Kitabı oku: «Magdalenas Mosaik»
Gabriele Engelbert
Magdalenas Mosaik
ein Frauenleben zwischen Eigensinn und Anpassung
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Magdalenas Mosaik
Prolog
Der Schreibtisch
Kein wüstes Leben
Haltepunkte
Das Familien-Nest
Kinder und Kindereien
Freiheiten
Wer ist Magdalena?
Aufbruch im Sturmschritt
Der Porzellanhund
Umwege zum Ausprobieren - London
Lernen, leben und was dazwischenkommt
Kriegsdienst
Verwundete, Tote und Herzklopfen
Die Hölle von Hamburg
Bangen und Hoffen
Lebensnotwendiges
Wiedersehen im Familienkreis
Endlich Schluss?
Die Familie im Norden
Alte und neue Freiheiten
Endlich angekommen
Familienmittelpunkte
Die Vielfalt von Glück
Wie die Zukunft beginnt
Aus dem Gleichgewicht
Familienfeste
Wie begegnet man dem Schicksal?
Trauer
Plötzlich
Epilog
Impressum neobooks
Magdalenas Mosaik
Prolog
Wer bist du?
eine Brille auf dem Schreibtisch vor der Kant-Büste,
aufgeschlagene, bebilderte Seiten eines Merianheftes: Stadtanlagen Ostpreußens,
Reihen altersduftender Bücher im schwarzen Holzregal hinter der Chaiselongue,
das dicke, hochlehnige Kanapee hinter dem runden Esstisch,
das imposante Ölportrait eines energischen Herrn: der Urgroßvater,
Brennschere und Kerzenhalter aus Messing auf dem schmalen Bord über der Heizung,
die weißbraunen Schachbrett-Karos des niedrigen Spieltisches zwischen zwei Sesseln,
tief unten vor dem Fenster draußen der quirlige Verkehr auf der Breitenfelder Straße
und Baumwipfel vor dem Universitätskrankenhaus Eppendorf,
eine kuschelige Pelzweste aus Kaninchenfell,
faltige Hände, behutsame Finger auf den Bilderbuchseiten,
Linien, Furchen, Kerben erlebter Begebenheiten auf der Stirn,
gegerbter Humor in den Augenwinkeln, fragend,
ein strenger Mund vor versiegelten Erinnerungen,
dein Gesicht voller Antworten, deren Fragen ich noch nicht kenne,
dein Blick nach innen, - weit weg – zurück? Wohin?
Wer bist du?
Spärliche, fast verlorengegangene Mosaiksteinchen aus blassen Erinnerungsbruchstücken, die kaum ein Ganzes ergeben können. Kein greifbares Bild, kein farbiger Inhalt, nur Fragen. Wo gibt es Anfänge? Wie sehen sie aus? Führen sie zu einem Mittelpunkt? Welche Farben, Formen und Dimensionen hat dieses Bild? Wie viele Teilchen gibt es? Wie lässt sich dieses verblasste Durcheinander entwirren?
Da sitzt eine frühe Erinnerung mit der Großmutter auf der moosgrünen Chaiselongue, -dahinter die nach altem Leder duftenden, gedämpft farbigen Bücherreihen in dem hohen schwarzen Holzregal. Ein kleines Mädchen neben Großmutter auf jenem Sofamöbel und fragende Blicke zu dem alten Gesicht hinauf: wer bist du eigentlich?
Und die Großmutter, mit einem Lächeln nach unten auf das kleine Gesicht herunter: Und du? Wer wirst du eines Tages werden?
„Als ich so klein war wie du…, früher mal…“, so mag es angefangen haben mit uns beiden.
Angefangen mit liebevoll wissendem Lächeln in meine ungläubigen Blicke hinein, denn wie hätte ich mir diese Großmutter kinderklein vorstellen können? Niemals. Oder vielleicht doch? Ihr Lächeln wie aus anderen, unbekannten Zeiten – zu mir, in meine kleine, blaue Kinder-Neugier hinein. Und dann, zögernd, mochte sie angefangen haben zu erzählen.
Früher mal auf der Chaiselongue, das war damals, als wir uns zuerst richtig trafen, etwa 1952, als ich fast drei Jahre alt war.
