Kitabı oku: «Phantombesuch», sayfa 5
8
Die Kinder waren bereits im Bett und Belinda war etwas früher als sonst gegangen, weil sie noch einen letzten Versuch starten wollte, um mit den alten Schraders über die Beerdigung zu sprechen. Elena hatte sie darum gebeten, auch wenn sie sich deswegen selbst als feige bezeichnete. Sie saß auf dem Sofa und hing ihren Gedanken nach. Inzwischen hatte sie sich etwas beruhigt. Es war für sie immer gut, wenn die Kinder nach Hause kamen, auch wenn sie oft gerne länger mit Manuel alleine geblieben wäre. Die Mäuse lenkten sie ab, forderten ihre Rechte ein. Sie musste feststellen, dass es den von der Schwiegermutter angesprochenen „Reiß dich zusammen“-Knopf tatsächlich gab. Unverschämte Person! Sie hält sich für so fein und gebildet. Ihr Sozialverhalten geht jedoch eindeutig in den Minusbereich, dachte sie trotzig.
Elena hätte später nicht sagen können, wie lange sie so in Gedanken versunken war. Immer wieder musste sie weinen, ansonsten bewegte sie sich kaum. Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer und suchte nach Gegenständen, die Erinnerungen weckten. Sie sah Szenen vor sich, die hier stattgefunden hatten – manchmal so lebhaft und echt, dass sie hin und wieder das Gefühl hatte, die Situation gerade eben erst erlebt zu haben. Worte aus Gesprächen hallten in ihrem Kopf nach, als ob Manuel sie soeben gesagt hätte. Immer wieder streifte ihr Blick auch die Terrasse. Manuel hatte es ganz besonders geliebt, in lauwarmen Sommernächten dort mit einem Glas Rotwein und natürlich mit ihr zu sitzen. Obligatorisch für einen solchen Abend war auch seine begehrte Käseplatte, dekoriert mit kleinen süßen Trauben sowie würzigen grünen und schwarzen Oliven. Hätte er doch nur öfter Zeit gehabt für solche „Kurzurlaube“, wie er diese Abende schmunzelnd genannt hatte. Entweder musste er arbeiten oder das Wetter spielte nicht mit. Sie waren wirklich nicht allzu oft in den Genuss ihres wunderschönen Gartens gekommen. Dafür waren die wenigen besonders schöne, unvergessliche Abende und Nächte gewesen. Sie hatten es immer sehr genossen, sich im Freien zu lieben. Mit diesen Gedanken, einem verträumten Lächeln und gleichzeitig kullernden Tränen blieb ihr Blick an der Terrassentür hängen.
Elenas Atem stockte, denn sie sah eine Gestalt, die ganz langsam – fast in Zeitlupe – an der Fensterscheibe entlangschlenderte. Die Glasscheibe spiegelte etwas, weswegen sie die Gestalt nicht ganz klar sehen konnte. Sie war sich jedoch ganz sicher, dass es Manuels Figur war. Ganz eindeutig war es seine Gestalt – groß, breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine, knackiger Po! Die Gestalt bewegte sich so langsam, dass es ihr problemlos möglich war, alles genau zu analysieren. Ja, sogar der Bewegungsablauf war zu einhundert Prozent der von Manuel. Elena hätte ihn unter Tausenden von Männern sofort wiedererkannt. Sie hatte diesen Körper so oft und so eingehend – mit der ganzen Liebe, die sie aufbringen konnte – studiert. Sie hatte diesen Leib nächtelang liebkost, gestreichelt und verwöhnt. Das da draußen war Manuel – er trug eine Schildkappe, die er ziemlich tief ins Gesicht gezogen hatte, weswegen Elena es nicht richtig sehen konnte. Der Schirm berührte beinahe seine Nase. Sie wollte aufstehen, zur Tür laufen, sie aufschieben, ihn in den Arm nehmen und schreien: „Ich wusste es doch, Liebling, du lebst! Sie haben sich geirrt. Es war eine Verwechslung – du bist nicht tot, nein, du lebst! Ich habe es die ganze Zeit gespürt.“
