Kitabı oku: «Hann Klüth: Roman», sayfa 10
Bei dem Worte »Abschied« bemerkte Hann, wie Klara zusammenfuhr. Sie wandte den Kopf nach ihm. Ihre braunen Augen suchten offen die seinen. Und feucht und immer feuchter begannen sie zu schimmern, bis eine helle Träne hervorperlte. Die glänzte wie ein Leuchtkäferchen in dem Feuerschein. Ohne Scham ließ sie sie zur Erde fallen und griff dann lächelnd nach dem Grogglase.
»Worüber weinst du denn, mein süßes Kinding?« fragte oll Kusemann lauernd. »Er geht ja erst zum April.«
Da überzog wieder ein froher Schimmer das blühende Gesicht, sie trank und lächelte vor sich hin und meinte dann leichthin: »Was geht das mich auch an? – Zum April werde ich Krankenschwester.«
So plauderten und lachten die vier Menschen in der räucherigen Küche noch eine kleine Weile und tranken dazu. Der Lotse rückte enger an die kleine Rosa heran, legte den Arm um sie und sang:
»Gib ein Küßchen, rotes Röschen —
setz dich zu mir auf mein Schößchen.«
Da lachte der Rotkopf und sagte sehr einfach: »Du Affe,« was oll Kusemann seinerseits wieder für Erlaubnis genug hielt, ihren roten Kopf in die Hand zu nehmen und seine wulstigen Lippen darauf zu drücken.
»Ja, wenn mein Alwining mal selig werden würd', wer weiß, was denn alles passierte. Aber noch is sie sehr gesund.«
Das Feuer auf dem Herd begann zu verlöschen. Da besannen sich die Schwestern darauf, daß sie heimkehren müßten. Zwar sträubten sie sich erst dagegen, daß Hann sowie der Lotse ihnen den umfangreichen Kessel tragen helfen wollten, aber als der Bursche, das schwere Metall unter dem Arm, wortlos in den Schneesturm hinaustrat, folgten ihm alle.
Jedes laute Wort erstarb vor der Wucht der anstäubenden Schneemassen. Tief versanken die Wanderer in den weichen, weißen Teppich, und gegen ihre Köpfe schleuderte die Windsbraut spitze, feste Körner. Hann und Klara trugen jetzt den Kessel gemeinschaftlich. Von den beiden Vorauftappenden gewahrten sie nur die dunklen Umrisse. Und schon waren sie bis in das Inner-Dorf gelangt, als Hann in der schneidenden Stille ein Wort fand: »Klara, nimm mir's nicht übel. Warum wirst du Krankenschwester?«
Nichts von ihren Zügen konnte er in der Dunkelheit erkennen, er hörte nur ihr flatterndes Kopftuch und die wirbelnden Röcke.
Sie atmete auf. Wohl wegen der andringenden Luft.
»Hann, ich weiß auch nicht. Aber man muß doch was haben, worum man sich kümmern kann.«
Da nickte Hann.
»Das is richtig, Klara, das liegt in manchem von uns tief drin. – Na, gute Nacht.«
Sie waren vor dem flachen Lehrerhäuschen angekommen.
Durch die Schwärze fiel von fernher ein Strahl des roten, drehbaren Leuchtturmlichtes und ließ auf den vereisten Mauern tausend zuckende Rubinen aufblitzen.
Auch Klaras Kopf trat einen Moment blendend und blutrot beleuchtet aus der Nacht hervor.
Hann erschrak.
Doch im nächsten Augenblick bot ihm seine Begleiterin, schon wieder in Finsternis gehüllt, die Hand.
»Gute Nacht, Hann, und viel Glück für übermorgen bei der Gestellung!« tönte ihre ruhige Stimme.
»Oh – es kommt alles so – als es soll, Klara,« gab er zurück.
Eine kleine Weile standen beide Hand in Hand. Dann tauchten zwei Schatten auf.
»Nu fixing, Kinnings,« trieb der hinzutretende Lotse und trennte sie.
VIII
Es war früh am Sonntag morgen, als Bruno mit der Bitte zu Fräulein Dewitz ins Zimmer trat, ob Line ihn nicht zu einem Besuch bei den Eltern in Moorluke begleiten dürfe. Sein Bruder Paul, an den er ebenfalls gedacht, wäre in der Kirche.
»Ja, ja,« schob Fräulein Dewitz beifällig dazwischen, »den Gottesdienst versäumt Ihr Herr Bruder nie.«
Und unten vor dem Hause, berichtete der junge Kaufmann weiter, warte bereits des Konsuls Schlitten, den ihm sein Chef, damit sich die Pferde einmal auslaufen könnten, zur Verfügung gestellt.