Ganz früher mal, im April 1892, wurde die Großmutter selbst drei Jahre alt wurde, also lange vor meiner eigenen Zeit, als ich sie kennenlernte. Lange bevor die Großmutter zur Gromo wurde. Lange bevor Großmutter Lene selbst nach und nach entdeckte, wer sie eigentlich war oder werden sollte.
Der Schreibtisch
Früher mal, eines Tages, schaffte Lenchen es, über die Schreibtischkante zu gucken. Auf die Zehen hoch gereckt und sich mit den Fingern anklammernd, erfüllte sie sich endlich diesen dringenden Wunsch. Tüchtige kleine Finger. Und Neugier. Na bitte, dieser Blick über die Kante war es, was sie unbedingt wollte. Sie sah Bücher, aufgeschlagene schwarze Hefte, Zettel, routinierte, krakelige Schriftzeichen, eine Schreibfeder, rote Tinte, alles von schräg unten her erspäht. Papas Geheimnisse.
Das fiel ihr jetzt, viel später, zuerst ein. Vaters Schreibtisch.
Der und Vater gehörten zusammen. Der Schreibtisch allein, ohne Vater, war ein hilfloser Anblick, war wie ein Hilfeschrei aus dem Alleinsein. Vater ohne Schreibtisch, naja, das ging noch an, aber wenn er etwa zur Schule hinüber ging oder zu Hause am Mittagstisch saß, wenn er nicht am Schreibtisch saß, dann schien er seinen Schreibtisch doch gewissermaßen im Kopf irgendwie oft mit sich herumzuschleppen. Seltsam war das.
Immer wieder überlegte sie, was es mit diesem Möbelstück wohl auf sich hatte? Manchmal, als sie noch keineswegs über die Schreibtischkante gucken konnte, hatte Vater sie auf seine Knie genommen, wenn er am Schreibtisch saß. „Na, Marjellchen? Kommst mal deinen Papa besuchen?“ Er wies auf das windbewegte Grün der Kastanie vor dem Fenster, auf die sonnenhellen Dächer der Häuser gegenüber. „Siehst du, wie schön ich’s hier habe?“ Der Federhalter lag auf einem aufgeschlagenen Schulheft, rote Tinte über schwarzem Gekritzel. Warum sollte sie aus dem Fenster gucken?
„Geh mal schön spielen, Lenchen“, sagte er, „Ich komm‘ nachher runter zu euch.“ Seine Finger strichen durch ihr dunkles Kraushaar. Gehorsam rutschte sie von seinen Knien.
Als sie dann eines Tages endlich selbst dem Schreibtisch über seine Kante gucken konnte, sah sie wieder nichts als diese Zettel, Federhalter, Schulhefte und Bücher.
Bücher also. Seinen Schreibtisch, seine Bücher und sein Schreibzeug, das war es, was Papa anscheinend nicht nur da liegen hatte, sondern was auch irgendwie wichtig und in seinem Kopf war. Was man nicht gleich sehen konnte wie etwa seine Nase, seine Stirn mit den energischen Falten oder seinen Kragenknopf. Vater am Schreibtisch, da durfte man ihn sehen und besuchen, immer war er liebevoll, aber streng, und man durfte ihn nicht lange stören. Da war er in einer anderen Welt, die in ihm drin war. Von Papas innerer Welt hatte sie keine Ahnung. Aber das störte sie eigentlich nicht. Noch nicht. Gehorsam schloss sie die Tür hinter dem Vater und seiner Schreibtisch-Welt, hangelte sich die Treppe hinunter und lief ins Kinderzimmer zu ihrem Schaukelpferd.
