Kitabı oku: «Schützenhilfe», sayfa 3

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Am nächsten Morgen fuhr ich gegen neun Uhr in meine Agentur. Ich hatte in der Altstadt eine Wohnung gemietet, dort unten, wo die Mietpreise eingebrochen waren, nachdem die Aare innerhalb von zehn Jahren drei Mal über die Ufer getreten war und sich als reissender Strom durchs Quartier gewälzt hatte. Alle hundert Jahre einen überschwemmten Keller, das hatten die Leute bisher hingenommen. Aber die Aussicht, künftig alle drei bis acht Jahre ein Jahrhunderthochwasser zu erdulden, alle drei bis acht Jahre eine bis zu den Bildern hinauf verschlammte Parterrewohnung, ein ramponiertes Auto und einen verwüsteten Garten in Kauf zu nehmen, das setzte zu. Die Beteuerungen der Politiker, mit baulichen Massnahmen entlang den Uferzonen die Flutwellen vor dem Erreichen der Stadt zu besänftigen, erinnerten an Heilsversprechen von Handauflegern und brachten die unerschütterlichste Optimistin dazu, die Wohnungsinserate zu studieren. Was nützen Stollen, Dämme, Renaturierungen entlang des Flusses und Korrekturen an der Betonschwelle vor der Stadt, wenn sich das Klima ändert und sintflutartige Wolkenbrüche zu einem wiederkehrenden Ereignis werden? Niedergehende Wassermassen müssen in den Bergwäldern und auf den Alpen gebremst werden. Sind sie einmal im Flussbett angelangt, donnern sie mit einer ungeahnten Wucht ins Tal und verlassen auf ihrem Weg ins Meer das steinerne Korsett überall dort, wo es eng wird. Höhere Dämme verlagern den Schlamassel bloss weiter flussabwärts.

Das fabelhaft besonnte Quartier leerte sich: Zuerst flüchteten die gutsituierten Paare mit ihren Hunden, dann zogen die Familien weg, und mit ihnen verschwanden die Kinderwagen, die Fahrradanhänger und das Geschrei und Gelächter in den Gassen. Zurück blieben die älteren Herren in den Obergeschossen, denen die ehrwürdigen Bauten auf dem Papier gehörten, und die Damen mit ihren Katzen, die im ersten Geschoss logierten, und die Einzelgänger, die in den winzigen Nebenwohnungen hausten und für die das Leben ohnehin und überall aus einem Kampf ums Überleben bestand.

Bis dann die Mietpreise fielen. Darauf erwog mancher Krämer oder Lebensberater, manche Fussreflexzonenmasseurin oder Friseurin sich in einer leeren Erdgeschosswohnung einzurichten. Das Quartier belebte sich neu.

Ich wohnte damals in Langnau und brauchte eine Adresse in Bern. Was lag näher, als mir eine günstige Wohnung zu mieten und darin die Agentur einzurichten? Ich fand eine, die lag in einer Seitengasse in der Matte. Die wenigen Akten verwahrte ich in der Küche, in Metallkoffern auf Rädern, so konnte ich sie rasch und mit wenig Aufwand in Sicherheit rollen.

Der Eingang führte aus einen Hinterhof direkt ins Wohnzimmer. Ich machte daraus ein Wartezimmer.

Vorne, an der Durchgangsstrasse, befand sich das Restaurant Matte, in dem Rosi das Zepter in der Hand hielt. Als ich sie zum ersten Mal sah, einen Tag nach meinem Einzug, trug sie Gummistiefel und Gummihandschuhe und schrubbte zusammen mit ihrer Angestellten den trockenen Schlamm und die Algen von den Fensterbänken. Es waren drei oder vier Wochen vergangen seit dem Unwetter, und die Pegelstände hatten sich normalisiert. Die Sonne schien morgens um zehn Uhr, als wollte sie die Menschen im Quartier versöhnen.

Ich blieb vor dem Eingang stehen und sah den beiden einen Augenblick zu. Sie ging an mir vorbei ins Restaurant, kam mit einer Drahtbürste wieder heraus, und bevor sie erneut zu schruppen begann, blieb sie stehen und sagte: «Für einen Versicherungsmann bist du zu wenig fein angezogen … Für einen Vertreter riechst du zu wenig penetrant … Für einen Lebensberater hast du zu kräftige Hände. Was bist du? Pfarrer?»

«Nein», ich musste lachen.

