde straffer, es wurde geschult und gedrillt. Wir versuchten beim Exerzieren mit der Wehrmacht zu wetteifern. Die Leute sahen uns alsbald mit Staunen durch die Straßen ziehen. Manch alter Frontsoldat wird in den folgenden Jahren die Disziplin unserer Marschkolonnen mit Wohlgefallen betrachtet haben. Ja, es war so - diese Jugend tat in ihrer Mehrzahl mit Hingabe, was man von ihr erwartete. Sie bereitete sich darauf vor, „Den aufhaltsamen Aufstieg und Fall des Arturo Ui“ mit all ihren Kräften zu vollenden. Wir glaubten wirklich, es diene alles zum Besten unseres Landes. Als Zeitdokument möchte ich dazu wieder die Altenburger Landeszeitung zitieren:
Dienstag, 9. Juli 1935
Neue Dienstränge in der HJ … Als neuer und unterster Dienstrang wird bei der Hitlerjugend der Rottenführer eingeführt. Entsprechend erhält das Deutsche Jungvolk den neuen Rang des Hordenführers. Als Kennzeichen trägt der HJ-Rottenführer eine silberne Litze auf beiden Schulterklappen, der DJ-Hordenführer einen silbernen Winkel auf dem linken Unterarm.
Sonnabend / Sonntag, 10. / 11. August 1935
Das Führungsorgan der nationalsozialistischen Jugend „Wille und Macht“ bringt in seinem Heft vom 1. August einen Aufsatz „Der Soldat von morgen“. Er umreißt die Gestalt des Offiziers, des Unteroffiziers und des Dienstpflichtigen … In dem Dienstpflichtigen erkennt Helmcke (Anm.: Verfasser des Artikels) den Mann, der weiß, worum es geht. „Den Willen zum letzten soldatischen Einsatz ist diese Jugend entschlossen, der Welt zu zeigen“. Der Aufsatz …wird gerade in der Hitlerjugend ein gutes Echo finden, weil hier zum ersten Male das Gesicht des Soldaten von morgen gezeigt wird, der Vorbild der Nation ist.
Mittwoch, 28. August 1935
Jungvolklager Thräna. Mit dem 1. September wird das Führerlager Thräna wieder in Betrieb genommen werden. Dort werden jede Woche 50 Jungenschaftsführer und Hordenführer des Deutschen Jungvolks körperlich und geistig geschult. Aller 14 Tage finden Lehrgänge für Jungzugführer statt …
In dieser Zeit begann mein Aufstieg über die Leiter der Dienststellungen und Rangstufen im Deutschen Jungvolk. Im Grunde war ich überrascht, als man mir sagte, ich solle den Dienst eines Hordenführers übernehmen. Das war weiter nichts, als bei fünf bis sechs Jungen, die in meiner Nachbarschaft wohnten, den Beitrag zu kassieren und Benachrichtigungen für den Dienst zu überbringen. Ich tat es so gewissenhaft wie ich es konnte. Das war anscheinend gut genug, um mich eines Tages in jenes Führerlager nach Thräna zu schicken, damit ich mir den dazugehörenden Dienstrang mit dem Silberwinkel am Ärmel erstrampeln konnte. Das hielt ich damals für einen Vertrauensbeweis und eine Ehre. Was mich und die mit mir dort angereisten Kameraden erwartete, war so strapaziös , dass mir der zuständige HJ-Arzt bei der abschließenden Untersuchung riet, ich solle mich wegen meines Herzens in ärztliche Nachkontrolle begeben. Wir wurden dort von einem äußerst unsympathischen Jungvolkführer bis zur Erschöpfung geschliffen. Es war das erste Mal, dass ich gegen einen Jungvolkführer eine tiefe Abneigung empfand. Das barackenähnliche Backsteingebäude für dieses Führerlager war bereits im September 1933 dem Altenburger Jungbann von den Niederlausitzer Kohlenwerken zur Nutzung übergeben worden. Es gehörte bis dahin zum Braunkohlentagebau - und Brikettfabri k- Komplex in Thräna und lag an der sächsisch - thüringischen Grenze. Ein Tagebauloch lag direkt vor unserer Führerschule. Wenn irgendetwas nicht klappte, jagte uns jener Sadist von Ausbilder mit dem Befehl: „In den Tagebau marsch-marsch!