Im selben Augenblick hörte man wie zur Bekräftigung lautes Schellengeläute.
Line stand wie erstarrt.
Die Hände preßte sie gegen ihre Brust, wie wenn sie sich selbst zurückhalten, bezähmen wolle, damit sie dem hübschen, frischen Menschen nicht um den Hals falle.
In einem Schlitten – aus der Stadt heraus – entzogen der ewigen Obhut der Lehrerin, sich austummeln können, und zwar mit ihm, den sie so gern hatte!
Oh, vergessen, wie weggeweht war die Vernachlässigung, die er ihr so lange hatte angedeihen lassen – und wenn es auch nur ein Tag war – ein einziger – nur einmal fort aus dieser Unterordnung und Verstellung.
Unter ihrem hübschen, blauen Kleide klopfte ihr das Herz vor Aufregung. Abwechselnd rot und blaß erwartete sie die Entscheidung ihrer Herrin. Wenn die nun »nein« sagte? —
Fräulein Dewitz hatte inzwischen nachgerechnet. Aber sie vermochte trotz aller Regeln des kleinstädtischen Anstandes keinen Grund zur Weigerung zu finden. Es handelte sich ja am letzten Ende um Bruder und Schwester, und der Ausflug währte nur wenige Stunden, führte zudem in das Elternhaus, und vor allen Dingen: der Schlitten war extra von dem Konsul gestellt. Das entschied.
Einen Moment schoß es ihr zwar noch durch den Kopf, warum der wohlerzogene junge Mann nicht auch sie selbst zu dieser Fahrt invitiere, aber dann kam ihr der schmeichelhafte Gedanke, daß er wohl nur nicht wage, sie, das Fräulein Dewitz, in sein Elternhaus zu führen.
»Schön – schön.«
Mit gutmütigem Kopfnicken erteilte sie die Erlaubnis, reichte dem galanten jungen Herrn würdevoll die Finger zum Handkuß, freute sich an seiner tiefen Verbeugung, und nachdem sie ihn noch gebeten, ja nicht ihre Grüße an seine Mutter zu vergessen, schärfte sie ihm besonders ein, daß Line punkt neun Uhr zu Hause sein müßte.
»Nicht später – nicht wahr, Sie verstehen mich, mein lieber Herr Klüth?«
»Gewiß, vollkommen, gnädiges Fräulein.«
* * *
So saßen denn die Geschwister, dicht nebeneinander, wohlverpackt in dem leichten, eleganten Schlitten.
Strahlender Sonnenschein, blauer, heller Frost war dem Unwetter von gestern gefolgt.
Die beiden Rappen wieherten laut in die leuchtende Weiße hinein, pfeilschnell, schnurgerade schoß der Schlitten über die funkelnde Bahn der Chaussee, die auf einem Umweg über das Klosterdorf führte.
Da fiel es Bruno, über dem gleichfalls die ganze Glückseligkeit dieses Wintertages lag, auf, daß seine Begleiterin so mäuschenstill neben ihm verharre.
Verwundert blickte er auf sie hin.
Das war doch seltsam. Da saß sie, als wenn sie ihn, den Kutscher, den Schlitten, die beiden schnaubenden Rosse, alles Leben überhaupt ganz vergessen hätte. Den Kopf hielt sie vorgebeugt, die Lippen waren leicht geöffnet, als schlürfe sie die pfeifende Luft wonnetrunken ein, die Augen blitzten immer geradeaus auf die glitzernde Strecke, starr, erwartungsvoll, ein unerhörtes Wunder heischend.
Bruno wurde von dem Bild gefangen. Was konnte das bedeuten?
Er wußte nicht, daß diese sieben Jahre der Knechtschaft plötzlich von ihr abfielen, daß hier auf den stillen, freien Feldern ein freigewordenes, sich auf sich selbst besinnendes Weib neben ihm sitze.
»Line,« murmelte er erstaunt, da ihr Schweigen ihn immer mehr befremdete.
Da lächelte sie beinah unwillig und schüttelte den Kopf, wie wenn der Traum noch weiter klingen solle.
Seltsam.
Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, und dabei fiel ihm ein, daß dieses schlanke, so ganz eigenartige Geschöpf viele Jahre aus seinen Gedanken entschwunden gewesen, verdrängt von den sich jagenden Eindrücken der großen Stadt.
Was mochte wohl aus ihr geworden sein?
Er hatte sich nicht einmal Mühe gegeben, sich danach bei seinem älteren Bruder zu erkundigen. Allerdings, so sagte er sich, wie konnte sie sich auch sonderlich entwickelt haben? In ihrer abhängigen, fast dienenden Stellung bei einer alten Handarbeitslehrerin? Nein!