«Also doch Polizist», sie streckte sich, strich sich mit der einen Hand übers Kreuz und mit der anderen eine Strähne aus dem Gesicht, seufzte, blickte mir in die Augen und fragte: «Was willst du, Nachbar, uns ausspionieren?»

Sie trat noch näher vor mich hin und blickte mir tiefer in die Augen; sie war nur zwei Millimeter kleiner als ich, und mit ihrer Selbstsicherheit, gespickt mit Vorwitz, wäre sie selbst als Pfarrerin durchgegangen.

«Für eine Wirtin bist du zu direkt!», gab ich zurück.

Worauf sie die Bürste hinwarf, die Handschuhe auszog und mich einlud: «Komm herein, ich gebe einen aus.»

Sie war hier geboren, und es gab für sie keinen Ort auf der Welt, an dem sie lieber leben würde, wie sie mir später mehr als ein Mal versicherte. Das war nicht immer so gewesen. Sie hatte einige Jahre auf einem Hochseeschiff gekocht, in Hongkong und später in Vancouver ein Restaurant geführt und war an beiden Orten verheiratet gewesen. Vor fünf oder sechs Jahren hatte sie ihr ganzes Geld zusammengelegt, dieses Haus einer Tante abgekauft und das Restaurant Matte eröffnet. Deshalb zog sie nicht weg, und auch weil sie, wie sie sagte, zurückgekommen war, um da alt zu werden, wo sie ihre Milchzähne vergraben hatte, und wo sie, später, im selben Garten, mit einem Jungen aus der Oberstadt die ersten Küsse ausgetauscht hatte.

Seit ich meine Agentur hier hatte, kehrte ich regelmässig bei ihr ein, oftmals am Morgen, um die Zeitung zu lesen und wach zu werden, mittags zum Essen (sie kochte wunderbare asiatische Menus) oder nachts auf einen Single Malt.

Wenn sie in der Früh den Vorplatz säuberte, trug sie stets Handschuhe. Sie stellte eine Kiste in die Mitte, suchte den Platz nach Spritzen ab, sammelte die leeren Flaschen ein und fegte schliesslich Pizzaresten, Getränkedosen, Hundekot, Laub und Quittungen zwischen den Stühlen zusammen. Oder sie stand ganz einfach unter der Tür, mit aufgestützten Händen, schaute nach dem Wetter, den Passanten, den Gewerbetreibenden, wartete auf den Briefträger, und liess den Tag langsam Tag werden. Spät abends trank sie – selten genug – ein Glas mit mir und erzählte Geschichten von früher. Sie hatte sogar meinen favorisierten Single Malt ins Sortiment aufgenommen, nicht etwa um mir einen Gefallen zu erweisen, sondern weil sie selbst auf den Geschmack gekommen war.

An diesem Morgen befreite sie die Tische und Stühle von der Kette, während Svetlana, ihre Angestellte, mit einem viel zu grossen Besen die ersten herbstlichen Blätter zusammenkehrte und aufhäufte. Als ich aus meinem Wagen stieg, hielten sie inne, und Rosi nickte mir mechanisch zu. Sie meinte: «Du bist früh dran, Alex.»

Ich grüsste, setzte ein reserviertes Lächeln auf und strebte ohne Umwege meiner Agentur zu. Ich hatte das Dossier über Nacht studiert und wollte Frau Scheidegger meine Zusage bekannt geben. Kaum war ich an ihnen vorbei, rief sie meinen Namen: «Alex?»

«Ja?»

«Hilfst du mir, den Tisch da rüberzustellen, ja?»

Auf dem abgegrenzten Platz standen drei kleine Bistrotische und ein grösserer Metalltisch. Die drei kleinen Tische wollte sie für die Dauer des Winters in den Keller tragen, den grossen in die Ecke unter die Platane verschieben, wo sie den amerikanischen und japanischen Touristen, die auf der Suche nach einem Fotosujet vom Bärengraben her kommend hier vorbeischlenderten, nachmittags, wenn die Sonne den Nebel aufgesogen hatte, ein Bier, einen Tee oder einen Punsch servieren könnte.

Ich legte das Dossier auf die Tischplatte, hob den Tisch mit ihr zusammen an und realisierte zu spät, dass sie das Deckblatt lesen konnte.

Sie bemerkte: «Wie bist du zu dem Auftrag gekommen!?»

Ich gab keine Antwort.

Für Rosi gab es zwei Sorten Männer: charakterlose und erfolglose. Ihre Bemerkung und die Art, wie sie die Bemerkung machte, zeigte, dass sie mich eher der zweiten Sparte zuordnete. Allerdings war man bei ihr nie sicher. Es ehrte und kränkte mich zu gleichen Teilen. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass es für sie eine dritte und vierte Sorte Männer gäbe, wenn sie ein drittes und viertes Mal geheiratet hätte.