“ über den Schräghang des oberen Abraums. Das geschah mitunter mehrmals hintereinander, so dass wir zum Schluss mit zitternden Knien und völlig k.o. wieder den oberen Tagebaurand erreichten. Natürlich lernten wir auch viele andere Dinge, die wir für recht interessant und nützlich hielten. So zum Beispiel den Umgang mit Karte und Kompass, Geländebeschreibung, Entfernungsschätzen, Tarnen und den vielen militärischen Kram, der einem im Laufe der Jahre dann in Fleisch und Blut überging. Diese Führerschule erlebte ich vermutlich Anfang des Jahres 1936. Ich war zum ersten Mal froh, eine Jungvolkveranstaltung hinter mich gebracht zu haben. Begeisterung hatte das Erleben nicht erzeugt. Dafür stellte sich als Nachwirkung ein eigenartiger Effekt ein: Ich merkte bald, dass ich nun mehr gefordert und gefragt war in meinem Fähnlein. Auf einmal war der kleine Pimpf herausgehoben aus der Masse der Anderen weil er einen Einsatz mit ganz besonderen Anforderungen ehrenvoll bestanden hatte. Ein Ehrgeiz zu etwas Besonderem war mir bis dahin so gut wie fremd gewesen. Jetzt war ich zwar nur um ein Weniges herausgehoben, doch im Laufe der Jahre veränderten sich meine Rangabzeichen weiter. Führer Schnüren kamen eines Tages auch dazu. Sie zeigten die Dienststellung an, die man einnahm. Daran konnte jeder erkennen, über wieviel Jungen der betreffende Träger das Kommando führte. Es bedeutete allerdings auch, dass der Betreffende in der Lage sein musste, den Dienstbetrieb für seine ihm unterstellte Einheit zu organisieren und zu lenken. Zunächst war daran bei mir noch nicht zu denken denn ein Bestreben aufzusteigen war bei mir kaum vorhanden. Allmählich entwickelte sich unter der Führerschaft des Jungvolks ein gewisses Elitebewusstsein und eine Eitelkeit von der besonderen Art, wie ich sie schließlich bei allen uniformierten Formationen dieser Zeit beobachtete. Uns war das durchaus bewusst und wir frozzelten darüber. War einer in eine höhere Dienststellung aufgerückt, dann wurde von den Anderen manchmal gewitzelt, er drücke die linke Brusthälfte zu weit nach vorn. Linksseitig trug man nämlich die Führer Schnüren vom Jungzugführer an aufwärts.
Mit der Beseitigung der jugendgemäßen Vielfalt im Erscheinungsbild des Deutschen Jungvolks zu Gunsten einer militärischen Einheitlichkeit wurde bereits im Januar 1935 begonnen, als in Marienburg 600 Jungbannfahnen geweiht wurden. Davon kamen 21 nach Thüringen. Eines Sonntagvormittags erfolgte am Altenburger Bahnhof durch uns die feierliche Einholung unserer Jungbannfahne. Etwas später bekamen wir die ebenfalls „geweihten“ Fähnleinfahnen, alle vom gleichen Format, mit weißer Siegrune auf schwarzem Grund und mit eingestickter Fähnleinnummer. Die nach uns in einem demokratischen Staatswesen lebenden Menschen werden es nicht für möglich halten, in welchem Ausmaße 33 Monate nach Hitlers Machtübernahme nicht allein die Jugend, sondern auch die Erwachsenen auf ein militaristisches Gehabe eingeschwenkt waren. Dazu noch eine Notiz aus der Altenburger Landeszeitung:
Sonnabend / Sonntag, 20. Oktober 1935
Thing des Stammes Kauffungen. Dumpfe Schläge der Landsknechts Trommeln hallen durch die Straßen der Stadt, und dazwischen erklingen die hellen Fanfaren. Die Leute auf den Straßen bleiben stehen und grüßen mit erhobener Rechten die Fahnen der jüngsten Gliederungen der nationalsozialistischen Bewegung. Der Marsch geht auf den Platz vor der früheren Nikolaikirche … Es ist zum ersten Male, dass das Altenburger Jungvolk seinen Thing nicht draußen im nächtlichen Wald abhält, sondern hier mitten in der Stadt, in einem der ärmsten Viertel …
Zeltwache, Pfingstlager 1934
Entrollen der Fahnen für den Abmarsch ins Pfingstlager 1941
Aus romantischem Spiel wird schrittweise die Vorbereitung auf den kriegerischen Ernstfall.