Und Mama? Hatte die auch so eine Innenwelt? Der Gedanke ließ die kleine Lene nicht so schnell los, war wie ein Spiel, wie Rätselraten. Bei ihrer Mutter, nein, da war erstmal alles sichtbar. Ihre schnellen Bewegungen, quirlig routiniert zwischen Essensdüften, Kochtöpfen, Messern, Gemüse, Kartoffeln, Mehl, Teigklumpen, zwischen Hitze, Dampf und schnippelndem, rührendem, knetendem, reibendem, mantschendem Wohlbehagen. Das waren Künste, die jeder sehen und anfassen konnte. Und die Lenchen wahrscheinlich später würde lernen müssen? Künste, die sie mit Bewunderung erfüllten. Oder Mutter abends am Nähtisch in ihrem Sessel mit Nadel und Faden, ihr geneigter Kopf über einem der Löcherstrümpfe, während der Vater, ihr gegenüber, aus der Zeitung vorlas, was ihm lesenswert schien. Oder, - und das war das Kostbarste -, Mutter am Flügel mit flinken Fingern über die Tasten flitzend. Dann legte Vater die Zeitung beiseite und lehnte sich zurück. Ein Lächeln, wie tief aus seinem Inneren auftauchend, huschte über sein Gesicht. Und die Geschwister drüben am langen Esstisch sahen von den Schularbeiten auf, ihre Gespräche verstummten oder wurden mit Vaters energischem „Pssst“ heruntergedimmt.
Mutters innere, unsichtbare Geheimnisse, ja, die gab es, davon war Lenchen allmählich überzeugt. Aber die saßen nicht in Mutters Kopf, sondern in ihren flinken Fingern.
Anscheinend hatte sie, 1952 also, lange mit der Enkelin auf der Chaiselongue gesessen. Ein so besonderes Sofa war gut für Gedanken, für Spurensuche, für Begegnungen alter und junger Zeiten. Gut zum Erzählen, Zuhören, Fragen und Antworten, auch wenn die Enkelin nicht sofort alles verstand.
Und deine Brüder? So hatte das Kind gefragt. Kleine Brüder gehörten zum Leben, anders wusste die Enkelin es nicht.
Davon ein andermal, hatte sie geantwortet, wir haben doch Zeit, wir beide. Die Enkelin war dicht neben ihr gewesen, hatte den rauen Karo-Wollstoff des Großmutterkleides gespürt, den leichten Mottenduft der Pelzweste, den Großmutter-Atem über ihren hellen Rattenschwänzchen. Aber gleichzeitig war diese Großmutter selbst doch weit in die Vergangenheit gerutscht. Außen und innen, das gab es inzwischen auch bei ihr. Eines Tages würde sie der Kleinen, die dann groß genug war, davon erzählen. Eine alte, wieder neue Geschichte. Die Enkelin war nicht ganz so dicht dran wie ihre inzwischen erwachsenen Kinder Georg und Hanna.
Aber jetzt saß sie, die inzwischen Gromo hieß, erstmal wieder an dem alten Schreibtisch in der Fensterecke. Und während sie auf die sehnige Faltenhaut ihrer Hände blickte, die blau hervortretenden Adern, die vielen Leberflecke, wusste sie, dass dieser Schreibtisch jedenfalls einer ihrer Lebensmittelpunkte war. Hier liefen alle Zeitenlinien zusammen. Das Früher, das noch Frühere, das Heute, das Zukünftige sicher auch. Dafür sorgte sie ja täglich, indem sie sich hier ausruhte, hier Altes und Neues sortierte. Ihre Finger strichen behutsam, fast zärtlich, über alte Papiere. Unwillkürlich neigte sie den Kopf darüber.
Woher kam der Gedanke, das Leben als ein wechselnd feines und grobes Gewebe zu betrachten, kompliziert gemustert, an einigen Stellen leuchtend farbig, anderswo verblichen, fast eingerissen, wieder geflickt, neu zusammengefügt und in anderem Muster fortgesetzt, neue Stränge in alte hinein gewebt, verschlungen und verhakt, nie erwartet, überraschend bunt geraten, zum Weiterarbeiten bereitgelegt? Konnte sie jetzt, nach so vielen Jahren anfangen, die Teile zu betrachten, neu zu ordnen, zusammen zu fügen?
Der erste Haltestrang, war das der Schreibtisch ihres Vaters? Nein, der bildete viel eher eine Art Knotenpunkt, eine Schaltstelle in der Mitte. Das davon ausgehende erste Anfangsmuster, das waren natürlich ihr Vater selbst und ihre Mutter. Mama und Papa, ja, wenn sie noch weiter zurückdenken könnte, hatte es auch mit denen irgendwann einmal angefangen. Und davon gab es doch noch Spuren in einer der Schubladen des Schreibtisches. Und in ihrem Kopf natürlich.
