Kitabı oku: «Spiritualität als Lebenskunst», sayfa 2
Einleitung: Welche Farbe hat der Wind?
»Wir brauchen eine Therapie,
in der die Lebendigkeit gesucht und gefördert wird,
in der die Lebendigkeit geweckt wird«
(Willi Butollo 1996, 60)
»Nicht Wissen um des Wissens, sondern um des Lebenswissens willen,
um Einblick in die Grundstrukturen des Lebens und der Welt,
der geschichtlichen Herkunft und gesellschaftlichen Gegenwart zu gewinnen.«
(Wilhelm Schmid 2007, 437)
»Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich zeige Wirklichkeit,
ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder zu wenig gesehen worden ist.
Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der Hand und führe ihn zum Fenster.
Ich stoße das Fenster auf und zeige hinaus.
Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.«
(Martin Buber 1962, 1114, zit. n. Zahrnt 1989, 120)
Spiritualität, ein »luftiges« Phänomen – für viele ist Spiritualität eine »terra incognita«. Eine Wüste. Ein Fass ohne Boden. Nicht greifbar. Vergleichbar ist Spiritualität mit dem »Wind, den man zwar spüren, aber nicht ergreifen kann« (Nye 1999, zit. n. Bucher 2007, 21). »Welche Farbe hat der Wind?« (Perls 1981, 118) ist jener Koan, den Fritz Perls, einer der Begründer der Gestalttherapie, von seinem Zenmeister erhalten hatte. Und dieser war hoch zufrieden mit Perls’ Lösung, als er nämlich den Meister einfach anhauchte und so wortlos ausdrückte: »Diese Farbe hätte der Wind …«.
Dem »Wind« mehr Farbe zu geben, ist das Anliegen dieses Buches: Farben, die erkennbar sind und nach mehr Leben schmecken … Vielleicht mag es für manche ein Wind werden, für andere bloß ein altes Lüftchen bleiben. »Aber ich weiß, dass unsichtbar nicht verschwunden heißt.« (Divakaruni, 2001, 85) Ein Gespräch möchte ich führen mit denen, die sich dafür interessieren. Keinen fertigen Monolog halten, auch wenn das bei einem Buch ein ganz eigener »Dialog« sein wird.
»Nichts Neues unter der Sonne« – so lautet ein altes romanisches Diktum. Muss man das Rad neu erfinden, wenn es bereits gute Erfahrungen gibt? Neu in diesem Buch kann man das Bemühen sehen, eine alltagsbezogene Spiritualität zu formulieren mit dem Anspruch, Menschen ehrlich zu begegnen und in ihrer Sprache jene Fragen zu formulieren, welche die alten Fragen der spirituellen Suche(r) sind. Das ist ein freundschaftlicher Austausch, eine gegenseitige Bereicherung. Mein Wunsch ist es, dass dabei die »Hymne an den unbekannten Gott« (Sam Keen) und an das Leben hier auf dieser Welt gelingt und Feuer nicht nur im Bauch, sondern auch im Kopf und in den Füßen entfacht wird.1 Ist das Leben – überspitzt formuliert – nicht zu kurz, um in jahrelanger mühevoller Arbeit auf dem Sitzkissen auszuharren und auf persönliche Erleuchtung zu warten?
Spiritualität ist Vielfalt. Ich bekenne vorab: Ich habe einiges an spirituellen Ausdrucksmöglichkeiten ausprobiert. Dabei habe ich viel gelernt: Die Fröhlichkeit und den Witz in »tiefgehenden«, auch ernsten religiösen Ritualen bei Indianern, das strenge Ausharren im Sitzen und die lauschende (nicht immer friedliche) Stille in der Kontemplation, die achtsame Awareness und Fokussiertheit auf den Augenblick im Zen, die Bewegung und Ausgerichtetheit bei den Sufis, die Wiederentdeckung der Natur, ihre erfrischende Belebung und Inspiration durch Franziskus, eine berührende Sinnlichkeit in einem umsichtigen Tantra, die Zentrierung und das körperlich-heilsame Eintreten in ein räumlich-leibhaftiges Mantra im Sacred Dance …
Es geht mir hier um ein Plädoyer für eine Ausprägung vielgestaltiger Formen von persönlicher Spiritualität. Eine solche hat das realistische Wachstum des Menschen im Sinne und lässt Persönlichkeitsentwicklung zu. In der Achtung vor der Vielgestaltigkeit menschlicher Lebenswege geht es um das Finden, Erkennen, Umsetzen von verschiedenen Ausdrucksformen: je nach Charakter, Lebensphase, Befindlichkeit, Anforderungen, Bedürfnissen.