Aber elegant sah sie aus. Sehr vornehm. Und das schmeichelte seinem auf das Äußerliche stark gerichteten Sinn.
Wie voll und dabei doch schlank sie dies graue, weiche Pelzjäckchen erscheinen ließ.
Vorsichtig prüfend strichen seine behandschuhten Finger an dem Rauchwerke hinunter und fuhren zurück, als sie den runden, festen Frauenarm spürten.
Seine Nachbarin sah ihn im selben Moment an. Ein rascher Blick streifte sein Gesicht, dann rückte sie näher zu ihm und schaute wieder zu ihm auf.
Bruno stutzte.
Ihre roten Lippen schienen ihn verspotten zu wollen. Im nächsten Augenblick aber brauste plötzlich der ganze glückselige Rausch der Jugend in ihm empor.
Alle Bedenken, daß dies seine Pflegeschwester wäre, die sich ihm anvertraut, übersprang er.
Zuversichtlich zwirbelte er sich den Schnurrbart und legte, wie zufällig, seinen Arm um ihre Schultern.
»Nein,« sagte sie spöttisch und schob kräftig seine Hand zurück.
Das brachte Bruno zur Besinnung. Siedendheiß stieg es ihm in die Schläfe. Zur rechten Zeit fiel ihm ein, was er eben beinahe gewagt, und wie seltsam sich die Kleine dabei benommen hätte. Abwehrend, und doch —
Mein Gott, was mochte sich nur hinter dieser weißen, von schwarzen Haaren umringten Stirn abspielen?
Da schreckte sie ihn von neuem auf.
»Hast du Geld?«
»Ja, wozu?«
»Sieh – den Leierkastenmann da auf dem Prellstein – mit dem Stelzfuß – gib was.«
Er schüttelte sein Portemonnaie über ihrem Schoß aus.
Es waren lauter Talerstücke darin.
»Schenkst du mir was davon?« flüsterte sie in höchster Eile.
Er vermochte nur noch ein »Ja« zu stammeln.
Da hatte sie auch schon mit einem erstickten Jauchzen drei, vier der Münzen in den Händen, schüttelte sie, ließ sie klingen, und plötzlich hochaufgerichtet, schleuderte sie mit einer kräftigen Bewegung ein Silberstück nach dem Veteranen hin.
Die Leier kreischte auf.
»Danke,« scholl es herüber.
Und noch eins – und noch eins.
Der Stelzfuß schwenkte seine Mütze. – »Hurra,« verklang es.
»Ah – das war schön – das war schön!« sank Line in ihren Sitz zurück.
»Line,« stotterte Bruno. Aber seine Augen blitzten, die wilde Tollheit des Mädchens hatte ihn angesteckt. Krampfhaft drückte er ihr beide Hände unter der Decke.
»Ah – das war schön – das war schön,« wiederholte sie wie berauscht und schloß die Augen. Gleich darauf entzog sie ihm hastig ihre Finger. »Laß das,« verbot sie ihm herb, und zwischen ihren Augenbrauen erschien eine Falte. »Wozu soll das?«
Da hielt der Schlitten.
Mehrere Gefährte, die auf der Landstraße vor einem schmucken Krug hielten, sperrten den Weg.
»Wollen wir auch einen Augenblick da hinein, Kleine?« fragte Bruno, wie wenn er sich auf andere Gedanken bringen wollte, »denn Vater Siebenbrod wird uns doch gewiß vor dem Mittag nichts Warmes vorsetzen,« und als Line erfreut mit einem Ruck hochsprang, half er ihr aus dem Gefährt herab.
Er nahm noch wahr, wie fein und schmal ihr Fuß sei, als sie die Röcke ein wenig schürzte.
»Ein prachtvolles Mädel,« dachte er, »um einen toll zu machen. Aber sachte, sachte.«
Bald saßen sie in dem Krugzimmer an einem Tisch am Fenster.
Es war ein kahler, lichtblauer Raum. Nicht ein Bild hing an den Wänden, nur im Sonnenschein konnte man eine Herde Winterfliegen bemerken, die unbeweglich ihren langen Schlaf hielten.
Aus der Ecke feuerte ein eiserner Ofen rotglühende Hitze. Aus dem Nebensaal drang das Gemurmel zechender Menschen.
Erst schauten die beiden schweigend eine Weile auf die schneeweiße Landstraße hinaus, wo ihre Schlittenpferde unter den Decken dampften, dann brachte eine halbwüchsige Wirtstochter Glühwein, und die beiden jungen Leute stießen miteinander an. Sie blickten sich dabei in die Augen, der junge Mann herausfordernd, als ob er auf des jungen Mädchens Gesundheit tränke, was sie nur schnippisch und mit einem Achselzucken aufnahm. Wohlig strömte das heiße Getränk ihnen durch die Glieder. Line reckte sich, ihre Wangen, auf denen im Sonnenlicht ein feiner Flaum zitterte, färbten sich dunkler. Mit einer raschen Bewegung zog sie den Handschuh von der einen Hand und klatschte ihrem Begleiter damit leicht auf die Finger.