Ich muss gestehen, eine Vorstellung über meine Zukunft und berufliche Entwicklung habe ich erst ziemlich spät, in meinem sechzehnten Lebensjahr erlangt. Dann aber war ich mir sehr sicher und verfolgte dieses Ziel mit großer Hartnäckigkeit gegen alle Widerstände und Misslichkeiten meines Lebens.
Bis dahin tat ich, was der Tag von mir verlangte und verbrachte den Rest der Zeit mit dem, was gerade mein Interesse gewonnen hatte. Die Pflichten des Tages trugen Schule und Jungvolkdienst an mich heran. Das Angenehmste in meinen Beschäftigungen ergab sich aus persönlichen Neigungen und vielfältigen Anregungen aus meiner Umgebung. Daran gewannen Beobachtungen in der Natur ebenso ihren Anteil wie Bücher, Filme und alle möglichen Erlebnisse in unserer Stadt.
8. Non scholae, sed vitae discimus
Mein Vater hatte vermutlich schon lange ziemlich klare Vorstellungen über die Grundlagen meines Fortkommens. Er war in seinen Jugendjahren zu der Erkenntnis gelangt, dass einzig und allein eine solide Schulbildung den Weg in eine gesicherte Existenz eröffne. Nachdem er seine Schlosserlehre in Stendal beendet hatte, war er von zu Hause weggegangen und hatte versucht aus eigener Kraft voranzukommen. Das brachte ihn auf der Grundlage seiner Berufsausbildung mit der Zeit bis zum Lokomotivführer. Sein Wunsch, durch ein Fernstudium noch das Abitur nachholen zu können, überforderte ihn, weil er sehr früh eine Familie ernähren musste. Damit endete sein weiterer gesellschaftlicher Aufstieg. Der Beweis für sein damaliges Streben befindet sich in Gestalt einer kompletten Sammlung von Selbstunterrichtsbriefen des Rustinschen Lehrinstituts, Verlag von Bonneß & Hachfeld, heute in meinem Bücherschrank. Darin dokumentiert sich ein Streben meines Vaters, das sein Handeln als Erzieher zweier Kinder wesentlich beeinflusste und vor allem sein Verhalten mir gegenüber prägte. Ich sollte nach seinen Vorstellungen einmal erreichen, was ihm nicht vergönnt war, das Abitur. Dabei war ich überhaupt nicht der Typ eines Aufsteigers, eher der eines einigermaßen begabten Träumers. Nach dem pädagogischen Verständnis meines Vaters gab es für mich zwei Grundregeln: Ich hatte unbedingt zu gehorchen und außerdem meine Hausaufgaben ordentlich zu machen. Ansonsten genoss ich eine ziemlich weitgehende Verfügbarkeit über meine Zeit. Als jedoch die Zeit heranrückte, wo sich die Kinder meines Alters auf die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium oder das Realgymnasium vorbereiten mussten, da lehnte ich ab die Schule zu wechseln. Man meldete mich trotzdem im Herzog- Ernst-Realgymnasium der Stadt Altenburg an. Im Winterhalbjahr trainierte mich mein Klassenlehrer, gemeinsam mit vier anderen zur Aufnahmeprüfung bestimmten Klassenkameraden so gut, dass weder er noch unsere Väter ein Misslingen besagter Aufnahmeprüfung zu Jahresanfang 1935 befürchten mussten. Ein kritischer Moment trat dann doch noch ein, als ich in Marsch gesetzt werden sollte, um mich dieser Prüfung auch wirklich zu unterziehen. Ich weigerte mich dorthin zugehen. Es war das aber gerade die Zeit, in der ich mich intensiv für das Spiel mit jenen schon beschriebenen Elastolin-Soldaten interessierte. Eine bestimmte Figur, es war ein MG-Schütze, hatte ich im Schaufenster des Spielwarenladens auf dem Markt oft bewundert und begehrt. Leider bestand außerhalb von Geburtstagen keine Chance, ihn zu erhalten. So fand meine sparsame Mutter einen interessanten Ausweg: Sie versprach mir, dass ich bei Bestehen der Aufnahmeprüfung ihr altes Bügeleisen bekäme, womit ich beim Schrotthändler sicher die paar Groschen erhalten könnte, die zur Anschaffung des begehrten Stückes