Spiritualität, Therapie, Lebenskunst. Ein ungewöhnliches Trio? Das Projekt, Spiritualität und Therapie zusammenzubringen, steht vor dem prinzipiellen Problem, von Experten verschiedenster Fach-Disziplinen argwöhnisch oder skeptisch betrachtet zu werden. In meinem Falle werden das Psychologen sein oder Theologen oder selbsternannte »Spiri«-Gurus (vgl. Bucher 2007, 6).
Ich schlage hier einen gut begründbaren Weg ein. Beide, Therapie wie Spiritualität, haben meines Erachtens nämlich ein gemeinsames Ziel und Grundanliegen, unabhängig von den erreichten Bewusstseinsstufen und der Tiefe des Erlebten. Denn schließlich – auch dies ist ein Grundtenor seriöser spiritueller Ansätze – geht es um das Sein in dieser Welt. Spiritualität muss sich im Alltag, beim Einzelnen, in seinem Lebens-Zeit-Fenster bewähren. Dort hat sie ihren – wenn ich es theologisch ausdrücke – »Sitz im Leben«. In Therapie und Spiritualität geht es letztlich um Lebenskunst. Dies ist ein alter, nun wieder populär gewordener Begriff. Die Kunst, gut zu leben, hat u.a. Wilhelm Schmid, der Berliner Philosoph und philosophische Seelsorger (!), in seinen Büchern einem breiten Publikum ausführlich und kenntnisreich dargestellt (Schmid 1998 und 2007). Hier möchte ich anknüpfen.
Es geht mir um eine persönliche, um individuelle Spiritualität, die vom Begriff her nicht notwendigerweise oder a priori traditionelle Religion oder ein personales, konfessionell verankertes Gottesverständnis voraussetzt, wohl aber den Gedanken, die Annahme einer letzten, tragenden Macht, etwa im Sinne des »Numinosen« bei Otto Rudolf (1927) oder des »Ultimaten« bei Oser und Gmünder (1984) zulässt. Ich denke, dass sich mein Ansatz ebenso mit einer »Spiritualität ohne Gott« im Sinne des französischen Philosophen André Comte-Sponville (2008) gut verträgt. Spiritualität ist eine Lebenshaltung, die mit transzendenter Wirklichkeit rechnet bzw. auch darauf ausgerichtet ist oder auch nicht.
Das Buch beginnt mit ganz persönlichen, satirischen Gedankensplittern zum umfangreichen Themenkomplex »Psychotherapie – Gestalttherapie – Religion – Spiritualität«. Diese Fragmente spiegeln meinen ersten Reflexionsstandpunkt im weiten Feld von Spiritualität wider und fußen auf meinen Erfahrungen als ehemaliger Buchhändler (in einem ganz besonderen Laden) und als Mitarbeiter eines Zentrums, das sich der Integration von Spiritualität und Therapie verschrieben hat. Darauf folgt eine überblicksartige Einleitung zum Thema Spiritualität im postsäkularen Zeitalter.
Im zweiten Teil geht es um eine Kennzeichnung und »Definition« von Spiritualität und dann um eine inhaltliche Konkretisierung im Hinblick auf therapeutische Arbeit.