Irgendetwas hielt sie aber auf dem Sofa fest – es fühlte sich an, als ob unsichtbare, starke Arme sie in die Kissen drücken würden. Als Elena bemerkte, dass die Person gleich aus ihrem Sichtfeld verschwinden würde, gab sie sich einen Ruck. Unsicher stand sie auf und bewegte sich vorsichtig auf die Schiebetür zu, als ob sie Angst davor hätte, Geräusche zu machen, die den Zauber verfliegen lassen würden. Erst als ihre Hand den Hebel der Tür berührte, bemerkte sie, wie sehr sie zitterte. Mit großer Mühe und unglaublich viel Energieaufwand schaffte sie es, den Hebel umzukippen. Die Tür aufzuschieben, war noch schwerer und so geschah alles in Zeitlupe. Als die Tür dann endlich so weit offen war, dass Elena einen Schritt nach draußen machen konnte, war weit und breit niemand mehr zu sehen. Wie war das möglich? Der Garten war von einer durchgehenden Hecke umgeben. Es gab kein Schlupfloch – darauf achtete Elena sehr genau, wegen der Kinder. Wie war die Gestalt in den Garten gekommen und wie konnte sie so schnell wieder verschwinden? Hatte sie sich das alles nur eingebildet? War sie gerade dabei, verrückt zu werden? Nein, verdammt, sie hatte Manuel gesehen. Das war er gewesen – ganz sicher! Sie hätte nicht aufstehen sollen. Das war ein Fehler. Elena zitterte am ganzen Körper, sie schwitzte und fror gleichzeitig, sie hatte Gänsehaut und die Nackenhaare sträubten sich. Ihr Magen krampfte sich zusammen und in ihren Ohren dröhnte es. Die Wangen brannten wie Feuer und plötzlich versagten die Knie ihren Dienst. Sie ließ sich auf den Boden fallen, legte sich der Länge nach auf den Rücken, schaute zum Himmel hoch und rief laut: „Manuel, bitte komm wieder! Ich wollte dich nicht verscheuchen. Gib mir noch eine Chance, Liebling. Bitte, bitte! Ich kann ohne dich nicht leben und ich will es auch nicht. Ich glaube, dass es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, von denen wir nichts wissen – ich bin mir ganz sicher.“
9
Am nächsten Morgen kam ihr das Erlebnis vom Vorabend sehr unrealistisch vor, sodass sie an ihrem Verstand zweifeln musste. Ich wünsche mir so sehr, Manuel wieder lebendig vor mir stehen zu sehen, dass ich schon fantasiere. Ich darf nicht verrückt werden – ich muss mit beiden Füßen auf dem Boden bleiben. Ich darf die Bodenhaftung unter keinen Umständen verlieren. Julia hat recht, ich muss endlich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, ermahnte Elena sich selbst.
Lois krabbelte gerade auf ihren Schoß und wischte ihr eine Träne weg. „Mami, nicht weinen, alles wird gut. Soll ich ‚Heile Segen‘ singen?“
Aus den einzelnen, kleinen Tränen wurde ein Sturzbach. Sie wollte zuerst Nein sagen, als sie jedoch in sein trauriges, hilfloses Gesichtchen sah, sagte sie: „Gerne, mein Bärchen, das würde mir jetzt so guttun.“ Er wäre dann beschäftigt – würde sich gut und wichtig fühlen und sie müsste erst einmal nichts mehr sagen.
Lois nahm sie auf die Art und Weise in den Arm, wie sie ihn stets zum Trösten festhielt. Er wiegte sie hin und her und sang leise vor sich hin: „Heile, heile Segen.“ Auch Selina kam dazu, umfasste sie ebenfalls ganz fürsorglich von hinten und stimmte in Lois’ Gesang mit ein. Das Lied ging aber anders weiter, als Elena es kannte: „Heile, heile Segen, der Schmerz muss sofort gehen. Mami will ihn nicht mehr haben, drum holen ihn die schwarzen Raben. Sie nehmen das böse Aua mit und Mami ist ganz, ganz schnell wieder fit.“ Unter Tränen lächelte sie die beiden an und drückte sie an sich.
„Das ist ja lustig mit den Raben. Habt ihr das im Kindergarten gelernt?“
„Nein, Papi hat das so gesungen und immer wenn er ‚fit‘ gesungen hat, hat er uns fest gekitzelt. Und dann waren die Schmerzen weggezaubert.“
„Wann kommt er von seiner Reise wieder zurück, Mami?“, fragte Selina.