erforderlich sein würden. Ich willigte ein und gehörte zu den Anwärtern, die ihre Prüfung bestanden. Alle waren zufrieden, ich bekam meinen MG-Schützen und fand mich kurze Zeit danach in Klasse Sexta des Realgymnasiums wieder. Diese Schule war gerade einer Reform dahingehend unterzogen worden, dass die Schüler sich am Ende der Obertertia entscheiden konnten, ob sie mit einer Lateinausbildung bis zur Oberprima mit Abiturabschluss bleiben oder mit einer Realabschlußprüfung aus der Untersekunda abgehen wollten. Dies dürfte für die Väter minderbegabter Schüler einige Sicherheit bedeutet haben, ihr Geld auch dann noch vernünftig angewendet zu haben, wenn ihre Sprösslinge nur den halben Weg durch die Klassenstufen schaffen sollten. Wenn ich mich recht erinnere, betrug das von meinem Vater zu berappende Schulgeld 200 Reichsmark im Jahr, das war ein ganzes Monatsgehalt.
An dieser Stelle möchte ich wieder einige Passagen aus der Altenburger Landeszeitung zum Thema Schule einfügen, weil damals der Staat auch hier seinen Einfluss auf die Erziehung der jungen Generation mit Nachdruck geltend machte. Zunächst soll noch eine Notiz der Altenburger Landeszeitung zur erwähnten Reform unserer Schule wiedergegeben werden:
Dienstag, 29. Januar 1935
Aufbau des Ernst-Realgymnasiums … der amtliche Name der Schule wird wie folgt festgelegt: „Reformrealgymnasium - Ernst-Realgymnasium“ … Die eingeführte und weiterhin genehmigte Schülermütze ist die weiße mit grünweißgrünem Band …
Es gab in diesen Jahren noch für jeden Schultyp eine spezielle Mützenfarbe, an der man sofort erkennen konnte, welche Schule von ihrem Träger besucht wurde. Die Volksschüler trugen, wenn sie das wollten, dunkelblaue Schirmmützen, die Gymnasiasten rote, die Mädchen der höheren Mädchenschule blaue mit goldener Litzenecke, die Schüler der Landwirtschaftsschule grüne und so fort. Bei uns hatte jede Klassenstufe noch bestimmte Farbkennzeichnungen an den Mützenbändern. Man konnte sofort erkennen wenn ein Schüler versetzt war. Dem Mützenwesen aus alter Zeit wurde allerdings etwas später von der neuen Obrigkeit ein Ende gesetzt. Die Uniformen der HJ verdrängten dann wenigsten äußerlich die Unterschiede im sozialen Stand der Schüler. Das entsprach den Vorstellungen über nationalsozialistische Jugenderziehung. Den Weg in diese Richtung zeichnete man in der Presse wie folgt vor:
Donnerstag, 7. November 1935
So soll die Jugend erzogen werden. Nationalsozialistische Lehrertagung weist neue Wege …
Freitag, 15. November 1935
Schülervereinigung des Reform-Realgymnasiums aufgelöst …, um allen Schülern dieser Anstalt Gelegenheit zu geben, in die Hitlerjugend einzutreten …
Dienstag, 10. März 1936
Heldengedenkfeier im Ernst-Realgymnasium. Lehrer und Schüler in der Aula. Nach dem gemeinsam gesungenen Liede „Befiehl du deine Wege“ trugen zwei Schüler Gedichte vor. Zwei Lieder des Schulchores leiteten würdig zur feierlichen Ansprache über, die Realoberlehrer Kühn hielt … Feierlich klang leise das Lied vom guten Kameraden am Schluss der Rede durch den Raum … Karl Brögers Gedicht „Liebe der Toten“ rief noch einmal die Gefallenen vor die Seelen der Jugend. Goethes Beherzigung „Feiger Gedanken“ mahnte zu Mannesmut und Tapferkeit. Darauf verteilte der Direktor die Gaben an fünf Schüler, deren Väter Opfer des Weltkrieges geworden sind, zwei Geldspenden und drei Büchergaben … und ging nochmals in einer kurzen Ansprache auf die Bedeutung des 7. März ein: Neben Trauer stehe mit Recht der Jubel; denn Deutschland ist nun durch des Führers Tat ganz frei geworden, alle Schande hat nun ein Ende. Mit dem Gruß an den Führer und den Nationalliedern klang die Feier aus.