Den dritten großen Abschnitt widme ich verschiedenen Sichtweisen von Psychotherapie und Spiritualität sowie einigen Hinweisen auf empirische Studien. Spiritualität ist eine Ressource, wenngleich amerikanische Studien damit mitunter lediglich den Kirchgang messen und die Ausgangslage alles andere als übersichtlich ist. Daran anschließend kommen spirituelle Wirkfaktoren im therapeutischen Raum zur Sprache, die Hundt (2007) in einer empirischen Studie herausgearbeitet hat. Sie sollen aufzeigen, dass spirituelle Therapie ganz schlicht mit dem »Wunderbaren« (Schellenbaum) umgeht, dass kein Klamauk und Brimborium veranstaltet werden muss, nur weil von Spiritualität die Rede geht.
Der vierte Teil nähert sich der Gestalttherapie. Mit dem Begriff »Lebenskunst« glaube ich, eine gute Verbindung gefunden zu haben, ein gemeinsames Feld, in dem Spiritualität und Gestalttherapie sich finden und aufeinander treffen können. In der Kunst des Lebens, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, treffen sich meines Erachtens beide Ansätze am besten.
Im fünften Teil ist der Fokus auf Gestalttherapie und eine offene Spiritualität gerichtet. Auch hier ist lange noch nicht alles ausformuliert. Es geht um die Richtung. Denn nicht das Ziel ist hier wichtig, sondern, wie es einmal der Wiener Gestalttherapeut Alfred Grillmeier sinngemäß formuliert hat, »in der Wüste muss nur die Richtung stimmen, da sich Ziele oft als bloße Fata Morgana erweisen und dir alles vorgaukeln können«.
Die Abbildungen stellen eine graphische Übersicht dar, die das Thema kurz zu umreißen versuchen und auf einer anderen Ebene das verdeutlichen, worum es geht. Sie sind bewusst vereinfachend; diesbezüglich gilt auch hier zu beachten, was Korzybski in ein Bonmot gefasst hat: »Die Landkarte ist nicht das Territorium.« (zit. n. Yontef 1999, 230)
Die vorangestellten Zitate aus unterschiedlichen Quellen sind zum einen Leitmotive für die betreffenden Absätze, zum anderen als Motto, das ich verfolge, gedacht. Manchmal sind sie einfach nur prägnante Sätze, die in ihrer Essenz das Thema aufreißen oder sich wie ein Kontrabass durchziehen.
»Sehnsucht nach Mehr leben – Sehnsucht nach mehr Leben.« So lautete das Manuskript, das als Vorlage für dieses Buch diente. Es ist nicht bloß in theoretischer, professoraler Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Literatur im stillen Kämmerlein entstanden, sondern stellte eine Reflexion meiner Praxisarbeit mit Klientinnen und Klienten und des Umfeldes dar, in dem ich gearbeitet hatte.
Klarzustellen ist: Spiritualität soll keinesfalls dafür herhalten müssen, die eigene therapeutische Unprofessionalität zu kaschieren. Ich hoffe, mögliche Bedenken von Kollegen und Kolleginnen zerstreuen zu können, dass durch den Einbezug von Spiritualität Gestalttherapie ihrer Vitalität und ihrer therapeutischen Effizienz beraubt wird. Von den relativ jungen Anfängen bis in die Gegenwart hinein wurde Gestalttherapie immer wieder mit Spiritualität verknüpft. Oftmals jedoch zu kurzsichtig. Der Verweis auf Fritz Perls, der irgendwann im Verlauf seines Lebens eine Zen-Shessin gemacht hat, genügt nicht, um Gestalttherapie und Spiritualität miteinander zu verbinden. Im Übrigen war seine Replik darauf äußerst abschätzig. In der mir vorliegenden gestalttherapeutischen Literatur wird Spiritualität eigentlich nie begrifflich definiert. Oft wird mit Spiritualität bedingungsoder kritiklos ein mystischer Weg verstanden. Das ist meines Erachtens nicht unbedingt notwendig bzw. ein gedanklicher Kurzschluss. Spiritualität ist mehr als ein konkreter spiritueller Weg. Andersherum: Der Begriff »Spiritualität« ist weiter angesetzt und nicht ausschließlich auf Mystik beschränkt bzw. bloß für diese reserviert.