Da fiel Elena ein, dass sie sich dringend um einen Termin bei einem Kinderpsychologen kümmern wollte. Sie musste einsehen, dass sie zumindest für die Kleinen so schnell wie möglich fachliche Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Es waren so schwierige Fragen, die die Kinder ihr stellten. Sie wollte auf keinen Fall eines Tages wegen unpassender Aussagen für psychische Schäden bei den beiden verantwortlich sein. Was war jetzt die richtige Antwort?
„Wisst ihr, das ist eine ganz besondere Reise, in ein ganz besonderes Land – nämlich in den Himmel. Richtig zurückkommen wird Papi nicht mehr – er wird euch in euren Träumen besuchen.“
„Warum ist er in den Himmel gereist? Hat es ihm bei uns nicht mehr gefallen? Bin ich schuld, weil ich böse war oder weil ich mich nicht getraut habe, ‚Hallo, ich bin die Biene und mache fleißig Honig für euch alle‘ zu sagen?“
Elena sah Selina durchdringend an, was die Kleine völlig verunsicherte.
„Weißt du es nicht mehr? Ich war doch die Biene am Kindergartenfest.“
Elena streichelte Selina über den Kopf und nickte.
„Wenn ich mich jetzt traue, kommt Papi dann wieder?“
Elena war völlig überfordert und wünschte sich in diesem Moment so sehr, dass das Telefon einen Ton von sich gab oder es an der Haustür klingelte. Sie wäre unglaublich dankbar dafür, auch wenn sie die letzten Tage fast nichts mehr gefürchtet hatte als das. Das Telefon blieb stumm, die Hausklingel ebenfalls und Selina sah sie aus großen, ängstlichen Augen an.
Mein Kind sucht die Schuld bei sich, registrierte Elena verzweifelt. Verdammt, da läuft etwas ganz gewaltig schief. Und das nur, weil sie sich nicht zusammenreißen konnte und sich nicht die Mühe machte, zu telefonieren. Ich bin so egoistisch, dachte Elena verzweifelt. Manuel wäre enttäuscht von ihr. Wie oft hatte er ihr dafür gedankt, dass sie alle Fäden im Hintergrund zog, das ganze Familienleben organisierte und sich einfach um alles kümmerte, sodass er immer den Rücken frei hatte. Sie erwartete und verlangte wirklich nie etwas von ihm, außer dass er ein interessierter und engagierter Papa war, wenn er zu Hause war, und dass er natürlich auch noch etwas Zeit für sie übrig hatte. So war es gut – für alle. Die Kinder waren zufrieden, wenn Papa mit ihnen Blödsinn machte, spielte, vorlas – auch wenn es manchmal nur eine halbe oder gar viertel Stunde war. Diesen wenigen Minuten verstand Manuel aber so viel Bedeutung zu geben, den Kindern so intensive Aufmerksamkeit zu schenken, dass sie wunschlos glücklich waren. Sie spürten in dieser knappen Zeit sehr deutlich, wie lieb ihr Papi sie hatte. Elena übernahm den Rest – sie erklärte den Kindern unermüdlich, dass ihr Papa ein ganz wichtiger Arzt war und ganz vielen kranken Menschen helfen musste. Sie hatte es geschafft, dass die Kinder in ihrem zarten Alter unbeschreiblich stolz auf ihren Vater waren und ihn immer verständnisvoll ziehen ließen. Selina bat ihren Papa immer öfter, ihr Geschichten aus der Klinik zu erzählen. Sie hörte interessiert und gespannt zu und erklärte immer wieder mit ernster Miene, dass sie auch Ärztin werden wolle. Die Große hatte bei der letzten Nikolausfeier im Kindergarten einer Frau, die voller Mitleid gefragt hatte, ob ihr Papa denn „schon wieder“ keine Zeit habe, erklärt, dass er sehr, sehr kranken Menschen helfen müsse – sonst würden diese doch sterben. Elena war vor Stolz fast geplatzt und hatte sich köstlich über das dümmliche Gesicht und die Sprachlosigkeit der Frau amüsiert.
„Ich lass Papi jetzt auch immer ausschlafen – versprochen“, piepste Lois und riss Elena aus ihren Gedanken. Ich muss antworten, ich muss etwas sagen. Etwas Kluges, Beruhigendes.
