Kitabı oku: «Schützenhilfe», sayfa 2

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3

Als ich auf die Strasse trat, war die Dämmerung schon weit fortgeschritten. Der Himmel zeigte im Westen seine rote Scham vor der Nacht, die sich über die Stadt legte, als plante sie deren Entwürdigung. Der weisse, zerknitterte Alpenkamm verblasste in der Dunkelheit. Der Mond hing wie zum Hohn als dünne Sichel hoch über den Dächern.

Die Läden in den Gassen hatten geschlossen. Die Verkäuferinnen hatten die Kleiderständer mit der angeketteten Ware hereingezerrt, die Tafeln mit den Hinweisen auf Neuheiten oder Sonderangebote achtlos in die Eingänge gestellt, die Stereoanlagen aus- und die Alarmanlagen eingeschaltet. Sie hatten die Säcke mit den Abfällen des Tages zur Strassenecke geschleppt, dort in einen Container geschmissen und waren danach auf den Bus geeilt, der sie nach Bümpliz brachte, oder Ostermundigen. Die Schaufenster warfen ihr Licht auf das Pflaster und machten es so hart und kalt wie einen Gletscherboden, und die Spatzen und Tauben, die tagsüber flink und frech auf dem Gehsteig umherhüpften, hatten sich wer weiss wohin verzogen.

Ein junges Paar schlenderte vorbei. Sie wackelte mit ihrem Bauch- und Nierenspeck im Freien, bei ihm hingen die Gesässtaschen seiner Jeans im Kniebereich. Die Hände der beiden klebten aneinander fest. Sie waren auf der Suche nach einem unverschlossenen Hauseingang, wo nebst dem Knutschen ein wenig Fummeln möglich sein sollte.

Ein Lüftchen blätterte in einer Gratiszeitung, die im Rinnstein lag, und schubste eine leere Bierdose unter meinen Wagen.

Ich hatte mich längst entschieden.

Ich stieg ein, schaltete die Leselampe ein und schlug das Dossier auf. Drei Zeitungsausschnitte flatterten heraus, je einer aus dem «Bund», der «Berner Zeitung» und der «Neuen Zürcher Zeitung». Die Tat war gestern Abend geschehen, zu spät, um noch eigene Recherchen anzustellen. Der Artikel im «Bund» gab praktisch die Pressemitteilung der Polizei wieder. Diesen Artikel hatte ich gelesen, am Morgen in meinem Büro, die beiden anderen Artikel sparte ich mir auf.

Nebst den drei Zeitungsausschnitten gab es ein Foto mit Angaben zum Ermordeten, zu seiner Tätigkeit, seiner Frau und seinem Haus, und zuhinterst fand ich eine kurze Zusammenfassung zum Stand der Ermittlungen.

Ich betrachtete das Foto eingehend. Den Mann hatte ich ein Mal getroffen, da war ich mir sicher. Doch wo? Wann? In welchem Zusammenhang? Ich blätterte im Dossier, und nach der letzten Seite überkam mich das Gefühl, dass etwas fehlte. Das Dossier war nicht vollständig – das konnte es natürlich nie sein –, aber ich hatte das Gefühl, dass es dem Zeitpunkt entsprechend nicht vollständig war. Ich sass still und versuchte, das Gefühl ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen: Wo hatte ich den Mann getroffen? Was fehlte im Dossier? Gab es einen Zusammenhang mit einem anderen Fall? Ich schweifte mit meinen Gedanken zurück, langsam, behutsam, rief Erinnerungen wach und liess sie wieder versinken. Ich blätterte im Dossier vor und zurück und forschte nach dem Hinweis, dem Auslöser, dem Grund, der mein Gefühl derart in Erregung versetzte. Ich versuchte, meiner Empfindungen Herr zu werden, um sie deuten zu können, doch dieses Gefühl blieb im Bauch haften, unbestimmbar und jenseits meines Willens.

Ein Gefühl verschliesst sich bekanntlich unserer Verfügungsgewalt besonders dann, wenn man den Anlass, die Ursache dazu bestimmen will. Es ist, wie wenn man eine Münze auf dem Grund eines Tümpels glänzen sieht. Sobald man danach greift, ist sie weg. Man sieht nur noch Schlamm, trübes Wasser.