Donnerstag, 12. März 1936
Zusammenarbeit von Schule und Staatsjugend. Gebietsführer Karl Seele vor der Lehrerschaft des Kreises. Der Redner (sagte): „Jene Eltern, die noch heute Bedenken dagegen tragen, ihre Kinder in das JV und die JM zu lassen, die die nationalsozialistischen Grundsätze ablehnen, bedenken nicht, dass sie in den Herzen ihrer Kinder eine furchtbare Gewissensnot hervorrufen.“
Sonnabend / Sonntag, 8. / 9. August 1936
Der Reichs- und preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hat angeordnet, dass zur Teilnahme am schulplangemäßen Religionsunterricht, an Schulgottesdiensten, Schulandachten und ähnlichen religiösen Schulveranstaltungen kein Schüler gezwungen werden darf.
Dienstag, 29. September 1936
Neue Erziehungsmethoden für unsere Jugend. Nur noch 12-jährige Höhere Schule.
Freitag, 4. Dezember 1936
Reifeprüfung für Unterprimaner im März. 12-jährige Schulzeit wird durchgeführt. , dass die jetzigen Schüler der Unterprima der Höheren Schulen für Jungen bereits am Schluss dieses Schuljahres die Reifeprüfung ablegen und zwar in der Woche vom 15. bis 20. März 1937. Dabei fällt die schriftliche Prüfung weg … Auch für die Schüler der jetzigen Oberprima, die in der Woche vom 1. bis 6. Februar 1937 die Reifeprüfung ablegen, fällt die schriftliche Reifeprüfung fort. Durch diese Anordnung, die naturgemäß den Charakter von Übergangsmaßnahmen tragen müssen, wird die 12-jährige Schulzeit praktisch eingeführt.
Den betroffenen Examinanten war eine solche Regelung vermutlich eine frohe Botschaft. Sie werden in der Mehrzahl wohl kaum auf Gedanken gekommen sein, die sich einem Leser dieser Bekanntmachung nach dem Ende des Zweiten Weltkriege aufdrängen muss: Hitler verschaffte sich hierdurch zwei Jahre vor Kriegsausbruch den schnellen Zugriff auf zwei gut qualifizierte Jahrgänge für die Einberufung zum Wehrdienst. Wie sich bald zeigen sollte, waren darunter tatsächlich viele, die später als Offiziere an allen Fronten dieses wahnwitzigen Krieges standen und fielen.
Die folgende Zeitungsmeldung belegt noch einmal diesen Sachverhalt. Die darin am Schluss genannten beiden Jahrgänge sind die Jahrgänge der Schüler von Unterprima und Oberprima des Schuljahres 1936/37:
Dienstag, 15. Juni 1937
Gestellungsaufruf: Auf den in der Ausgabe vom 12. Juni 1937 erschienenen Gestellungsaufruf zur Musterung und Aushebung der Geburtsjahrgänge 1913, 1914, 1915, 1916 und 1917 wird nochmals verwiesen.