Sie liess nicht locker: «Willst du seinen Mörder suchen?»

«Hast du ihn gekannt?»

Wir stellten den Tisch ab.

«Wen? Schild? Jetzt sag bloss, du weisst nicht mehr, wer das war», sagte sie erstaunt.

Ich musste wieder mal eine Augenbraue hochgezogen, vielleicht sogar dümmlich geblickt haben, gesagt hatte ich nichts. Sie trat näher an mich heran, schickte sich an, mich zu schütteln, mich einen Blödian oder so was Ähnliches zu schimpfen, liess es aber bleiben, wandte sich an Svetlana, die das Laub mit einer Kehrichtschaufel umständlich in einen Abfallsack stopfte und sich dabei fortwährend um den Sack und das Laub drehte, sagte ihr, sie solle danach die Stühle mit dem Lappen reinigen, wies gleichzeitig auf einen blauen Eimer, der neben der Tür stand, gab mir einen Wink und verschwand im Lokal.

Ich folgte ihr. Sie war hinter die Bar getreten, ich stellte mich davor. Sie drückte einen Knopf an der Kaffeemaschine, stellte zwei Tässchen darunter, wartete, kratzte sich hinter dem Ohr, während sich der herrliche Kaffeegeruch zu verbreiten begann, und platzierte die Tellerchen mit den kleinen Tassen und dem fingerdicken Schäumchen auf dem Kaffee genau zwischen uns.

«Vor einem Jahr, ungefähr», begann sie und gab zwei Zucker in ihren Kaffee, «hat der Kerl, Makler oder was er war, wie hat er geheissen? Ist ja egal, hat der also letzten Herbst eine Affäre mit Svetlana gehabt. Er hat sie besucht, oben in ihrem Zimmer, öfters, und wie sie schwanger geworden ist, ist er weggeblieben. Hat sich nicht mehr blicken lassen. Das muss, warte mal, jetzt haben wir September, Anfang Jahr, gegen Ende Januar, gewesen sein. Wie gesagt, so ungefähr.»

Sie rührte den Zucker ein, warf einen Blick hinaus, sah zu, wie Svetlana den Sack zuschnürte, und erzählte weiter: «Sie hat ihn angerufen, in seinem Geschäft, und ihm gesagt, er könne sich freuen.»

Sie stürzte ihren Espresso hinunter. Sie trank ihn nie mit Genuss, wie ein Italiener, sondern wie ein Postbote, der die Post hereinbringt und die nächsten Briefkästen im Kopf anpeilt, um seine Tasche möglichst rasch leer zu haben. Sie liess ihre Hand sinken, stellte das Tässchen auf die Untertasse, wischte sich mit Daumen und Zeigefinger die Mundwinkel sauber und meinte: «Tja, und da hat er ihn geschickt: den Schild. Seinen Anwalt. Das kannst du nicht vergessen haben! Er ist hinten gesessen, Tisch zwölf, fast den ganzen Vormittag hat er da gehockt und mit Svetlana geredet.»

Jetzt sah ich ihn vor mir. Daher kannte ich ihn! Der Mann war leise eingetreten, leise und vor Zuversicht strotzend, man spürte, der hatte sich nicht im Lokal geirrt, der hatte eine Order.

Er hatte nach Svetlana gefragt, dann den ganzen Tisch belegt und sich so hingesetzt, dass er den Raum überblicken konnte. Die Aktenmappe neben sich, die Hände gefaltet auf der Tischplatte, so hatte er gewartet. Mit seinem weissen Hemd, seiner Krawatte und einer Haltung, die Position, Macht und Entschlossenheit erahnen liess, hatte er quasi den ganzen hinteren Teil des Lokals in Beschlag genommen. Jedenfalls traute sich niemand in seine Nähe. Er hatte nicht nur aufrecht, sondern siegessicher dagesessen; Svetlana hatte sich geweigert, hatte sich regelrecht gesträubt, an seinen Tisch zu gehen. Sie musste sich ihrer Aussichtslosigkeit, ihrer Ohnmacht gegenüber der Geschliffenheit eines Anwalts, wie er es war, bewusst gewesen sein. Rosi hatte sie hinführen müssen, wie man ein Kalb zum Metzger führt, hatte sich neben sie gesetzt und die Rolle des Türöffners übernommen. Er musste rasch begriffen haben, dass es ein leichtes Spiel sein würde, dass er für seinen Mandanten das maximale Ergebnis nicht nur fordern, sondern auch würde durchsetzen können.