Vielleicht ist es das, was uns zu armen Teufeln und für Streitereien so anfällig macht. Wie soll ich meinem Nächsten meinen Unmut begreiflich machen, wenn mir die Ursache selbst nicht klar ist? Wie soll ich den Aufruhr meines Nächsten verstehen, wenn er zwar den Auslöser, aber die Ursache dazu nicht erklären kann? Und Gewalt, das weiss die ganze Menschheit, Gewalt löst keine Missverständnisse. Trotzdem wird ständig wettgerüstet und gestritten, gekämpft, geschossen, bombardiert – und gelitten.

Ich gab das Grübeln auf, zählte den Vorschuss – fünf neue Tausender – und steckte ihn ein.

Immerhin.

Als Nächstes wollte ich wissen, wo der Tatort lag. Am Stadtrand, an der Grenze zu Muri, stand im Dossier.

Ich fuhr hinaus, Richtung Muri, überquerte die Autobahn und fand die Strasse, eine Ringstrasse in einem Quartier mit Einfamilienhäusern. Ich fand die Adresse beim ersten Anlauf. Es war das letzte Haus in einer Sackgasse, die vor einem Maisfeld endete.

Ich lenkte meinen Wagen auf den Platz vor dem Betonunterstand, nahm das Dossier in die Hand und stieg aus. Der Unterstand bot Platz für mindestens zwei russische Panzer. In der einen Hälfte stand ein Mercedes, in der anderen Hälfte beleuchteten zwei Neonröhren einen Campingtisch und vier oder fünf Klappstühle, die verloren vor bunten Skiern, Reserve-Rädern, einem alten Bauernschrank und einem Regal platziert waren. Dann standen da noch Rasenmäher, Schubkarre und allerlei Gartenwerkzeuge herum.

Zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann, beide in Uniform, sassen am Tischchen, er rauchte, sie las Zeitung. Ich trat an den Tisch und sagte: «Guten Abend allerseits.»

Der Mann drückte seine Zigarette aus und stemmte sich hoch; die Frau blieb sitzen und lächelte ein freundliches «Guten Abend».

Für ihn war ich ein Störfall, für sie ein Erlöser.

Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der blonde Strang quoll hinten aus der blauen Mütze, als wäre er angeheftet, und die Haarspitzen streichelten ihren Nacken bei der kleinsten Kopfbewegung. Die Mütze sass eine Idee zu weit vorne auf dem Kopf, die Sonnenblende überschattete ihre Augen und ihren gesegneten Augenabstand.

«Das ist doch das Haus, oder?»

Sie taten, als müsste ich ihnen helfen. Er stierte auf meine Brust und sie hob ihren Kopf, sodass ich ihre dunklen Augenbrauen und ihre tiefschwarzen Augen sehen konnte. Sie senkte danach ihren Blick, sah ebenfalls auf meine Brust und fragte: «Welches Haus denn!?»

Er schob seine Mütze auf den Hinterkopf, als spielte er den Nachtwächter in einer Operette von Richard Strauss, und machte ein Gesicht, als hätte ich ihn bei einem Schwur unterbrochen; er blickte auf den Pferdeschwanz, dann wieder zu mir, murmelte etwas und verschränkte seine kurzen Arme über dem mächtigen Bauch.

«Das Haus von diesem Anwalt, wie hiess er noch?», ich suchte den Namen auf dem Deckel des Dossiers und sagte: «Schild.»

Keine Reaktion.

«Also gut, ich schau am Briefkasten nach …»

«Das ist das Haus», tönte es vom Mann her. Er liess die Arme sinken.

«Und was wollen Sie in dem Haus?», fragte die Frau, setzte ein pflichtgetreues Gesicht auf und sah zu ihrem Kollegen auf.

«Es muss um diese Uhrzeit passiert sein», sagte ich und war versucht, nur noch mit ihr zu sprechen, «ich will sehen, wie das ist mit dem Licht, den Schatten, der Umgebung, den Geräuschen; ich muss wissen, warum er den Täter nicht rechtzeitig bemerkt hat. Warum ist er nicht ins Haus geflüchtet?»