Das leise Knarren der Zimmertür. Sie wandte den Kopf.
„Ach, du bist es. Schon Abend? Zeit zum Essen?“
Das gemütliche, rauchige Lachen aus der Kehle heraus. „Aha, sitzt du wieder am Schreibtisch fest?“
Kein wüstes Leben
Ihr Vater hieß Ernst Leberecht Wüst. Dieser Name hatte, wie Papa erzählte, oft zu Scherzen Anlass gegeben, indem es in „Ernst, lebe recht wüst“ gewandelt worden war. Das konnte allerdings von seinem Leben keineswegs behauptet werden, soviel Lene inzwischen wusste. Nein, „wüst“ hatte der Vater höchstens ab und zu in Studentenzeiten gelebt in Jena und Berlin, jedoch nicht anders als andere Studenten seiner Zeit. Davon erzählte er aber nicht, sondern davon berichtete nur die von ihm verfasste Familien-Chronik. Geboren wurde er am 6. Dezember 1844 in Pröbbernau auf der schmalen Nehrung am Frischen Haff. Dort war sein Vater Pfarrer, seine Mutter stand dem großen Haushalt vor. Ernst wuchs unter 10 Geschwistern auf.
Von Lenes Mutter gab es keine von ihr verfasste Chronik. Sie wurde am 13. Juli 1851 als Martha Louise Charlotte Goldnick in der Mühle Slupp geboren. Sowohl ihr Vater, der Mühlenbesitzer, als auch die Mutter waren zweimal verheiratet, Martha hatte eigentlich fünf Geschwister und fünf Halbgeschwister, die aber fast alle sehr früh starben. Die Mühle Slupp in der Nähe des Gutes Orle liegt an der Ossa, einem rechten Nebenfluss der Weichsel östlich von Graudenz.
Wie Ernst und Martha sich kennenlernten und ihr Leben sich dadurch in eine gemeinsame Richtung lenkte, davon schrieb Vater selbst in der Familienchronik, die er später in Jena verfasste.
Nach kurzer Zeit hielt Lene die dicke Mappe in der Hand. Ihr Vater Ernst Leberecht Wüst schrieb da:
„Zu Beginn des Winterhalbjahres 1865/66 siedelte ich von Jena nach Berlin über…
Für mein ganzes Leben bedeutungsvoll wurde im Sommer 1867 ein Besuch einer Freundin des Orler Hauses in Berlin, der Frau Gutsbesitzerin Goldnick aus Mühle Slupp bei Graudenz, die mit ihrer Tochter Martha, damals 16jährig, gekommen war, um einen Arzt um Rat zu fragen. Ich war mehrere Tage der beständige Begleiter der beiden Damen, machte mit ihnen Besorgungen, führte sie zu Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten und eines abends auch ins Königliche Opernhaus. Da war es, als wir beiden jungen Menschen während einer Ballett-Aufführung nebeneinander sitzend, uns bei der Hand fassten, um uns für alle Zukunft nicht wieder loszulassen. Es lag ein köstlicher Reiz darin, die Heimlichkeit unserer Liebe zu bewahren und keinem von unserem Verspruch etwas zu sagen. Erst im Herbst desselben Jahres 1867 bei der Hochzeit meiner Schwester Auguste, die in Orle stattfand, merkten schärfer blickende Verwandten, was die Glocke geschlagen, und es fehlte in der nächsten Zeit nicht an solchen, die mahnten und Vorstellungen machten und Ratschläge erteilten und drohten. Was sollte auch ein Einverständnis zwischen einem noch die Schule besuchenden Mädchen und einem Studenten bedeuten? War es überhaupt ernst zu nehmen? Wir aber, die wir uns einmal die Treue versprochen hatten, hielten fest, kümmerten uns nicht viel um das Gerede der lieben Verwandten, schrieben uns gute und liebe Briefe und warteten, bis die Zeit sich erfüllen musste…