„Nein, meine Mäuse, nein, ihr habt gar keine Schuld. Ganz, ganz bestimmt nicht! Der liebe Gott hat den Papa wahrscheinlich dringend in seinem Himmel gebraucht und deshalb hat er ihn geholt.“
„Und wer hilft jetzt den kranken Menschen? Ist der liebe Gott ein böser Mann? Alle Patienten im Krankenhaus haben Schmerzen und Papi kann ihnen nicht mehr helfen. Das ist doch böse.“
Oh Gott, was soll ich denn nur antworten? „Im Krankenhaus sind ja noch viele andere Ärzte, die den kranken Menschen helfen können.“
„Dann soll der liebe Gott einen anderen Arzt holen und Papi wieder zu uns schicken.“
Ich antworte nicht das Richtige – ich mache alles noch schlimmer, dachte Elena verzweifelt. Selina wird immer unsicherer. „Papa war eben ein ganz besonders guter und fleißiger Arzt.“
„Also, wenn ich fleißig bin, komme ich in den Himmel und dann sehe ich Papi wieder?“
Oh, verdammt – nein! Elena brach weinend zusammen. So sehr sie auch versucht hatte, sich zusammenzureißen – es war einfach zu viel für sie.
„Es tut mir leid, Mami, bitte geh nicht auch in den Himmel. Ich bin jetzt ganz leise und brav!“, weinte Selina jetzt ebenfalls und Lois stimmte mit ein.
Das hast du ja super hingekriegt, Elena Schrader, lobte sie sich voller Ironie.
Dem Himmel sei Dank – es klingelte. Elena schickte nochmals ein kleines Dankesgebet in Richtung Himmel. Ich bin jedem tief dankbar, der vor der Tür steht – egal wer es ist.
Als Elena die Tür geöffnet hatte, wurde ihre Dankbarkeit noch größer, denn dort standen Julia und ihre Töchter Doreen und Sarah.
„Elena, um Gottes willen – wie siehst du denn aus, Schwesterherz?“ In ihr Ohr flüsterte sie leise: „Ich weiß, es ist unerträglich, aber bitte, denk doch an deine Kinder.“
„Sie stellen Fragen – so schwierige Fragen. Sie tun so weh und ich kann sie nicht beantworten. Ich sage immer das Falsche. Am Ende bringe ich sie regelmäßig zum Weinen und sie fühlen sich schuldig. Sie trauen sich bestimmt schon bald nicht mehr, mit mir über ihre Gefühle und Sorgen zu reden. Oh, Julia, wie soll ich das hinbekommen?“
„Süße, es gibt doch Hilfe – professionelle Hilfe. Zum Beispiel gute Bücher zum Vorlesen.“
„Ich bin aber zu nichts imstande und das Schlimmste kommt ja erst noch – die Beerdigung. Wie soll ich die überleben?“
„Ich sage es dir so, wie es nun einmal leider ist – du musst dich einkriegen. Ich weiß, das klingt sehr hart, aber das bist du Selina und Lois einfach schuldig. Die Kinder werden lernen, zu verstehen und zu akzeptieren. Aber sie brauchen deine Hilfe – ihr müsst das zusammen durchstehen. Natürlich kann ich mit ihnen zum Psychologen gehen, aber das solltest du selbst tun, Elena. Du musst bei den Gesprächen dabei sein. Du musst lernen, mit schwierigen Fragen umzugehen und kindgerechte Antworten zu geben. Und auch für dich selbst wird eine kompetente Kraft Ratschläge haben, die dir weiterhelfen.“
„Ich will Manuel aber nicht vergessen. Ich will auch nicht, dass die Kinder ihn vergessen. Ich will genauso wenig mit wildfremden Menschen über ihn sprechen – von uns erzählen.“
„Du entscheidest, was und wie viel du erzählst, Elena. Es wird sich im Laufe der Therapiegespräche einfach so ergeben – du wirst schon selber merken, ob es dir doch ganz guttut, zu reden. Ich glaube, dass es dir helfen würde – viel mehr, als du es dir in diesem Augenblick vorstellen kannst. Wenn es nicht so sein sollte, kannst du die Sitzungen beenden. Und in der Hauptsache geht es doch darum, dass du lernst, deinen Kleinen die richtigen Antworten zu geben.“
„Ja, du hast ja recht.“
„Weißt du was? Du kümmerst dich um einen Termin, die Kinder sollen spielen und ich besorge dir ein oder auch mehrere kindgerechte Bücher zu dem Thema. Dann kannst du gleich heute Abend damit anfangen, daraus vorzulesen. – Hast du dich mit deinen Schwiegereltern wegen der Beerdigung geeinigt?“
„Nein, Belinda hat das übernommen. Sie ist gestern Abend noch hingefahren. Sie hat sich bis jetzt leider noch nicht gemeldet. Sie kommt aber bestimmt noch vorbei, denn sie ist absolut zuverlässig.“
Julia versuchte mühsam, den Satz, der ihr im Hals steckte, nicht auszusprechen. Sie schaffte es nicht – sie hätte sich daran verschluckt. Es war ja auch nur ein Bauchgefühl – aber es war sehr aufdringlich und mahnend. Es ließ sämtliche Alarmglocken bei ihr schrillen. Bei Elena schrillte leider nichts. Da machte es nicht einmal leise „piep“ und das war komisch. Denn Elena war von ihnen beiden eigentlich diejenige mit der besseren Menschenkenntnis, mit dem Gespür für Stimmungen.