»Du,« forderte sie, indem sie sich ein wenig über den Tisch bog, »eh' es langweilig wird, erzähl' was. Von dir.«
»Von mir?«
»Ja, weißt du noch, wie wir damals, bevor du zu Hollander gingst, zusammen auf der Mauer im Hain saßen, und was du mir da alles erzähltest? Sag' mal, ist davon schon etwas in Erfüllung gegangen? – Hast du Hoffnung, bald reich zu werden?«
Bruno warf sich in die Brust und drehte überlegen an seinen goldenen Ringen.
»Ich habe vorläufig viertausend Mark Gehalt,« warf er stolz hin, während er sich unternehmend durch sein Gelock fuhr.
»Das ist nicht viel,« äußerte sie bestimmt.
Er wurde eifrig.
»Aber in wenig Wochen schon werd' ich Prokurist.«
»Bekommst du dann mehr?«
»Viel mehr.«
»Gut – das ist recht – und dann – « sie lehnte sich hintenüber, hielt ihren Kopf mit beiden Händen und blinzelte ihn spöttisch an, »dann heiratest du Dina Hollander.«
Bestürzt fuhr er zurück, glühend rot vor Ärger darüber, weil ihn dieses merkwürdige Wesen durchschauen wollte, und daneben schmeichelte es ihm doch nicht wenig, daß sein Name mit dem der Konsulstochter überhaupt in eine Verbindung gebracht werden konnte.
»Woher willst du das wissen?« fragte er nichtsdestoweniger von oben herab »Das werde ich doch nicht jedem auf die Nase binden!«
Sie maß ihn mit einem halb mitleidigen Lächeln.
»Du glaubst doch wohl nicht, Bruno, daß man dir das damals bei Hollanders nicht anmerken konnte? Dann, laß dir sagen, ich habe es auf den ersten Blick gesehen!«
»Du?«
»Ich – jawohl.«
»Donnerwetter,« entfuhr es ihm unwillkürlich, und er starrte auf die schwarze, kleine Hexe ganz fassungslos, die sich bedächtig auf ihrem Stuhl schaukelte, heimlich sich an seiner Verblüffung weidend.
Herrgott, Herrgott, was war nur aus ihr geworden.
»Mädel, wie alt bist du denn eigentlich?« stammelte er zuletzt.
»Einundzwanzig.«
»Dein Wohlsein,« fuhr sie fort, indem sie, wie im Hohn, das Glas gegen ihn hob und ihn durch die scharfgeschliffenen Ränder mit einem zugekniffenen Auge anblinzelte. »Ah, das macht warm.«
Damit dehnte sie ihre Glieder, erhob sich und schritt ein paarmal mit ihrem leicht wiegenden Gang im Zimmer umher.
Immer gefolgt von seinen Blicken, die sich an ihren Bewegungen entzündeten.
»Ein schönes – schönes Mädel,« dachte er wieder. —
Plötzlich klingelte Musik durch seine Gedanken. Klirrend und klimpernd begann der Musikautomat aus der Ecke eine Melodie abzuschnurren.
Mit vorgebeugtem Leib, den Kopf nach ihrem Gefährten gewendet und den Finger leicht gegen die roten Lippen gelehnt, während die andere Hand noch an der Öffnung weilte, durch die sie eben die kleine Münze geschoben, so sah Bruno das zierliche Mädchen lauschen.
»Line.«
»Pst – der Faustwalzer.«
Mit einer raschen Gebärde schürzte sie den Rock und machte ein paar Tanzschritte. Er sah die reizenden kleinen Füße sich drehen, da hielt er sich nicht länger. Mit einem lauten Freudenruf eilte er auf sie zu, wollte ihr als Tänzer seinen Arm um ihre Hüfte schlingen, – allein da stockte sie, wurzelte unbeweglich fest und schickte einen finsteren Blick zu ihm empor. »Du,« sprach sie scharf, »ich verbat mir das schon einmal.«
Und da steckte auch schon Friedrich, der Kutscher, seinen Kopf in die Stube hinein.
»Na?« fragte er wartend.
»Jawohl, wir kommen,« versetzte Line, und ihrem Begleiter die Bezahlung überlassend, schritt sie aufgerichtet auf die Landstraße hinaus, ohne auch nur den Kopf nach dem Verlassenen zurückzuwenden.