Ich hatte an der Bar gesessen, Zeitung lesend, und hatte unauffällig hingesehen. In Situationen wie dieser erwacht mein Spürsinn, mein Forschergeist. Ich hatte längst nicht alles, was sie sprachen, verstehen können, denn im Hintergrund lief Musik. Svetlana hatte geschwiegen, vorerst, hatte lediglich gesagt, sie rede mit Franz, und nur mit Franz, ihrem Freund, mit niemandem sonst. Er hatte keine Fragen gestellt, hatte lediglich festgehalten, was sie gesagt hatte, hatte ihre Aussage in andere Worte gepackt, aber letztlich ihre Weigerung wiederholt, was mich irritierte. Er hatte weder Ungeduld noch Nachsicht gezeigt, hatte auch nicht gelächelt, wirkte bloss aufgeräumt.

Es waren Gäste eingetreten, Handwerker, Bundesangestellte, Leute vom Strassendienst, ein Taxifahrer, zwei Männer in Leder, Motorradfahrer vermutlich, ziemlich durchfroren, sie hatten sich an der Bar oder an den Tischen niedergelassen, und Rosi war hin und her gelaufen, hatte serviert, da und dort gescherzt, hatte Bemerkungen über die trockene Kälte fallenlassen und ab und zu besorgte Blicke zum Tisch zwölf geworfen.

Er hatte Zeit.

Svetlana hatte gleichwohl zu reden begonnen, hatte sich weder beklagt noch beschwert, hatte weder geschimpft noch gefleht oder gar gebettelt, ihn auch nicht bedrängt. Sie hatte auf die Tischplatte herab gesprochen, eine Hand auf ihrem Bauch. Von dem, was sie sagte, hatte ich nur Bruchstücke verstehen können, der Tonfall jedoch, der Tonfall ihrer Rede, der blieb mir unvergesslich: Es war ein Sington, zwischen weinerlich und enttäuscht, zwischen verletzt und verzagt. Sie war näher der Scham, denn der Reue, getrieben von einem letzten Funken Hoffnung.

Nachdem sie geendet hatte, hatte er losgelegt, sachlich, klärend vielleicht, unnachgiebig auf jeden Fall, soweit ich das im Nachhinein beurteilen kann. Er hatte seiner Aktenmappe einen zweiseitigen Vertrag entnommen, ihr unterbreitet, vor ihren Augen mit der Hand darüber gestrichen, auf besondere Punkte hingewiesen und auf die Stelle getippt, auf der zweiten Seite, wo ihre Unterschrift erwartet wurde; sie hatte sich umgeblickt, Hilfe suchend, mit glühenden Wangen und feuchten Augen, hatte dann schnell und ohne zu lesen mit seinem Füllfederhalter ihren Namen hingekritzelt und war davongestürzt – Rosi hinterher.

Rosi zündete sich eine Zigarette an, fixierte mich durch den Rauch und fragte: «Na, dämmerts?»

Ich bewunderte ihre vollen Lippen, die zu ihrem ungeizigen Wesen passten und mit denen sie ihre Stimmungen vollendet ausdrücken konnte. Ein Schmollen zum Beispiel oder wie jetzt Gereiztheit, mit einem abschätzigen Lächeln.

«Ja», sagte ich, «ja, ich erinnere mich: teurer Anzug, teure Uhr, teure Haare.»

Rosi legte ihre Hand auf meinen Arm. Svetlana kam herein, mit dem Besen, der Schaufel und dem Sack, und verschwand in der Küche.

«Teure was?», sie zog die Hand zurück, blickte verwundert.

«Seine Haare. Pechschwarz, glänzend und so geordnet, als käme er von einem Fünf-Sterne-Friseur.»

«Pomade!», sie wusste Bescheid, «macht jünger! Das solltest du mal versuchen», sagte sie und packte es in einen vieldeutigen Blick.

Ich fragte sie: «Woher hast du gewusst, dass er Schild hiess?»

Svetlana trat aus der Küche, ging hinaus, kam zurück mit dem Wassereimer in der Hand. Sie stellte ihn hin und goss sich ein Glas Cola ein, trank es in einem Zug aus, nahm den Eimer und ging damit nach hinten zur Toilette.

Als die Tür zu war, sagte Rosi: «Vom Vertrag. Sie hat ihn mir gezeigt.»