«Kantonspolizei?», fragte sie, und von ihm hörte ich wieder fast gleichzeitig: «Fahnder, was?»

Ich machte eine Bewegung mit dem Kopf, die beide als ein Nicken auffassten, und redete mir ein, nicht eigentlich gelogen zu haben. Die Leute von der Stadtpolizei hatten seit jeher eine falsche Vorstellung und zu grossen Respekt vor den Kollegen der Kantonspolizei.

«Hätten Sie gleich sagen können», meinte sie, schloss die Zeitung – es war der «Blick» –, legte sie zur Seite, griff nach dem Logbuch, schlug es auf, strich mit ihrer schlanken Hand übers Papier, suchte zwischen Aschenbecher, Zigarettenpackungen, Trinkbecher, Thermosflasche, Mobiltelefon und dem «Blick» umständlich den Kugelschreiber und fragte nebenbei nach meinem Namen.

Meine Augen waren ihrer Hand gefolgt und an der Titelseite des «Blicks» hängengeblieben. «Auftragsmord?», stand dort in dicken Buchstaben. Jetzt wusste ich, was im Dossier fehlte: der Artikel aus dem «Blick»! Die anderen Zeitungen berichteten oder zitierten, die Redaktion des «Blicks» hingegen trieb ihre Journalisten zu mehr an, und diese kannten keine Skrupel, stellten Mutmassungen an, prophezeiten, tadelten, verurteilten im Voraus und gingen in ihren Beiträgen regelmässig einen Schritt zu weit. Nicht selten lag der «Blick» falsch mit seinen Annahmen und sah sich mit einer Verleumdungsklage konfrontiert. Was seine Leserinnen und Leser keineswegs abschreckte, im Gegenteil, Sensationslüsternheit ist die Schwester der Schadenfreude, und beide hausen bekanntlich in jedem von uns.

Hie und da half der «Blick» mit seinem professionellen Gespür und seinem weiten Netz von Informanten, einen Skandal aufzudecken, und manchmal, selten zwar, trug er dazu bei, die Ermittlungen in eine bestimmte Richtung zu lenken und ein Verbrechen aufzuklären.

Sie hatte den Kugelschreiber gefunden, blickte auf die Uhr, trug die Uhrzeit ein und wiederholte ihre Frage, diesmal mit dem leichten Unterton der Ungeduld.

Mir gefiel ihre Stimme, sie klang ausgeruht und sinnlich.

«Bergmann», sagte ich, «Alexander Bergmann, und wie heissen Sie?»

Sie trug meinen Namen ein und fragte: «Wie lange werden Sie drin bleiben?»

Ich hob die Schultern: «Was weiss ich, zwanzig, dreissig Minuten? Jedenfalls nicht die ganze Nacht. Wann werden Sie denn abgelöst?»

Sie zeigte keine Reaktion auf meine Fragen, ihr Lächeln blieb, wie es war: versponnen. Sie schob ihrem Kollegen die Schlüssel zu, er grabschte sie sich vom Tisch, zog seinen Bauch ein, rückte seine Hose zurecht, liess den Bauch wieder dahin zurücksacken, wo er am hässlichsten wirkte, gab mir mit einem Wink zu verstehen, ihm zu folgen, und stapfte zum Gartentor.

Ich legte das Dossier in meinen Wagen, wühlte im Handschuhfach, fand meine Pistole und die Taschenlampe, steckte die Lampe ein und liess die Waffe, wo sie war. Als ich zu ihm trat, hielt er das Tor für mich auf und meinte: «Muss Ihnen wohl nicht sagen, dass Sie nichts anfassen, nichts verändern dürfen.»

Ich seufzte: «Ich weiss, die Spurensicherung ist noch nicht abgeschlossen», und quetschte mich an ihm vorbei.

Irgendein verdeckter Sensor schaltete eine Reihe von Laternen ein, die auf Kniehöhe den Steinplattenweg zum Haus erhellten.