IX
Das war ein langweiliges, hinschleichendes Mittagbrot, das da in der großen guten Stube des Lotsenhäuschens eingenommen wurde, und die beiden Kinder, Bruno und Line, atmeten heimlich auf, als Mudding endlich sagte: »So, Siebenbrod, jetzt sagst du wohl gesegnete Mahlzeit.«
Das tat der Zesnerfischer auch mit merklicher Erleichterung, denn diese beiden feingekleideten Menschen waren ihm so unbehaglich, als irgend möglich. Vor allen Dingen, weil er sich genierte, vor ihnen zu essen, so daß er auch heute im stillen einen gewaltigen Hunger spürte.
»Na, sie werden woll so bald nich wiederkommen,« dachte er.
Auch Mudding, die sich doch im Herzen so sehr über ihren Heimgekehrten freute, sprach niemals viel, und heute wurde ihr Geist noch besonders oft durch die Frage abgelenkt, ob auch alles, was ihr Bruno von sich mitgeteilt, recht und billig wäre, und ob sich seine kühnen Hoffnungen wohl erfüllen könnten.
»Ach lieber Gott – laß mich das noch erleben,« dachte sie innerlich und faltete wie von ungefähr die Hände, obwohl sich in ihrem unbewegten Gesicht nichts regte. So hatte am Tisch eine steife Gezwungenheit geherrscht, denn Hann in seinem blauen Sonntagswams vermochte gleichfalls nur, seinen Geschwistern von Zeit zu Zeit die Schüssel zu reichen, oder die Bierflaschen zu entkorken, die Siebenbrod heute extra »spendiert« hatte. In ihre Gespräche jedoch, die sie ausschließlich für sich allein führten, wagte er sich nicht zu mischen. Da klang ihm ein zu fremder, zu hoher Ton hindurch, und so saß er nachdenklich da und überlegte, wie gut die beiden zueinander paßten.
Ja, das waren frohe, lebendige Leute; die kamen in der feinen Welt zurecht, und über Bruno lachte auch Line nicht, wie stets über Hann.
Das wenigstens hatte er gleich gemerkt.
Ja, ja, so war das wohl auch alles recht gut.
Nach Tisch machte Line den Vorschlag, ein bißchen im Dorf herumzuwandern. Und als Bruno, ganz erlöst, beigepflichtet hatte, schloß sich auch Hann an.
Er hatte kaum bemerkt, daß gar keine Aufforderung dazu an ihn ergangen war.
Draußen war es noch hell.
Vom Kirchturm schlug es gerade drei, als sie sich nebeneinander auf den Weg machten.
Nichts gleicht der Feiertagsruhe eines Ostseedorfes um die Winterzeit, wenn die Sonne im blauen Luftmeer bereits blasser wird, und der Wind auf den silberblitzenden, niedrigen Dächern eingeschlafen scheint. Eine wohlige Ruhe und Stille überall. – Man hört die Schneeflocke fallen, die sich zuweilen von einer vorspringenden Schindel löst.
Als die drei in die einzige Gasse einbogen, die auf beiden Seiten von kleinen Fischerkaten besetzt ist und, lang verlaufend, bis zum Kirchhof führt, berührte Hann den Arm seines Bruders.
»Hör',« fragte er wichtig, »willst du vielleicht Vatings Grab sehen?«
Dar war doch nun wieder ein ganz dummer Einfall des Tölpels. Verstimmt blieb Bruno stehen und blickte voll Verlegenheit zu Line hinüber, die Hann mit ganz erschrockenen Augen maß: – Jetzt – an diesem einzigen freien Nachmittag unter Grabkreuzen?
Aber da fragte der junge Kaufmann bereits, ob der Kirchhof nicht doch zu dick verschneit sei, und Hann lenkte sofort schwerfällig nickend ein: »Ja, ja mit euren Stiefeln ist da wohl nicht durchzukommen – wollen's lieber lassen.«
Line atmete tief auf, sah aber doch noch öfter furchtsam auf den Friedhof hin. Weiter schritten sie, aber für die nächsten Minuten war doch die Stimmung gestört. Sie unterbrachen das Schweigen erst wieder, als unvermutet zweistimmiger Gesang auftönte, und jetzt erkannten die Spaziergänger auch, wie vor der Dorfschule zwei junge Mädchen auf und nieder wanderten, beide Arm in Arm, und eifrig, wenn auch mit halber Stimme, singend.
»Das tun sie hier öfters Sonntags nachmittags,« erklärte Hann.
Noch kehrten die beiden Frauengestalten den Ankömmlingen den Rücken, doch unterschied man bereits deutlich den Text des Liedes, der nicht gerade aufheiternd und munter klang:
»Morgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod?