«Schätze, sie ist nicht gut weggekommen in dem Vertrag.»

Rosi schnipste die Zigarettenasche in den Aschenbecher und sagte: «Das war null gerecht.»

Ich sagte: «Wir hätten ihr zu einem Anwalt verhelfen sollen. Einen Gegenspieler, der hätte sie vertreten, eine Vaterschaftsklage aufgesetzt und eine satte Forderung gestellt. Er hätte den Franz, den Vater des Kindes, zu einer langjährigen Unterstützung verklagt. Vermutlich hätten die Anwälte gefeilscht, es hätte vielleicht sogar eine längere Gerichtsverhandlung gegeben. Aber so? Kein Mensch tritt eine Auseinandersetzung dieser Art allein an. Ohne Unterstützung, ohne Gegenposition.»

«Ach ja?», sagte sie, «Gerechtigkeit muss also in jedem Fall erkämpft werden?»

«Du verwechselst Gerechtigkeit mit Recht. Gerechtigkeit ist eine Tugend, sie wird den Menschen anerzogen, basiert auf Gefühlen und hat keinen Anspruch auf irgendetwas. Dürrenmatt hat einmal gesagt: Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat. In der Natur, übrigens, existiert keine Gerechtigkeit.»

«Wir sind keine Affen mehr, vergiss das nicht», sagte sie.

«So weit davon entfernt, wie viele glauben, sind wir nicht! Und wenn wir schon dabei sind: Recht ist eine menschliche Erfindung.»

«Immerhin verlangt beides nach der Wahrheit!», warf sie ein.

«Ja, ja, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Woraus besteht denn die Wahrheit? Zur Hauptsache aus Ansichten und trügerischen Erinnerungen. Fünf Leute, die etwas beobachtet haben, haben fünf Ansichten, daraus ergeben sich fünf Wahrheiten. Recht ist hingegen ein Zustand, ein Gleichgewicht, um das gerungen wird, und zwar mit Spielregeln, die von einer Gesellschaft vorher festgelegt werden. Denk an Justitia mit der Waage: Sie ist blind. Richter lernen bei ihrer Arbeit, die Argumente abzuwägen, ohne sich dabei von Gefühlen leiten zu lassen. Und vergiss nicht, lügen ist nicht verboten!»

Ich war in Fahrt gekommen.

Sie stoppte mich: «Weisst du eigentlich, dass du von einem Kind redest?»

«Na ja», sagte ich.

«Eins ist sicher: Der Wisch, den Svetlana unterschrieben hat, hatte weder mit Gerechtigkeit noch mit Recht was zu tun», sagte sie, drückte den Zigarettenstummel aus und fügte hinzu: «Du mit deinem Dürrenmatt. Ich sage dir mal meine Definition: Die Gerechtigkeit wohnt im Himmel und die Justiz auf dem Mond, auf der Erde, hier auf der Erde herrscht ein Fürst mit dem Namen Geld, und das Gegengewicht zur Moral ist die Macht. Jawohl!»

Was hätte ich dazu sagen sollen? Das Fressen kommt vor der Moral, wer hatte das gesagt? Schild war nicht gekommen, um seinen Mandaten freizukaufen oder zu entschuldigen. Er war als Anwalt gekommen, um die Rechte seines Mandanten zu verteidigen, seinen finanziellen Schaden zu begrenzen, und dies mit gesetzlich erlaubten Mitteln.

Svetlana kam zurück, trank noch ein Glas Cola und verschwand in der Küche.

Nach diesem Zusammenprall war sie verschwunden, den ganzen Sommer über hatte ich sie nicht gesehen. Ich hatte Rosi nicht nach ihr gefragt, hatte einfach angenommen, sie sei ersetzt worden, durch die Neue, die Spanierin mit dem Namen Dolores. Vor vier oder fünf Wochen war Svetlana zurückgekehrt, dünner, bleich, um die Mundwinkel auffällig kummervoll, und mit einem Quantum dunkler Leere in den Augen. Leiser, um Jahre gealtert, aber nicht weniger freundlich.

Rosi räumte die Tassen weg, wischte mit einem Lappen über die Bar.

Ich legte das Geld für den Espresso hin, wandte mich zum Gehen und dachte: Er war der Typ Mann, der sich nicht so schnell was diktieren liess. Warum, um Himmels willen, hatte er sich so glatt abknallen lassen?

Rosi schob das Geld in meine Richtung zurück, wedelte mit der Hand darüber, um klar zu machen, dass ich eingeladen gewesen war, und sagte: «Danke für die Hilfe mit dem Tisch.»