Nach einigen Schritten wartete ich auf ihn und sah zu ihr zurück. Sie sass am Tisch, aufrecht, hellwach, die Augen beschattet, die rot gefärbten Lippen voll im Licht. Ich gebe zu, sie bot einen hinreissenden Anblick.

Er rasselte mit den Schlüsseln, als gälte es, Geister zu vertreiben, schritt voran und kämpfte sich die künstliche Anhöhe hinauf, mit pfeifendem Atem und ohne nach links oder rechts zu schauen. Ich folgte ihm zum Hauseingang und beobachtete die Umgebung. Auf der Strasse herrschte ein steriles Licht, das von den Sparbirnen der Strassenlaternen stammte.

Als ich zur Schule ging – und das ist zwanzig Jahre her –, brannten in unserem Dorf die Strassenlaternen hoch über der Strasse und verbreiteten ein warmes, heimeliges Licht zwischen den Häusern. Eines Winters, auf dem Heimweg von der Schule, es schneite dicke Flocken aus dem nächtlichen Vakuum, schleuderten zwei Kameraden und ich Schneebälle hinauf, abwechselnd, um die Wette. Zwei passten auf, der Dritte schoss. Mogeln war ausgeschlossen, die Glühbirne bestimmte den Sieger. Es trafen einige Bälle den Rand des Schirms, doch ich gewann. Bei meinem Wurf erlosch die Birne mit einem elektronischen Seufzer, der mir bis heute in den Ohren nachhallt.

Später wurde ich Polizist, trotz solcher Streiche, und nach sieben Jahren durfte ich den Dienst wieder quittieren.

In dieser Strasse befand sich die letzte Laterne auf der Höhe des vorletzten Hauses. Fledermäuse gaukelten lautlos hin und her und schnappten sich die verwirrten Falter. Das weisse Licht floss in den Garten, schuf hinter der Einfriedung, die das Grundstück zur Strasse hin abgrenzte, einen tiefschwarzen Schatten, tauchte den Rasen in ein fahles Grün und hob das Rot der Astern, das Gelb der letzten Rosen und das Grau der Granitplatten aus dem Halbdunkel hervor. Am Ende der Strasse bildete ein Maschendrahtzaun die Grenze zum Maisfeld. Die ausgewachsenen Pflanzen dahinter standen wie stumme, grüne Wächter, vom Licht gerade noch erreicht und vom Schatten der Drahtmaschen bis zur Hälfte hinauf gemustert.

Ich blieb stehen und lauschte. Von Osten her legte sich ein Rauschen, das von der Autobahn stammte, wie eine Firnis über alle feinen Geräusche der Nacht. Der Lärm war schwach, aber durchdringend und störte die an sich friedliche Stimmung.

Der Mann hatte die Beleuchtung im Flur angeknipst, hielt die Haustür auf und wartete geduldig. Als ich an ihm vorbei war, sagte er: «Ich schliesse nicht ab, melden Sie sich bei uns, wenn Sie fertig sind.»

«Wieso hat jemand mit so einem Garten keinen Hund?», wollte ich wissen.

«Soweit ich weiss», murmelte er, «hatten Schilds einen Hund. Einen Setter. Sie haben ihn vor ihren Ferien ins Tierheim gebracht. Da wird er wohl noch sein.»

Dann murmelte er noch etwas, das ich allerdings nicht verstand.

«Ach?», sagte ich, «da muss ich im Dossier was übersehen haben.»

Ich wollte mehr darüber erfahren, er aber hörte weg und schlug mir die Tür vor der Nase zu.

4

Ich stand im Flur, allein und im Schein der Punktlichter, die in die Decke eingelassen waren. Der Spiegel an der linken Wand und das Glas des Bildes an der Wand gegenüber, auf dem ein Segelschiff mit zwei Masten in voller Fahrt zu sehen war, vermehrten das Licht zu tausend glühenden Klarheiten. Und das Weiss der Wände bauschte die Helligkeit bis zur Unerträglichkeit auf. Ich schritt blinzelnd durch diese schwelende Helligkeit und spürte, wie mir das Licht unter die Haut drang und all meine Sünden und Laster blosslegte.