Bald wird die Trompete blasen,
Dann ich muß mein Leben lassen,
Ich und mancher Kamerad.«
»Ja,« sagte Hann sehr befriedigt, nachdem er andächtig gelauscht hatte, »Klara und Rosa Toll haben hier die schönsten Stimmen. Wenn sie im Kirchenchor singen, dann geh' ich jedesmal hin.«
Und in seinem inneren Vergnügen nickte er noch ein paarmal bekräftigend und übersah dabei, wie Line ihren Begleiter mit dem Ellbogen in die Seite stieß, und als der sie verwundert anblickte, wie sie mit den Augen heimlich nach dem größeren der beiden Mädchen hinüberzwinkerte.
Da mußte Bruno auflachen.
Nun begrüßte man sich gegenseitig, die Schulmeisterstöchter knicksten vor den feinen Städtern, und Line klopfte der schönen Klara Toll so mütterlich die Wange, daß die also Behandelte, die ein wenig größer als Line war, verlegen ihren Blick auf den Boden lenkte.
Darauf erkundigte sich Bruno, warum die Mädchen ein so trauriges Soldatenlied gesungen, und während die Ältere nicht mit der Sprache herauswollte, und nur ein tiefes Rot langsam in ihre Wangen stieg, begann der Rotkopf ungeniert zu plaudern: Hann Klüth hätte ihnen gestern abend davon erzählt, daß er sich morgen in der Stadt zum Militär stellen müsse, und nun hätten die beiden Schwestern gerade davon gesprochen, und mit einmal hätte Klara angefangen, das Lied zu singen. Sie aber wäre nur so zur Begleitung eingefallen.
»O – nicht doch,« stammelte Hann und machte eine Bewegung, als wolle er nach der Hand der Größeren greifen, besann sich jedoch und steckte seine Rechte plump in die Tasche.
Da schlug vom Kirchturm die Uhr, und die beiden Parteien trennten sich.
Die Sperlinge, die auf der Dorfstraße und auf den Ästen der weißen Pappeln saßen, schrien matter, der Schnee begann sich blauviolett zu färben.
»Sieh,« sagte Line zu Bruno, da sie auf die öden, knackenden Wiesen traten, die sich bis an die zugefrorene See hinabgezogen. »Da drüben.«
Da glühte im roten Licht die Klosterruine, die für die beiden jungen Menschen so viele Erinnerungen barg, herüber, von ihren Schneemassen rann purpurnes Feuer herab, wie ein ungeheurer, weißer Korallenwald standen die kahlen Eichengerippe um das Mauerwerk herum.
»Da,« sprach Line noch einmal und sah ihren Gefährten von damals mit einem flüchtigen Blicke an.
Bruno stutzte.
Plötzlich begann ihm das Herz wild zu klopfen, die Erinnerung stieg in ihm auf. Jetzt, ja jetzt hätte er die lockende Gestalt in dem grauen Pelzjackett wild an sein Herz gerissen, wenn – ja, wenn nicht dieser störende Tölpel neben ihnen gestanden, der sie beide immer so nachdenklich betrachtete.
Aus der eben verlassenen Dorfstraße trug dazu der Wind eine neue Liedstrophe herüber. Die beiden Lehrerstöchter fuhren wohl in ihrem stillen Sonntagsvergnügen fort:
»Kaum gedacht,
Ward der Lust ein End' gemacht.
Gestern noch auf stolzen Rossen,
Heute durch die Brust geschossen,
Morgen in das kühle Grab!«
– —
»Pst! Für'n Sechser Ruhe!« rief eine heisere Stimme ärgerlich dazwischen.
Aus seiner bretternen Wachthütte, die eigentlich eine Badezelle gewesen, streckte oll Kusemann seinen geölten und frisierten Kopf heraus und legte noch den Finger an die Lippen, um auch pantomimisch anzudeuten, daß er einer Beschäftigung obliege, bei der er keine Störung vertragen könne.