So ging ich also nun in die höhere Schule. Sie lag auch geografisch gesehen hoch über der Stadt. Das mochte noch angehen wenn sie nur nicht auch noch in ziemlicher Distanz zu unserer Wohnung gelegen hätte. Die ersten Jahre, bevor ich über ein Fahrrad verfügte, brauchte ich täglich etwa anderthalb Stunden für Hin- und Rückweg zusammen. Nur bei eindeutig starkem Regen erhielt ich von meiner Mutter Zehn Pfennig für den Bus, der am Bahnhof abfuhr und in zehn Minuten zu erreichen war. Natürlich gab es Schüler, die täglich mit dem Bus hin und zurück fahren konnten aber das betraf nur ganz wenige. Darunter Heinz Apel, einen Bauernsohn aus dem nördlich der Stadt gelegenen Ort Knau. Er musste von dort ohnehin schon dreißig Minuten gehen bis zur Bushaltestelle am Bahnhof. Es gab in Sexta recht viele Söhne aus den reichen Altenburger Bauernhöfen. Arbeiterkinder waren bei uns in der Schule noch eine große Ausnahme. Die meisten meiner Klassenkameraden entstammten dem Mittelstand und dem gehobenen Bürgertum. Ich war froh, dass es außer mir noch zwei Söhne von Lokomotivführern bei uns gab: Horst Weinrich und Joachim Voigt. Ich kannte sie von meiner Volksschule her und war froh, nicht nur unter Sprösslingen von Steuerinspektoren, Prokuristen, Ingenieuren, Lehrern, Ärzten, Großbauern und Geschäftsleuten zu sein. Unser Schulgebäude gefiel mir recht gut. Vor dem ansehnlichen Backsteinbau, über dessen Haupteingang die Bibelworte eingemeißelt waren: „Die Furcht des Herrn ist aller Weisheit Anfang“, breitete sich ein gepflegter Schulpark aus. Es gab darin viel Rasenfläche aber auch Buschwerk und einige hohe Bäume. Rechtwinklig zum Schulgebäude schlossen sich rechter Hand eine Turnhalle und links das Wohngebäude für den Direktor an. Oberstudiendirektor Dr. Fritzsche bewohnte das Obergeschoß des einstöckigen Gebäudes. Darunter befanden sich die Biologiekabinette und die dazugehörenden Fachunterrichtsräume. Im Hauptgebäude befanden sich alle Klassenräume, eine ansehnliche Aula mit geschnitzter Wandtäfelung, Dienst- und Konferenzräume und - was mich später sehr beeindrucken sollte - ein Chemiehörsaal mit dazugehörenden Kabinetten für Gerätschaften und Chemikalien, sowie einem richtigen Praktikumsraum für Schüler. Zwei Stockwerke darüber befanden sich eine ähnlich große Raumanordnung für den Physikunterricht. Vorerst blieben diese Räume für mich verschlossen. Dafür konnte ich mich am Zeichensaal begeistern, in dem Zeichenoberlehrer Max Koepke regierte.
Als Sextaner erhielten wir in der Pause den Platz vor der Turnhalle zugewiesen, auf dem es zwar eine Lehreraufsicht aber keine Bewegungseinschränkungen wie in der Hans-Schemm-Schule gab, wie die Nordschule jetzt hieß, aus der ich kam.
Je weiter man in den Klassenstufen aufstieg, umso mehr wanderte man mit seiner Klasse im Schulpark auf das Direktorgebäude zu. Dort stand auf einer kleinen Erhöhung eine riesige Trauerweide, unter der einige Bänke aufgestellt waren. Auf ihnen saßen in den Pausen die Oberprimaner und betrachteten gelassen und mit einem gewissen Abstand das temperamentvollere Geschehen unter den übrigen Schülern. In ähnlich kluger Weise waren die Klassenräume auf das Schulgebäude verteilt. Natürlich befanden sich die höheren Klassenstufen in den oberen Stockwerken. Bemerkenswert war jedoch, dass die Klassen für die Jahrgänge der Flegeljahre unmittelbar gegenüber dem Direktorzimmer lagen. Das hat mir zur Zeit als mein Jahrgang in die Periode unkontrollierbarer Temperamentsausbrüche gelangte, einmal eine schallende Ohrfeige vom „Rex“ eingebracht. „Rex“ war die Kurzbezeichnung für den Obersten Chef des Hauses. Ein König war dieser lebhafte, von Statur kleine Mann tatsächlich für uns. Seinen Geschichtsunterricht konnte man eher als Vorlesung bezeichnen und die hielt er sehr souverän. Wir lauschten auf seine Darstellung geschichtlicher Abläufe und Zusammenhänge und waren gefesselt von seinem Vortrag. Das allerdings sollte ich erst von der Mittelstufe ab erleben dürfen. Zunächst zollte ich ihm noch den alleinigen Respekt als dem, der hier das große Sagen hatte. In meinem ersten Jahr auf dieser Schule gelang es mir am ehesten bei Herrn Koepke mit meinem Zeichentalent Eindruck zu machen. Wie so oft in unserem vom Krieg gezeichneten Land, gab es auch um diesen Lehrer eine traurige Geschichte aus hingebungsvoll vaterlandstreuer Jugendzeit.