„Elena, ich weiß, du magst Belinda sehr und du vertraust ihr ganz ohne Bedenken. Ich aber habe ein sehr komisches Gefühl bei ihr.“
„Bist du vielleicht verletzt, weil ich mit ihr so viel über Manuel rede? Bitte sei nicht eifersüchtig und schon gar nicht böse. Du weißt, dass du für mich schon immer ein sehr wichtiger Gesprächspartner gewesen bist. Gleich nach Manuel bist du zusammen mit Papa die wichtigste Bezugsperson für mich. Und das wird für immer so bleiben. Aber Belinda kann mir so viel von Manuel erzählen und sie kann auch wahnsinnig gut zuhören, ohne irgendetwas zu bewerten. Deshalb brauche ich auch keine Therapie. Sie ist momentan die beste Therapeutin für mich – eine bessere kann ich mir nicht vorstellen. Unsere Gespräche haben für mich eine heilende Wirkung. Bitte misstraue ihr nicht. Warum denn auch? Sie müsste sich doch nicht um mich kümmern. Was hat sie denn davon? Ich glaube, sie mag mich ganz einfach. Was sollte sie sonst dazu veranlassen, ihre wertvolle Zeit mit einer Heulsuse – einem Häufchen Elend – zu verschwenden?“
Das klingt wirklich alles logisch, dachte Julia. Und trotzdem – irgendetwas störte sie an dieser Frau. Was es aber genau war, konnte sie Elena nicht erklären, weil sie es selbst nicht wusste.
10
„Hallo, Süße, wie geht es dir heute? Entschuldigung, dass es so spät geworden ist. Mein Arbeitstag war wieder mal die reinste Hölle. Eine Kollegin ist krank geworden und sofort bricht der komplette Dienstplan zusammen. Das ist ja auch kein Wunder, wenn das Personal so knapp bemessen ist.“
„Du musst dich doch nicht bei mir entschuldigen und du bist ja auch nicht verpflichtet, jeden Tag nach mir zu schauen, Belinda. Du hast so einen Stress wegen mir.“
„Unsinn, ich hab dich so sehr ins Herz geschlossen. Zuerst war ich nur neugierig, wer die Frau ist, die Manuel so bekehrt hat. Aber ich mag dich sehr.“
„Auch wenn du mich mindestens 95 Prozent der Zeit nur heulend erlebst?“
„Auch so – nein, das macht mir nichts aus. Es werden auch wieder bessere Zeiten kommen. Da bin ich mir sicher!“
„Konntest du wegen der Beerdigung etwas erreichen?“
„Hör zu, Elena, ich hab mein Bestes gegeben. Es scheint alles organisiert zu sein. Übermorgen wäre es so weit. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu bitten, alles wieder umzustoßen. Die beiden leiden unglaublich, auch wenn es für dich nicht so aussieht. Sie haben immerhin schon ihr zweites Kind durch einen Unfall verloren. Für sie wäre es außerdem in absehbarer Zeit ziemlich mühsam, nach Düsseldorf zu kommen, um ihren Sohn auf dem Friedhof zu besuchen. Sie meinen, dass es für dich doch viel einfacher sei, zu ihnen herauszufahren, denn du bist jung und das Autofahren mache dir nichts aus.“
„Das stimmt schon – es ist alles richtig. Aber ich möchte jeden Tag zu Manuel und wenn er so weit weg ist, geht das natürlich nicht.“ Elena dachte nach und es kullerten dabei jede Menge Tränen über ihre Wangen. Belinda sehr lange kein Wort. Sie hielt nur Elenas Hand und streichelte sie liebevoll. „Also gut, lassen wir eben alles so, wie es ist. Ich habe auch nicht wirklich die Kraft, alles neu zu planen. Und ich habe schon gar keine Kraft, um große Diskussionen zu führen. Es würde vermutlich auch länger dauern, bis ich hier alles organisiert hätte. Ich möchte diesen schlimmen Tag so schnell wie möglich hinter mich bringen. Außerdem fühle ich mich Manuel sowieso nirgendwo so nahe wie hier im Haus. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass er direkt neben mir steht.“
Elena sah Belinda fest in die Augen und überlegte kurz, ob sie etwas von der Gestalt sagen sollte. Aber sie wollte nicht, dass Belinda auf die Idee kam, dass sie zu fantasieren begann. Elena hatte ja selbst ein Problem damit, zu glauben, was sie gesehen hatte. Oder hatte sie die Gestalt nicht wirklich gesehen? Verflixt! Wie sollte ihr dann jemand anderes glauben können? Belinda war eine bodenständige, realistische und weltgewandte Frau. Die glaubte sicher nicht an Geister und Co.