»Oll Kusemann, was machst du hier am Sonntag? Und noch dazu, wo der Bodden zugefroren is und gar kein Schiff in Sicht kommen kann?« fragte Hann nähertretend und steckte seinen Kopf in den engen Spalt der Tür, die oll Kusemann ihm eben brummig vor der Nase zuschlagen wollte. »Und wozu hast du die beiden Flintens da in der Ecke?«
»I, die beöl' ich mir 'n bischen,« brummte der Lotse ausweichend und beäugelte mit seinem schiefen Blick die beiden Städter. »Für die Dinger is Öl dasselbe, was für uns Lebendige Rotspohn is.«
»Oll Kusemann,« fuhr Hann strafend fort, »auf Ludwigsburg drüben ist Jagd, und du lauerst hier bloß darauf, daß sich über das Eis fort wieder was zu dir verlaufen soll. Hast du nicht vorigen Monat erst deswegen vor Gericht gestanden?«
»Ja, aber ich bin freigesprochen,« triumphierte oll Kusemann, indem er sich schmunzelnd seinen spitzen Kinnbart strich, »und der Präsident hat mir noch eine Zigarre dafür geschenkt, weil ich so'n oller nützlicher Mitbürger wär', der die fatalen Seehunde hier wegputzt.«
Aber ehe sich noch ein anderer in das Gespräch mischen konnte, winkte der Lotse plötzlich lebhaft mit Händen und Beinen ab, sprang in die Ecke, ergriff eine der Flinten, pflanzte sich in die Türöffnung und starrte aufgeregt über das Eis des Boddens.
Über die graue Fläche fuhr im rasenden Lauf ein schwarzer Punkt.
»Das ist doch kein Seehund?« rief Hann zornig und wollte nach dem Lauf der Büchse greifen, aber der Lotse schüttelte verächtlich den Kopf: »Was sonst? – Das is einer, wie er leibt und lebt!«
Nun kam die Jagdlust über die kleine Schar. Immer gespannter verfolgten sie den sich nähernden Farbenfleck.
»Jetzt,« murmelte der Lotse und hob das Gewehr.
Da schwankte zu seiner Verwunderung ein zweiter Lauf neben dem seinen.
Line war unvermutet in die Hütte gesprungen, riß jetzt die Waffe an ihre Wange und stammelte mit blitzenden Augen: »Ich auch, ich auch.«
»Kannst du denn zielen?« stieß Bruno hervor.
»Weiß nicht.«
»Dann laß mich visieren, – so.«
Er beugte seinen Kopf dicht hinter ihren Nacken und stützte mit der linken Hand den Kolben. Ohne daß sie darauf zu achten schien, lehnte sie so voll in seinen Armen, daß sein Mund, wenn er es gewagt hätte, die Haut ihres Nackens hätte berühren können.
Oll Kusemann schmunzelte: »Wer trifft, kriegt von dem schönen Fräulein ein Küssing. – Ich treffe, bautz.«
Der Schnee stäubte auf, der Farbenfleck fuhr seitwärts; »kuck«, brummte der Lotse verblüfft und schob sich die Mütze in den Nacken.
Da krachte der zweite Schuß.
»Liegt – liegt,« schrien plötzlich Hann und oll Kusemann gleich zwei Besessenen, und im Wettlauf stürmten sie auf die beschneite Fläche, weil jeder den toten »Seehund« für seine Partei zu requirieren gedachte.
In der Hütte blieben die beiden Sieger allein. Bruno faßte sich an die hämmernde Schläfe. Ob er sich jetzt seinen Schützenlohn holte? Sachte, indem er glaubte, Line bemerke es nicht, zog er die Tür hinter sich zu, so daß das Rotlicht der scheidenden Wintersonne nur noch durch das kleine Guckfenster fallen konnte. Dann zögerte er wieder – einen Schritt kaum von ihm getrennt, stellte das Mädchen ihr Gewehr in die Ecke. Deutlich sah er die schöne Rundung ihrer Glieder, als sie sich bückte. Da kam seine kecke Wagelaune über ihn. Tausend Nerven prickelten ihm in den Armen, kaum wußte er noch, was er tat; tief aufatmend drängte er sich an ihre Seite.
Doch dieser Atemzug verriet ihn. Kräftig raffte sie sich auf und sah ihn groß an. »Weshalb hast du die Tür geschlossen?« fragte sie rauh.
Er schüttelte den Kopf und blieb wirr und unentschlossen vor ihr stehen.
Mit dem Fuß stieß sie die Tür auf.
»Ich hab's nicht gern im Dunkeln,« sagte sie mit einem feindseligen Blick, und wieder schoß ihr der Gedanke an Dina widerwärtig durch den Kopf; dann lachte sie kurz und trocken auf: »Da bringen sie den Seehund.«
Sehr demütig und kleinlaut schlich oll Kusemann heran, obwohl er seinem ungelenken Gefährten bei der Ergreifung des Seeungeheuers zuvorgekommen war. Aus seinem Wams guckte ein langohriges Köpfchen heraus.