Das dauerte eine gute Zeit. Durch den Krieg 1866 war Ernst nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er meldete sich zwar, als die Einberufung erfolgte, wurde aber wegen seiner mangelnden Sehtüchtigkeit zurückgewiesen. Auch als Krankenpfleger wollte man auf ihn verzichten. Im Herbst 1867 tauschte er die Universität Berlin mit der zu Königsberg zum Abschluss seiner Studien und um dort später eine Anstellung zu erhalten. Es war sein viertes Universitätsjahr. Auf den Abschluss seines philologischen Staatsexamens bereitete er sich in Königsberg und auch in Güttland vor, wo sein Vater seit 1850 Pfarrer war und er selbst den größten Teil seiner Jugendjahre verbracht hatte. Sein Vater, der Pfarrer mit seiner Familie hatte sich aus Pröbbernau versetzen lassen, um den Kindern eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Im Oktober 1868 legte Ernst die Prüfungen ab und erhielt die Lehrbefähigung für Lateinisch und Griechisch für alle Klassen und für Geschichte und Erdkunde für die Obersekunda einschließlich, zugesprochen. Er promovierte zum „doctor philosophiae“. Sein Probejahr leistete er anschließend auf der Realschule I. Ordnung auf der Burg zu Königsberg, der „Burgschule“. Weihnachten 1868 verlobte er sich endlich offiziell mit seiner Martha. Während die Brautleute einen glücklichen Sommer in der Mühle Slupp verbrachten, brach 1870 der Deutsch-Französische Krieg aus. Ernst eilte nach Königsberg, um sich freiwillig zu stellen, wurde aber wieder wegen seiner Kurzsichtigkeit abgewiesen. So ging er weiter seinem Beruf nach. Auch von dem Erleben der Kriegsereignisse berichtet die Chronik. Aber das war eine andere Geschichte. Ernst und Martha schauten mutig und zuversichtlich in die Zukunft: am 11. Oktober 1870 fand die Hochzeit statt.
„Unsere schönen Güter, die wir festzuhalten uns damals versprachen, bestanden nicht gerade in reichen äußeren Schätzen, obschon auch äußere Güter nicht mangelten, sondern in herzlicher Liebe, Vertrauen und zuversichtlicher Hoffnung. Die Hochzeit wurde im Elternhaus der Braut, in Mühle Slupp, bei entsetzlich schlechtem Wetter gefeiert. Mein Vater traute uns, Vater legte seiner Traurede das Bibelwort Epheser 4, Vers 2 und 3 zu Grunde: „Vertraget einer den anderen in der Liebe und seid fleißig zu halten die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“. Am Tage nach der Hochzeit ging die Reise in die neue Heimat meiner jungen Frau, nach Königsberg, wo wir in der alten Reifenbahn, in der Straße, die jetzt Yorkstraße heißt, eine aus 4 Zimmern und vielem Zubehör bestehende Wohnung gemietet hatten. Die Zimmer waren bei unserer Ankunft von der Familie Rautenberg, die zwei sehr schöne Gummibäume hineingestellt hatte, geschmückt worden.“
Die Eltern hatten, wie Lene nur zu gut wusste, immer ihr eigenes Leben gehabt, auf das sie viel Wert legten, auch als das Ehepaar sich im Laufe der Jahre mit sieben Kindern zu einer großen Familie auswuchs. Ohne ihre Kinder zu vernachlässigen, führten der Schuldirektor und seine Gattin ein offenes Haus, verbrachten viel Zeit mit Geselligkeit in wechselnder Runde von Freunden. Mit denen gingen sie musischen und geistreichen Liebhabereien nach, mit denen verbrachten sie, Gesellschaftsspielen frönend, viele Abende. Beide, Ernst und Martha, aus jeweils großen Familien kommend, waren an solch größere Runden befreundeter Menschen gewöhnt. Insbesondere Ernsts Vater, Lenes Großvater, hatte zeitlebens mit vielen Menschen, darunter vielen gelehrten Freunden gerne zu tun gehabt.