Einen Moment hatte ich erwogen, meine Schuhe auszuziehen, liess es dann aber bleiben, denn der Spannteppich unter meinen Füssen war verdreckt und glitschig, und bei jedem Schritt raschelte oder knirschte es.

So ein Mord zieht einen Tross von Leuten an, und sie waren alle durch das Haus gezogen. Der Arzt, der Leichenbestatter, Bezirksanwalt, Regierungsstatthalter, Gemeindeschreiber, dann die Fahnder, Spurensicherer, Fotografen, Journalisten, Polizisten und Nachbarn, nebst den nächsten Angehörigen natürlich. Es kommen immer alle, die glauben, sie könnten früher oder später in irgendeiner Form mit dem Fall konfrontiert sein und sie wären dann ausserstande, ihre Aufgabe zu bewältigen, wenn sie keinen Augenschein genommen hatten. Kommt hinzu, dass manch eine Amtsperson in Begleitung eines Praktikanten erscheint, oder eines Kollegen aus einem anderen Kanton, der zwecks Koordination des Vollzugs zufällig zu Besuch ist.

Mit Sicherheit waren alle im Garten und womöglich im Maisfeld herumgelatscht und hatten mit ihren Schuhen nasse Erdklumpen, Laub und Kieselsteine hereingeschleppt.

Es gab eine Garderobe mit einem Regenhut oben auf der Ablage, einer Regenjacke und zwei oder drei Reportermänteln, einer Hundeleine an einem separaten Haken und einem Paar dick besohlten Schuhen, daneben ein Paar Gummistiefel. Ausrüstung für die Gassigänge mit einem Hund.

Der Flur endete an der Küche; links führte eine Treppe in den oberen Stock, daneben gab es zwei Türen, die offen standen. Hinter der ersten Tür befand sich die Toilette, hinter der zweiten die Treppe in den Keller. Rechts lag das Wohnzimmer. Ich durchquerte die Küche und trat hinaus in den Wintergarten, der auf der hinteren Seite des Hauses lag und von der Strasse her nicht zu sehen war. Die hellen Fliesen in der Küche und im Wintergarten waren dort, wo der Tross durchmarschiert war, ebenfalls dreckverschmiert, zudem roch es nach Lösungsmittel. Und nach Hundekot.

Im Vorbeigehen hatte ich das Licht angeknipst. Überall, jeden Schalter, den ich fand: In der Küche strahlten sechs Spotleuchten von der Decke, im Wohnzimmer hing ein Kronleuchter über dem Tisch, im Wintergarten glühten in jeder Ecke zwei Lampen in Form einer Kerze. Es wurde taghell. Es entstand eine höchst befremdende Festtagsbeleuchtung im Erdgeschoss. Die Fenster mussten in einer Nacht wie dieser von weither als weiss leuchtende Vierecke zu sehen sein. Ich empfand es sogar als beunruhigend.

Im Wohnzimmer und in der Küche hielt ich mich nur kurze Zeit auf. Die Person von der Spurensicherung hatte begonnen, alles zu untersuchen, zu fotografieren und zu registrieren, alles, was auf den Tischen oder in den Tellern lag, an den Wänden hing oder auf den Türklinken klebte. Sie hatte begonnen, Fingerabdrücke sichtbar zu machen und kleinste Partikel wie Haare, Fäden, Zigarettenasche oder Papierschnipsel zu sammeln, in Plastiktüten zu verpacken und die Tüten, gemäss Vorschrift brav angeschrieben, ins Labor schicken zu lassen. So wie es aussah, würde sie wiederkommen, und zwar für mehr als einen Tag. Im Wintergarten standen blaue Werkzeugkoffer neben Kisten aus Holz, Stative mit Scheinwerfern neben leeren, sauberen Behältern.

Es beeindruckte mich stets aufs Neue, mit welchem Aufwand nach Spuren gesucht wurde. Was aber, wenn der Täter nie im Haus gewesen war? Weder vor noch nach der Tat? Dann war der ganze Aufwand umsonst, ja es konnten sogar falsche Fährten daraus erwachsen.