»Verfluchtet Pech,« wimmerte er, »'s richtig wieder ein Hase. Da kann man nun die besten Absichten haben, die allerreellsten, aber gegen Mallöhr is nich aufzukommen. Na adjüssing.«
So schlich er mit dem unwillkommenen Braten betrübt seinem Häuschen zu, ehrwürdig, als »oller nützlicher Mitbürger.«
* * *
In tiefer Dunkelheit fuhren Line und Bruno in einem geschlossenen Schlittenkasten heim, den man sich erst vom Krugwirt hatte borgen müssen, da ihr eigenes Gefährt auf Wunsch des Konsuls noch bei Tageshelle den Heimweg angetreten.
So hockte denn Hann, der sich willig dazu erboten, in seinem zottigen Schifferpelz auf dem Bock und schwang die Peitsche. Von drinnen hörte er undeutlich die Stimmen seiner Passagiere, doch er wendete sich nicht um: »Nich horchen,« dachte er, »das paßt sich nich.«
Aber was er sich selbst nicht verbieten konnte, das waren seine Gedanken, die immer wieder zu seinen Mitfahrenden in den klappernden Schlitten hineinstiegen.
»Passen gut zusammen,« dachte er. »Was kann er gut mit Reden fort und sie – so hübsch, und gewachsen wie so'n schieres, glattes Füllen – ja, ja, man möcht' ordentlich eins überstreichen.«
Hier stockte er, erschrak und schämte sich.
Ach, es war ja das Unglück dieses nachdenklichen Bauern, daß ein schlichter, tiefer Schönheitssinn in ihm lebte, und daß er dieses junge, blühende Mädchen da drinnen von seiner Jugend an als das Übermaß weiblicher Vollendung zu verehren gewohnt war.
»Und wie sie sich in den Hüften dreht,« dachte er bewundernd weiter.
»Hüh,« schrie er wütend dazwischen. Aber im nächsten Moment kehrten seine Gedanken in Wasserstiefeln schon wieder zurück. »Ob Bruno ihr aber auch gut is? Ja, ja, das ist 'ne verfluchte Geschichte, und ob er es auch ganz treu und ehrlich meint?«
»Hüh,« schrie er wieder, und der Schlitten klingelte weiter durch Dunkelheit und Mondschein.
– —
Drinnen sprach derweil die schwarzbraune Hexe ihren Zauberspruch.
Es klapperten die Scheiben, es quietschten die Lederhüllen und ließen die kalte Luft fast ungehindert herein. Line hauchte ein paarmal vor sich hin, um im vorüberhuschenden Mondlicht ihren Atem dampfen zu sehen, dann fröstelte sie zusammen, bis sie sich endlich, Wärme suchend, in sich selbst einkauerte, ohne bemerken zu wollen, wie ihr Gefährte fast atemlos neben ihr saß, betört und bezaubert von dieser widerspenstigen Schönheit. Mit Gewalt suchte er sich von seinen schlechten Gedanken abzubringen.
»Bist du müde?« fragte er.
»Ja.«
Er berührte zaghaft ihren Arm.
Ärgerlich zuckte sie den Ellbogen zur Höhe: »Was willst du?«
»Ich wollte dich nur einmal fragen, was du eigentlich in diesen sieben Jahren getrieben hast? – Es interessiert mich so.«
»Gott, gelernt und gelesen hab' ich, das merkst du doch wohl, und tu's auch heute noch.«
»Und zu welchem Zweck?«
»Wie du auch fragst?« lachte sie und warf die Lippen auf. »Damit ich in die Höhe kommen kann. Das ist doch selbstverständlich. Paß mal auf, so wie dir, wird's mir auch glücken. Ich bin ja nicht häßlich.«
»Nein, bei Gott, das ist sie nicht,« schoß es Bruno durch die erregten Sinne, nur wild, widerspenstig und berechnend, wie es ihm scheinen wollte, und sich näher zu ihr vorbeugend, drängte er weiter: »Willst du denn irgendeinen Beruf ergreifen?« Da traf ihn schon wieder solch ein feindseliger Blick.
»Wenn ich nicht durch eine Heirat mein Glück mache, dann gewiß. Bei Fräulein Dewitz bleibe ich nicht länger. Das kann mir keiner verdenken. Aber weißt du was?« – Sie schmiegte sich plötzlich an ihn und senkte das Köpfchen auf die Brust, als gälte es ein Geheimnis. Und es bedeutete auch wirklich eines.
»Da waren neulich die Hofschauspieler aus Schwerin im Voglerschen Saal – du, und da war eine dabei, die war nicht älter wie ich, aber so ausgelassen, und wild, und gab lauter solche Rollen, wo man die Männer anführt. Weißt du, ich glaub', das könnt' ich auch. Und wie sie im letzten Akt auftrat, da flogen aus der Offiziersloge lauter Buketts auf sie zu, bis sie endlich eine Kußhand warf. Immerfort – lauter Kußhände. Ah – das hätt' ich auch tun mögen. Wahrhaftig.«