Und Mutter? Leider waren die Familien-Chroniken nur von den Familienvätern, aber nie von den Müttern geschrieben worden. Die gängigen Klischees der Rollenverteilung, - die sich erst, als Lene älter war, ganz allmählich zu ändern begannen -, hatten Lene ihr Leben lang beschäftigt. Warum nur taten alle so, als seien Männer in gewisser Weise wertvoller als Frauen? Etwa, weil bei ihnen der Werdegang, der Beruf, die Karriere und damit auch die Versorgung der Familie eine so große Rolle spielte? Das war aber doch nur möglich, weil die Frauen, die Mütter, ihnen brav alle Alltags- und Familienpflichten abnahmen. Die Frauen, naja, sicher waren sie nicht weniger gebildet, wenn sie nur wollten, aber die eigenen Mütter machten ihnen vor, wie man sich ein- und unterzuordnen, zu fügen hatte. Die Rollenklischees wurden eingehalten: die Männer sorgten für das finanzielle Wohlergehen und das eigene Ego, die Frauen kümmerten sich um Kinder und Haushalt, - und verzichteten auf die Idee etwa eine eigene Persönlichkeit ausleben zu wollen. Stattdessen wurden sie angebetet von den Männern. Und damit es auch klappte mit der erwünschten Anbetung und Eroberung, wollte diese von den Mädchen emsig, kichernd, trickreich und charmant geübt werden. Die Kunst der Verführung, das Sich-Erobern-Lassen, das war die gängige Erfolgsgeschichte von Frauen. Und das war natürlich Reiz und Spannung der Jugendjahre – bis zur Verheiratung. Wenn die manchmal doch nicht erfolgte, blieben ihnen Tätigkeiten von Kinder- oder Hausmädchen, höchstens Lehrerinnen. Solange aber verheiratete Männer und Frauen dann ihre Rollen erfüllten, das taten, was erwartet wurde und entsprechend behandelt und hochgeehrt wurden, blieb die Welt, - die kleine Familienwelt und die etwas größere soziale Welt -, im gewollten und nie anders gedachten, traditionellen, harmonischen Gleichgewicht. Die Familienväter protzten dann gern mit ihren vielen Kindern, - aber erzogen wurden die von den Müttern.
Lenes Mutter hatte die ihr zugedachte Rolle meisterhaft ausgefüllt. Ob sie jemals den Wunsch gehabt haben mochte, sich selbst dabei ins Spiel zu bringen, den eigenen Talenten, wie dem Klavierspiel, mehr Zeit zu widmen, ihnen mehr nachzugehen oder den eigenen Werdegang herauszustellen, das ahnte Lene nicht. Über Gefühle sprach man nicht. Selbstdisziplin war bei ihr selbst, sowie den vorherigen Generationen, von früher Kindheit an geübt und verlangt worden. Bei den üblicherweise vielen Kindern musste sich jedes zurücknehmen, das ging gar nicht anders, hatte nie anders funktioniert. Glück oder Unglück dagegen waren eben Schicksal, und die eigene Individualität, jedenfalls die der Mädchen, blieb manchmal vollkommen uninteressant. Dennoch, so überlegte Lene später oft, dennoch hatte sich eigentlich jede und jeder wohlgefühlt im Familiennest, das Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlte. Sie selbst hatte es nie anders empfunden und von ihren Geschwistern auch selten anderes gehört. Die Familie war Zentrum des Lebens, das der Kinder und das der Erwachsenen.
Lene am Schreibtisch, der jetzt ihrer war, wusste wenigstens, dass ihre Mutter geliebt worden war. Geliebt und verehrt von der ganzen Familie. Und Lene wusste auch genau, wonach sie jetzt suchte. Da gab es einen alten Brief, in vornehm steilen Schwüngen und Schnörkeln, von ihrem Großvater Wüst. Das war jener Carl Theodor Gotthilf Wüst, geboren 1808 in Danzig, 17 Jahre lang Pfarrer auf Pröbbernau auf der Frischen Nehrung, dann Pfarrer in Güttland in der Nähe von Dirschau im heute polnischen Westpreußen. Von dort schrieb er 1773 an seine Schwiegertochter Martha, also Lenes Mutter, zu deren 22. Geburtstag.
Der Brief klang so, als sei die junge Ehefrau mit ihrem Mann Ernst und erstgeborenen Sohn Ernst in der Sommerfrische in Peterhof,- dem Stammsitz der verwandten Familie Chomse -, und häufigen Ferien- und Familientreffpunkt der großen Familie gewesen. In dessen Nähe lag auch die Mühle Slupp und der kleine Ort Orle.