In der Küche stand ein runder Holztisch, auf dem einige Briefe lagen, ungeöffnet, verstreut, so als wären sie mit Blick auf die Absender durchgesehen worden, und ein Stapel ungelesener Zeitungen, der zünftig durchmischt war mit buntem Werbematerial. Kurz: die gesammelte Post einer Woche.

Die Küche war überstellt. Schmutzige Pfannen standen neben Schüsseln mit Speiseresten, ein Abtropfsieb, eine Salatschleuder und allerlei Gerätschaften lagerten um den Abwaschtrog, und im Waschbecken stapelte sich das schmutzige Geschirr neben einer Teekanne und einer leeren Mineralwasserflasche; dazwischen lagen Schöpfbesteck, Rührkellen, Schwingbesen, Messer und ein Gemüsehobel herum; ein grüner Eimer quoll über von Rüstabfällen; eine Küchenschürze hing wie hingeworfen über einer Stuhllehne. Der Boden war klebrig.

Da hatte jemand mit einer chaotischen Ader gekocht. Den Spuren nach Steaks, Nudeln, Rosenkohl, Karotten, Salat. Der Geruch, der von diesem Durcheinander ausging, war säuerlich und reizte meinen Magen.

Im Wintergarten war das Essen aufgetischt und verzehrt worden, auf dem Marmortisch standen die Überreste des ausgiebigen Mahls: zwei Kaffeetassen, beide voll, Dessertteller, Besteck, ein paar Biskuits in einer Schale, Kaffeerahm, eine Flasche Mineralwasser, eine leere Weinflasche, Gläser, eines noch halbvoll, zerknüllte Servietten, fünf gelbe Rosen, die ihre Köpfe hängen liessen, ein gusseiserner Kerzenhalter mit zwei Stummeln, und am äussersten Rand: die Zuckerdose. Ich stellte mir die Situation vor: Schilds hatten sich zurückgelehnt, waren beim Kaffee angelangt, genossen die Zweisamkeit, ihr Haus, den Abend, die Heimkehr, die Ruhe. Auf diesen Moment musste der Täter gewartet haben.

Hier war die Luft abgestanden, stickig, warm. Ich öffnete die Schiebetür bis zur Hälfte, atmete an der frischen Luft tief durch und lauschte in den Garten. Das Rauschen der Autobahn klang auf dieser Seite wie ein Flüstern der Nacht. Sehen konnte ich wenig. Das Licht fiel auf den Rasen, auf ein Kräuterbeet links, und endete rechts an der tiefsten Stelle, wo ein Schwimmteich lag, dessen Wasseroberfläche die Nacht spiegelte. Die Umrandung des Gartens konnte ich nicht erkennen, die Strasse mit der Beleuchtung lag auf der Vorderseite des Hauses.

Ich drehte mich um – und sah das eingetrocknete Blut auf dem abgerückten Stuhl hinter dem Tisch. Die Rückenlehne war von oben bis unten rot, verschmiert, das Sitzpolster blutgetränkt. Schild hatte sich erhoben, als der Täter vor ihm stand, dann hatte die Kugel seinen Hals durchbohrt und war hinten auf einer metallenen Querverstrebung der Verglasung abgeprallt. Die Person von der Spurensicherung hatte sie bestimmt gefunden, denn weit konnte sie nicht mehr geschwirrt sein. Schild war auf den Stuhl zurückgesunken.

Hatte der Täter erkannt, dass Schild tödlich verletzt war? Hatte er deshalb kein zweites Mal geschossen? Oder war er vor der Ehefrau geflohen, die zurückkam, aufgeschreckt und bestürzt, als sie den Knall hörte? Sicher ist einzig, dass Schild nicht mehr lange lebte, vermutlich hatte er das Bewusstsein verloren, bevor seine Frau zur Tür hereinschaute. Die Kugel stammte aus einer kleinkalibrigen Waffe, sonst hätte der Aufprall den Mann nach hinten gerissen, zusammen mit dem Stuhl. Schild war mit einem dieser neuen Dinger erschossen worden, deren Lärm kaum von einem Korkenknall zu unterscheiden ist, deren Kugeln aber, am richtigen Ort eingedrungen, tödlich sind.