Ich griff nach dem Geld.

Sie legte rasch ihre Hand auf meine Hand, beugte sich vor und sagte: «Weisst du, was ich hoffe?»

«Was denn?», fragte ich.

Ich konnte das Parfum des Puders riechen, den sie aufgetragen hatte, und ihre Stimme klang sonderbar schneidend, als sie sagte: «Ich hoffe, eine Frau hat ihn erschossen.»

Eine Frau? Der Gedanke traf. Ich überlegte, wog ab und geriet wohl leicht aus der Fassung. Sie liess meine Hand los, beobachtete mich, lachte, hustete, schüttelte sich und prustete: «Nein, Alex, nicht was du denkst!»

Wieso konnte immer alle Welt meine Gedanken lesen?

Svetlana streckte den Kopf aus der Küche und fragte: «Was ist?»

Rosi beruhigte sie und fragte mich: «Hast du keine Sonnenbrille?»

Ich blickte mich um, es war nicht übermässig hell im Lokal.

Sie zeigte auf mich und raunte: «Dein Gesicht», ihre Finger berührten mich fast, «es gleicht einer Wetterkarte – du musst was dagegen tun. Unbedingt! Setz eine Sonnenbrille auf oder lass dir von einem echten Profi zeigen, wie man ein Pokerface macht.»

6

Ich ging zu meiner Agentur hinüber, nahm die Werbeprospekte aus dem Briefkasten, schloss die Tür auf und trat aus dem hellen Morgen hinein ins dämmerige Empfangszimmer.

Innerhalb dieser dicken, alten Sandsteinmauern blieb es in der Wohnung – egal wie heiss die Sonne draussen auf den Asphalt brannte – schattig und kühl. Es roch nach Walderde, getrockneten Pilzen und manchmal nach angefaulten Kartoffeln, schwach, aber doch streng genug, um zu verhindern, dass in mir das Gefühl der Vertrautheit entstehen könnte. Das Flusswasser, das während einer Woche durch das alte Quartier geflossen war, hatte genügend Zeit gehabt, unter die Bodenplatten und ins Fundament zu sickern und sich von den Gipswänden aufsaugen zu lassen; eine Restfeuchte hatte sich im Holz und in den Dichtungsmassen unter den Fenstersimsen festgesetzt, da und dort kamen nach Monaten noch schwarze Schimmeltupfer zum Vorschein.

Ich hatte Vorhänge anbringen lassen, schwere, blickdichte Ware aus Baumwolle, damit sich die Klienten nicht beobachtet fühlten. Das Gewebe dämpfte nahezu alles, Geräusche, Licht, Wärme, sogar die Erschütterungen, bloss die Gerüche, die dämpfte es nicht. Langsam hegte ich den Verdacht, dass die Vorhänge die Austrocknung der Wohnung sogar verhinderten. Erfolgreich verhinderten.

Ich riss sie zurück und das Fenster auf und liess frische Luft herein.

An der Wand wartete ein Sofa auf Klienten, ein breites, modernes Sofa. Dem Sofa gegenüber stand der dazu passende Sessel. Ich hatte die beiden Möbel mit meinem ersten Honorar gekauft, darauf gesessen und gewartet hatte bisher niemand. Geschlafen hatte ich hingegen mehr als einmal auf dem Sofa, Langnau lag im Emmental, und die Fahrt dahin dauerte immerhin 45 Minuten, und wenn ich jemanden observierte, der sich in derselben Nacht in zwei Betten niederlegte, verbrachte ich halbe Nächte im Auto, unter einem Baum oder hinter einem Container.

In der Mitte stand ein Tischchen, auf dem Zeitschriften lagen, die wie neu glänzten, obschon ich sie zur Eröffnung gekauft hatte, und neben dem Sofa hatte ich ein Plakat mit Reissnägeln direkt auf die neue Tapete gepinnt. Es zeigte den Berg Niesen, gemalt von Paul Klee; nichts als den Niesen und rechts davon die Sonne, abstrakt und in Farben, die alles andere als grell waren und präzis zu meinem Gemüt passten, wie ich fand.