Alles war ruhig. Die Kinder schliefen schon, Belinda musste ganz plötzlich wegen eines dringenden Notfalls ins Krankenhaus und Elena saß gedankenverloren auf dem Sofa. Sie versuchte nicht daran zu denken, aber sie konnte nicht anders. Sie wünschte sich so sehr, dass Manuel – die Gestalt – wieder auftauchen würde. Auch wenn sie Angst hatte, sich danach wieder vollkommen verwirrt und verrückt zu fühlen, wünschte sie es sich doch sehnlichst. Es war so ein wunderschönes Gefühl gewesen, Manuel zu sehen. Sie presste beide Hände vor die Augen und ermahnte sich, die Fassung zu bewahren. Ich habe zwei wunderbare Kinder, die mich brauchen. Sie brauchen eine Mutter, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht, sie beschützt, tröstet und ihnen auf ihrem Weg ins Leben zur Seite steht. Ich kann es mir nicht leisten, mich in eine Fantasiewelt zu flüchten, versuchte sie vernünftig zu denken. Dann setzte sie sich aufrecht hin mit dem festen Willen, für ihre Kinder stark zu sein, und erstarrte mitten in der Bewegung. Auf der Terrasse stand die Gestalt – Manuel, ganz eindeutig Manuel – und schaute mit einem Lächeln zu ihr. Nach der ersten Schrecksekunde wollte Elena aufstehen und in Richtung Terrassentür laufen. Manuel schüttelte den Kopf. Also setzte sie sich wieder hin, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen. Sie wollte auf gar keinen Fall etwas tun, womit sie Manuel wieder verscheuchen würde.
Sie sahen sich sehr lange an – beide ließen den anderen nicht aus den Augen. Sie bewegten sich nicht – Elena traute sich nicht einmal, richtig mit den Augen zu zwinkern. Sie taten ihr von dem Starren schon richtig weh. Dann setzte sich die Gestalt in Bewegung, schickte ihr einen Luftkuss, hob den rechten Arm und machte eine Geste, die so viel wie „Bleib“ heißen sollte.
Elenas Herz raste – es drohte aus dem Brustkorb zu springen. Sie hyperventilierte und hatte mit Atemnot zu kämpfen. Irgendwann – wie lange sie so erstarrt dagesessen hatte, hätte sie im Nachhinein nicht sagen können – erhob sie sich vom Sofa, lief zur Terrassentür und schob sie auf. Sie hatte so zittrige Beine, dass sie das Gefühl hatte, jeden Moment zu kollabieren. Nichts, es war nichts zu sehen. War das wirklich nur Einbildung? Nein, sie fühlte sich glücklich, aber ihr Verstand flüsterte ihr unbarmherzig ins Ohr, dass es keine Geister gebe. „Du bildest dir das nur ein!“ Verstand und Gefühl führten einen unerbittlichen Kampf und sie wollte so sehr, dass das Gefühl sie nicht täuschte. Ich hab ihn doch gesehen – ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen, so wie ich jetzt die Palme auf der Terrasse erkenne. Genauso deutlich und klar habe ich Manuel gesehen. Verdammt, ich bilde mir das nicht nur ein.