Dem Besteck nach hatten sie ihr Essen in trauter Zweisamkeit verzehrt, die Überbleibsel des Gedecks lagen so, dass man annehmen konnte, Schilds seien nebeneinander gesessen. Mir fiel die Bedeutung des Satzes ein: «Liebe heisst nicht, sich verliebt in die Augen zu schauen, sondern gemeinsam in dieselbe Richtung zu blicken.»

Ich stellte mich hinter die beiden Stühle und blickte hinaus, wie sie es wahrscheinlich getan hatten. Meine Gestalt spiegelte sich in den Glaswänden, und das viele Licht machte mich nachtblind.

Es musste eine Aussenbeleuchtung geben – nahm ich an –, ich suchte die Schalter und fand drei an der Säule, bei der die Schiebetür einrastete. Ich knipste alle drei an. Na also! Scheinwerfer flammten auf, irgendwo unter der Dachtraufe – der Garten erstrahlte wie ein Fussballfeld bei einem Abendspiel: Rasen, Kräutergarten, der Granitplattenweg bis zur Steinplatte, von der eine Steintreppe in den Schwimmteich führte, alles wurde von Licht überflutet. Selbst tief im Wasser, unter dem untersten Tritt der Treppe, am Teichgrund, erstrahlte ein Scheinwerfer und erhellte das Wasser.

Gespensterhaft.

Ich ging durchs Haus und knipste alle Lichter aus. Nun war die Aussicht vom Tisch aus berückend, auffallend stimmungsvoll, als wäre die Anlage nach einem Bild angeordnet und für die Sicht von diesem Platz aus gebaut worden. Eine kleine Bogenbrücke aus Holz führte über den Teich. Dahinter Blumenbeete, Schilf, ein Steingarten, eine mannshohe Tanne, Sträucher, ein Gartengrill. Wer so viel Geld in den Garten steckte, der wollte auch nachts etwas davon sehen können, das war verständlich.

Und der Täter? Der musste entschlossen gewesen sein, von starken Gefühlen getrieben, denn er kam trotz des Flutlichts und ungeachtet des Augenpaares, das auf ihn gerichtet war, über den Rasen geschritten (oder gelaufen?), und schoss ohne Warnung. Er hatte diesen Weg gewählt, obschon er damit rechnen musste, erkannt zu werden! Das heisst, falls er Schild überhaupt bekannt gewesen war, was ich stark annahm, denn Schild hätte gewiss abwehrend reagiert, wäre ein Fremder auf diesem ungewöhnlichen Weg zum Haus gekommen. Er hätte sich misstrauisch aufgemacht, den Mann anzuhalten.

Und bei einem Freund? Ich versuchte mir vorzustellen, was ich getan hätte, wäre ein Freund auf diesem Weg hergekommen. Ich wäre sitzen geblieben, gewiss, wäre überrascht gewesen, ziemlich überrascht sogar, hätte gewartet und ihm bestenfalls etwas zugerufen. Mehr nicht. Und bei einem Fremden? Ich wäre aufgestanden und hätte ihm von der Schiebetür aus zugerufen, vorsichtig, reserviert, vielleicht barsch oder bestimmt und Respekt heischend. Zur Flucht getrieben hätte mich einzig und allein ein maskierter Irrer.

Dieses verschwenderische Licht im Garten ging mir auf die Nerven, ich schaltete es aus, liess den Garten wie das Haus im Dunkeln, knipste meine Taschenlampe an und begab mich in den oberen Stock.

Auch hier standen die Türen offen, die Fenster und die Rollläden waren indes geschlossen, und der Spannteppich war sauber. Ich zog die Schuhe aus, fingerte mit dem Strahl der Taschenlampe durch jede Tür, in jeden Raum – da oben war kaum jemand gewesen – und überlegte, wo der entscheidende Hinweis, der Schlüssel zur Klärung des Falles zu finden sein könnte.

Wenn es ein Auftragsmord gewesen war, wie es im «Blick» stand, hiesse das, im Büro suchen. Mir sah das eher nach einem Beziehungsmord aus, und ich beschloss, im Schlafzimmer zu schnüffeln.