Güttland 13/7/1873
Liebe, trauteste Martha !
Du erhältst heute gewiss von allen Seiten so viel Gratulationen und Zuschriften, dass es gut scheint, einige auch noch für einen späteren Tag zu reservieren. So wird es denn dieses Mal mit unserem Glückwunsche gehen. Alles nur erdenklich Gute wünschen wir Dir von ganzem Herzen. Gott schenke Dir Gesundheit und ein zufriedenes Gemüth. Es möge Dein neues Lebensjahr rein und ungetrübt dahin fließen. Er erhalte Dir Deinen und unseren Ernst und Deinen trautesten Jungen! Das gehört ja doch in erster Weise zu Deinem Glück.
Leiblich zwar nicht, - aber im Geiste sind wir heute unter Euch! Wir sehen Euch Alle, Alle – denn die Orler kommen doch ohne Zweifel hin – theils auf der Veranda, theils im Garten in buntem und fröhlichem Gemisch, hören die Fontaine plätschern, und lauschen den herrlichen Klängen, die aus dem Saale herausschallen. Und Fräulein Jung singt dann noch ein schönes Lied und Alles ruft: Bravo! Ist’s nicht so? – Wir sitzen währenddessen im Kränzchen bei Ortmann, wo niemand spielt, niemand singt, wo keine Fontaine plätschert, wo keine Waldbäume rauschen; aber wo es denn doch ganz gemütlich sein kann….
Jetzt ist hier die Luft wunderschön, morgens schwül, dann während wir in der Kirche waren, Gewitter und ein schöner sanfter Regen; nun klar und schön, und die Temperatur angenehm. 18°….
Freitag haben wir noch lebhaft an euch Alle dort gedacht. Das Wetter war ganz herrlich und wir denken, es muss in Peterhof höchst vergnüglich gewesen sein. Hoffentlich erhalten wir bald Bericht über eure Erlebnisse.
Wir sind hier Gott Lob ganz wohl und freuen uns unserer kühlen Zimmer. Die Kinder amüsieren sich, theils unter sich, theils mit Linchen aufs Beste.
Halt! Eins hätten wir beinahe vergessen. Na, was schenkt Ihr mir denn zum Geburtstag? hören wir Dich fragen. Hübsch warten, wird sich finden.
Bist neugierig, nicht so?
Nun umarmen wir Dich und bitten, Alle, von Ernst ab die ganze Reihenfolge, Alle dort in Slupp, in Orle etc. herzlichst zu grüßen.
Gott befohlen!
Deine Dich innig liebenden Schwiegereltern Wüst u. Frau
Auf eure neue Wohnung sind wir recht gespannt. Ihr habt ja die Wahl entsetzlich beeilt.
Lene setzte die Brille ab und lehnte sich zurück. Auch von Peterhof würde sie den
Enkelkindern später erzählen. Dieses weiße Schloss östlich von Graudenz barg so viele Kindheitserinnerungen. Es hatte Geborgenheit und Ferienglück ausgestrahlt und war deshalb auch für sie selbst wie für die ganze große Familie ein gutes Stück Heimat gewesen. Behutsam strich sie über die so alte, blankgenutzte Holzplatte vor sich. Was war denn Heimat? Ein Platz der Geborgenheit zum Wohlfühlen? Der Geruch von altem Holz? Und von Büchern? Kaffeeduft? Ein Mozart-Klavierkonzert aus dem Hintergrund? Frühlingswind durch das offene Fenster streichelnd? Ein sonniger Weg vor dem Gartentor? Für Lene gehörte der alte Schreibtisch dazu.
Der Schreibtisch ihres Vaters. Papa, ja der hatte wohl ein schönes Leben gehabt. Eine gute Mischung aus Abenteuer, Pflichtbewusstsein, Erfolg und Anerkennung und Ausruhen. Und seine häufigen Krankheiten? Hatte er die als sehr lästig empfunden?
Und sie selbst? Brennend rot ist die Farbe der Erinnerung, dachte sie. Niemals blass, höchstens – manchmal – ein sanftes Traumblau.