Jedes Mal, wenn ich eintrat, stellte ich fest, dass das Plakat schief hing, ich verspürte aber nie das Bedürfnis, dies zu ändern, denn die Schieflage verstärkte das Plakative; sie enthob das Plakat der Versuchung, ein eigenständiges Bild zu sein. Das Plakat blieb Plakat, Träger des Abdrucks eines Klee-Bildes, und das Klee-Bild mit dem Niesen wurde zum Ereignis, zum Kernpunkt. Je häufiger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zur Überzeugung, dass dies auch für Menschen galt, die im Dienst der Gesellschaft stehen. Für Polizisten zum Beispiel, für Lehrer, Politiker oder Soldaten. Egal welchen Auftrag sie haben, sie werden eher akzeptiert, wenn man spürt, dass sie mit menschlichen Eigenschaften wie Vergesslichkeit oder Fehlbarkeit gestraft sind und Aufträge so erfüllen, wie sie es mit ihrem eigenen Gewissen vereinbaren können. Abwehr oder gar Widerstand lösen die anderen aus, die Männer und Frauen, die ihren Weg wie eine hellerleuchtete Promenade vor sich haben, denen selber nie ein Fehler unterläuft. Wer kennt sie nicht, diese senkrechten Menschen, die bis zur Zahnstellung vollkommenen Figuren, die alles in ihrem Leben richtig machen, angefangen bei den Eltern, die sie sich ausgesucht haben, bis hin zum Glück, die richtigen Kinder mit dem richtigen Partner gezeugt zu haben, als wären sie nicht zum ersten Mal Mensch auf dieser Erde?

Als Polizist nehmen sie jede Untat, jedes Vergehen als persönliche Beleidigung und ahnden streng, kleinlich und unnachsichtig. Sie verspüren eine tiefe Befriedigung, sobald sie eine Person eines Vergehens überführen können. Sie wähnen sich immerzu auf der Seite des Rechts und halten sich gar für das Mass oder die Norm des Rechts, als hätten sie es geschaffen, führen sich auf wie Vollstrecker statt Vollzieher.

Am unerträglichsten sind diese Menschen, wenn sie an der Macht sind, wenn sie Herr sind über ein Heer von Polizisten. Gerade in dieser Stadt gab es zu jener Zeit einen Polizeivorsteher, der hiess die Stadtpolizei selbst dann einschreiten, wenn etwas nur schon nach Verbrechen oder Sünde roch, und er bezichtigte jede Verharmlosung der Mitschuld. Oft war sein Blick getrübt oder beschränkt, weil er die Gesetze vor dem Gesicht trug, statt im Kopf.

Seinesgleichen geniessen wenig Vertrauen in der Bevölkerung, und ohne Vertrauen wird jede Aktion gegenüber Menschen, jedes Eingreifen oder Einschreiten vom Publikum als Beleidigung empfunden; das wusste schon Konfuzius. Ich hatte mich oft über die Kurzsichtigkeit des Kerls gewundert; wie erbärmlich musste sein Alltag, sein Privatleben ausgesehen haben: Alles, was für ihn zählte, war erstens Sicherheit, zweitens Sicherheit und drittens Sicherheit. Jede Bewegung, jeder Aufruhr, jeder Krawall war für ihn ein Zeichen des Niedergangs, der Verwahrlosung, des Zerfalls. Toleranz, Freizügigkeit und Nachsicht waren für ihn Merkmale der Schwäche. Kurz: Für ihn war alles, was Menschen bewegt, was sie zusammen- oder auseinanderbringt, gefährlich und konnte nur mittels rigorosem Durchgreifen unterdrückt und bewältigt werden. Er war auf seine Weise so unerträglich wie jeder religiöse Fanatiker.

Das Telefon klingelte und holte mich unsanft aus der Grübelei. Ich sauste hinüber ins Büro, das ich im Schlafzimmer eingerichtet hatte. Hier waren die Vorhänge zurückgeschoben, und die Sonne streckte ihre warmen Strahlen bis aufs verstaubte Pult. Ich liess die Prospekte in den Papierkorb fallen, was den Staub zünftig aufwirbelte, und hob der Hörer ab.

Es war Deborah, die Sekretärin des Stellvertretenden Polizeichefs. Statt einer Begrüssung sagte sie: «Endlich! Wo warst du so lange?»

«Ich habe heute meinen freien Tag.»

«So? Und trotzdem bist du in deiner Agentur?»

«Ich muss meine Blumen giessen. Habe gestern keine Zeit gehabt.»

Sie kicherte: «Auch keine Zeit zum Staubwischen?»

Sie war hiergewesen und hatte durchs Fenster gespäht, so viel war klar! (Und Frauen sehen nun mal jedes Staubkorn, so wie ihnen jeder Tupfen Fliegenkot auf einer Fensterscheibe ins Auge springt.)