Koepke Max, wie wir sagten, war Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg gewesen. Wir erfuhren bald aus seinem Erzählen, dass ihn ein Granateinschlag sehr schlimm im Bauchraum verletzt hatte. Obwohl man ihn schon fast aufgegeben hatte, war er im Lazarett doch einigermaßen wieder hergestellt worden. Danach hatte er Zeichnen und Kunstgeschichte studiert und wurde schließlich ein ausgezeichneter Pädagoge auf diesem Gebiet. Als wir etwas älter waren, erfuhren wir allmählich, dass sein Körper als schlimmste Folge seiner Kriegsverletzung irreparable Schäden im Unterleib davongetragen hatte. Seine Ehe blieb deshalb kinderlos und voller Probleme. Dieser Mann war äußerst sensibel, temperamentvoll und fantasiereich. Ich hatte diesen Lehrer sehr gern. Sein Unterricht war sehr abwechslungsreich. Manchmal erzählte er selbsterfundene Geschichten, aus denen wir dann nach freier Wahl Bilder malen sollten. Seine Geschichten hatten gewöhnlich einen düsteren - geheimnisvollen Schluss. Heute neige ich zur Ansicht, dass dieser Lehrer als schlimmstes Übel aus dem Krieg auch noch eine Gemütserkrankung mitgebracht hatte. Er war übrigens ein leidenschaftlicher Verehrer seines Führers. Seine Bemerkungen über Hitler hatten schon manchmal etwas Skurriles an sich, besonders wenn er so tat, als kenne er die geheimsten Überlegungen unseres Kanzlers. Eines Tages, schon mitten im zweiten Weltkrieg, fand man ihn erhängt auf dem Boden unserer Schule. Ich sehe ihn heute als ein spätes Opfer des ebenso sinnlosen Ersten Weltkrieges.
Wie Herr Koepke, so waren noch viele unserer Lehrer als junge Männer in den Ersten Weltkrieg gezogen. Die meisten von ihnen trugen davon zumindest irgendwelche Schrullen mit sich herum, über die wir gelegentlich lachen konnten. Da war zum Beispiel Oberstudienrat Dr. Doelle, ein mächtiger Mann als Vertreter des Direktors, als souveräner Mathematiklehrer und auch von seiner Statur her. Wir nannten ihn „Bobby“. Im Ersten Weltkrieg hatte er bei der schweren Artillerie gedient. Wenn wir es schafften, ihn davon erzählen zu lassen, dann mussten wir uns mächtig das Lachen verkneifen. In seinem Bericht triumphierte über den Feind gewöhnlich die Fähigkeit zu genauer mathematischer Berechnung einer Geschoßbahn. Der Clou kam für uns immer dann, wenn sein Bericht den Punkt erreicht hatte wo Bobby als Ballonbeobachter aufsteigen musste, um die Stellung eines französischen Eisenbahngeschützes ausfindig zu machen, die gerade durch Verlegen von Eisenbahngleisen eingerichtet wurde. Vor unseren tränenden Augen stieg Bobby in seiner derzeitigen Gestalt in den Korb des Ballons und ließ das Luftgefährt gefährliche Schwingungen vollführen. Wenn dieser Bericht den zielgenauen Einschlag der von einem Elefantengroßen Ballonbeobachter gesteuerten Artilleriesalve mit dem sächsisch singenden „… genau uff de Weiche!“ beendete, hatten wir alle aufgeblasene Backen. Im Gemüt eines alten Turnlehrers, der schon während meiner Unterstufenzeit in den Ruhestand ging, hatten sich die Soldatenjahre in der Gestalt von Marschliedern verhakt. Bei ihm begannen die Turnstunden jedes Mal damit, dass wir in der Turnhalle herummarschieren und Marschlieder singen mussten. Immer kam dabei das Lied des früheren Altenburger Regiments zum Einsatz: „Wir sind die Füsiliere, des Königs Grenadiere, wir ziehen in das Feld, …hurra, hurra, hurra 153 Regiment.“