Es lag über dem Hauseingang. Das Licht von der Strasse schimmerte durch die Ritzen der Rollläden, überzog die Wände mit nadelfeinen Streifen und schraffierte die Einrichtungsgegenstände. Ich stand vor dem Bett, knipste die Taschenlampe aus, liess Zeit verstreichen, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und sog derweilen den Duft ein. Es roch nach muffiger Wäsche, mit einem Hauch Chlor, entfernt nach einem Hallenbad; Lösungsmittel jedoch, oder gar Rasierwasser, wie es unter den Polizisten zur Zeit in Mode war, war nicht zu riechen. Anscheinend nahmen die Häuptlinge der Polizei an, bis in diese Räume sei der Täter nicht vorgedrungen, somit gäbe es hier oben nichts zu bergen. Die Häuptlinge hatten beraten, dann entschieden und den Indianer von der Spurensicherung angewiesen, im Schlafzimmer alles zu belassen, wie es war. Vielleicht würden sie später darauf zurückkommen.

Ein leichter Schwindel erfasste mich. Lag ich mit meinem ersten Eindruck, mit meiner Vermutung so weit daneben?

Vor mir stand das riesige Bett, links ein mächtiger Schrank und rechts zwei Ledersessel vor einer Stereoanlage, dahinter ein Gestell mit Büchern, daneben eine rustikale Kommode und nahe der Tür ein Spiegel, mannshoch und breit wie ein Scheunentor. Vor dem Schrank lagen zwei Koffer am Boden, beide geöffnet, halb leer, daneben schmutzige Wäsche, aufgetürmt, die Quelle des Geruchs.

Ich stand immer noch unschlüssig im Raum, da knackte ein Kniegelenk.

Nicht meines. Ich hatte mich nicht bewegt.

Jemand kam die Treppe hochgeschlichen! Mein Herz setzte für die Dauer eines Augenaufschlags aus, setzte wieder ein, raste umso heftiger und pumpte mir das Blut mit Wucht an die Schädeldecke. Ich glitt in den Schatten des Schranks, starrte auf die Tür, lauschte angestrengt und atmete durch den Mund, um jegliches Geräusch zu vermeiden.

Die Schiebetür im Wintergarten! Ich sah sie deutlich vor meinem inneren Auge: Ich hatte vergessen, sie zu schliessen!

Nichts rührte sich, nichts war zu hören. Hatte ich mich getäuscht? Ich wartete. Ein leichtes Girren verriet, dass die Tür nebenan bewegt wurde, der Duschvorhang raschelte: Ich hatte mich also nicht getäuscht! Er suchte im Bad! Wen? Mich? Wusste er, dass ich im Haus war? Hatte er das Licht gesehen, meine Bewegungen registriert?

Wieder Stille. Dann ein Schaben vom Teppich her, die Tür bewegte sich vor meinen Augen, sie wurde aufgestossen, langsam, unaufhaltsam, eine Taschenlampe erschien, blitzte auf und ich verlor keine Zeit mehr: Mit einem Satz war ich dort, packte den Arm hinter der Lampe, riss ihn über meine Schulter und gleichzeitig nach vorne, stemmte meine Hüfte gegen den Körper – und erkannte meinen Fehler zu spät: Sie stöhnte in mein Ohr und ihr Pferdeschwanz kitzelte meinen Hals, während sie über mich hinweg segelte, bevor sie aufs Bett krachte.

Ich suchte den Lichtschalter, machte Licht und half ihr auf, gab ihr die Taschenlampe zurück und schaute zu, wie sie sich die Uniform glatt strich, die Mütze zurechtrückte und sich am Ende kritisch im Spiegel prüfte. Sie atmete tief und schwer und rechtfertigte ihr Erscheinen mit den Worten: «Du bist kein Polizist … mehr.»

Sie duzte mich. Sie stand sehr nah, so nah, dass ich in ihren Augen ein Flackern sah: eine Mischung aus Zorn, Schrecken und Begehren.

«Ich habe die Zentrale angerufen», ergänzte sie und wandte sich ab, «sie haben gesagt, du gehörst seit einem Jahr nicht mehr zu uns.»

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