Ich blickte den winzigen Teilchen nach, wie sie den Sonnenstrahlen entlang hinauf und hinaus in die Welt tanzten, und gab zur Antwort: «Nein, ständig ruft jemand an.»

Sie sagte: «Ach, du bist immer noch derselbe Spassvogel, was? Wann kommst du wieder zu uns zurück? Du fehlst hier, weisst du das? Du hast unserem Laden gutgetan. Seit du weg bist …»

Ich unterbrach sie: «Wenn das so weitergeht, brauche ich Verstärkung. Möchtest du nicht für mich arbeiten?»

«Du meinst, ich könnte bei dir Staub wischen?», fragte sie in höchstem Ton.

Hatte sie angerufen, um mich zu ärgern? Ich versuchte, bei ihr eine empfindliche Stelle zu treffen: «Ich mein es ernst, oder suchst du nicht mehr was anderes?»

Es wurde still. Ich lauschte und liess meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Stehend konnte ich zwischen den Häusern die Aare sehen, sie floss aufgewühlt unter der Steinbrücke durch. Nach hundert Jahren Schweigsamkeit hörte ich einen Seufzer am anderen Ende der Leitung, und bevor sie etwas entgegnen konnte, setzte ich einen drauf: «Verstehe, du hast dich abgefunden mit deinem Chef, seinen kindlichen Erklärungen, seinen Selbstlobhudeleien, Peinlichkeiten …»

«Ach, Alex!»

«… mit den unkollegialen Kollegen, mit den einfältigen Kolleginnen, Hyänen, Schlangen und Oberkühen; mit all den Reibereien, mit …»

«Hör auf!» Es klang wie Hoffnung, die von Verzweiflung zerfressen wurde. Sie senkte ihre Stimme, die Zischlaute stachen wie Nadeln in mein Ohr, ich stellte mir vor, wie sie mit ihrer Hand die Sprechmuschel abschirmte, damit nichts von dem, was sie sagte, in unbefugte Ohren gelangen konnte: «Du wirst es nicht glauben, aber seit du weg bist, ist hier alles noch schlimmer geworden.»

Ich hielt den Hörer vom Ohr weg und brüllte in die Muschel: «Ha, und du willst mich zurücklocken! Sag mal, hasst du mich so sehr? Warum verlässt du die Abteilung nicht auch endlich?»

«Ach, Alex», hörte ich sie jammern, «es ist schwer, sehr schwer in meinem Alter. Ich hab es versucht, glaub mir, ich habe 45 Bewerbungen verschickt», und wie um der Zahl zusätzlich Gewicht zu verleihen, fügte sie hinzu, «eine für jedes meiner Jahre.»

Ich hatte ihren wunden Punkt getroffen. Ich sagte in versöhnlichem Ton: «Du und ich, wir wären ein starkes Team.»

Ich hörte ein Geräusch im Hintergrund, jemand war zu ihr ins Sekretariat gekommen, bestimmt Konrad Oberli, der Hausdienstleiter, der sich dauernd auf ihr Pult setzte, als wäre er ihr bester Freund. Das lenkte sie ab, zwang sie zur Teilung ihrer Aufmerksamkeit, deshalb überhörte sie mein Angebot. Sie änderte ihre Stimmlage ein weiteres Mal und sagte: «Der Chef will dich sehen.»

«Sag ihm, er soll selbst bei mir anrufen, wenn er was von mir will. Ich bin jetzt mein eigener Chef.»

Sie sagte: «Er sagt, du seiest gestern Abend am Tatort gewesen. In Muri, bei Schilds Haus. Er will mit dir darüber reden.»

«So? Hat er das gesagt? Weisst du zufällig, was er mir sagen will?»

Sie redete, als wäre sie allein: «Er hat gesagt, der Fall … Er meint, es könnte gefährlich werden, du könntest in Teufels Küche geraten und es am Ende teuer bezahlen.»

«Meint er.»

«Ja. Er hat gesagt, er könne dich nicht schützen und auch nicht decken oder rausholen, wenn du in die Klemme gerätst», sagte sie mit einer Ernsthaftigkeit, die mir zu denken gab.

«Verstehe, er hat Angst um mich.»

«Sieht so aus», sagte sie.

«Das glaubst du ja selbst nicht. Der hat noch nie um jemanden Angst gehabt, ausser um seinen eigenen Arsch. Und helfen würde er nicht einmal seiner Mutter, wenn sie in der Klemme sässe. Er weiss doch, dass das jeder weiss. Deborah, was will er wirklich?»

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