Mein Anliegen ist es, eine ganz »alltäglich-gewöhnliche« Spiritualität aufzuzeigen, die Leben durchdringt und zu Ganzheit und Lebendigkeit inspiriert.
Abgrenzungen und Eingrenzungen. Spiritualität ist ein weites Feld, auch Gestalttherapie. Die Vielschichtigkeit und Komplexität des Themas erfordert für die Zukunft ein verstärktes interdisziplinäres Vorgehen. Ansätze sind bereits sichtbar: Kongresse, Buchprojekte u.a. Ich führe keinen expliziten Dialog mit philosophischen Bemühungen um Transzendenz-Erfahrungen, obgleich mir ein solcher Austausch fruchtbar erscheint, gerade im Hinblick auf den Ansatz von Spiritualität, den ich hier vorlege.
Während der Lektüre, nicht nur im Rahmen dieser Arbeit, haben Ausführungen über Spiritualität bei mir einen eigenen »Geschmack« hinterlassen. Sie mundeten nicht, weil zu kompliziert, zu abgehoben, zu lebensfremd und teilweise sogar lebensfeindlich.
Auch gebe ich keinen konkreten mystischen, spirituellen Weg vor. Es gibt »keinen« Weg. Anders ausgedrückt: Viele »Wege führen nach Rom«, wussten schon die Römer. Viele Wege führen zum »großen Geheimnis« (indianisch), zu Gott (jüdisch-christlich), zu Allah (islamisch), zum Nichts, in den Pantheon … Und daneben: Spiritualität ist immer auch ein individueller Weg zu mir, zur Umgebung, zu Menschen.
Danke. An erster Stelle danke ich meiner Frau Traudi, die das Buch im Hintergrund mitgetragen, ausgehalten und für die notwendige Lebenskunst im Familienalltag gesorgt hat. Ich danke dem IGW (Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg/Wien): Werner Gill für die Unterstützung und Ermutigung, dieses Projekt in Angriff zu nehmen. Ich hoffe, dass mein Buch ein wenig jene vielfältig-tiefe Weite atmet, die ich bei dir kennengelernt habe. Betrachte dich als Vater dieses Buches, du hattest die Idee dazu. Was daraus geworden ist, das geht auf meine Kappe … Danke auch an Almut Ladisich-Raine für den persönlichen Raum und den support in der Supervision in den vergangenen Jahren, auch für den Esprit sowie das Feedback samt Verbesserungsvorschlägen v. a. zu Kapitel 5, nicht zuletzt für das Gestalt-Archiv (Gestalttherapie-Zeitschriften) und das Vorwort. Anne Haberzettl für das Darauf-Pochen, fertig zu schreiben und Peter Toebe für die freundliche Aufnahme des ursprünglichen Manuskriptes (ein Fest nach langem Zittern). Für mündliche, wohlwollende Rückmeldungen sowie die einleitenden Worte schulde ich weiters dem Herausgeber Peter Schulthess ein Dankeschön.
Viele Menschen haben einen Beitrag zum Buch geleistet: Meine ersten Korrektorinnen und Seminarpartnerinnen: Ulrike F.M. Mair und Uta Platter, die die Rohfassung des Buches bereitwillig Blatt für Blatt durchnahmen und Jagd machten auf Stilunsicherheiten und inhaltliche Unklarheiten. Für kritische Durchsicht und Ordnung sorgte weiters meine Schwester Marianna Pernter (Kap. 1). Das Endlektorat besorgte mit viel Liebe und Engagement Petra Tappeiner (dich als Lektorin hat buchstäblich der Himmel geschickt!). Die Graphiken besorgten Michael Stauder und Claudia Frass, Profis und Freunde von »freigeist« in Bozen. Dem Zentrum Tau in Kaltern danke ich für etliche Bücher, die ich der Bibliothek entwendet habe. Euch allen und euch Ungenannten: Herzlich Danke in tiefer Verbundenheit. »Schreib ein lesbares Buch« – tönte es aus allen Ecken. Ich wünsche mir, dass dies gelungen ist.
Zu guter Letzt ein Danke dem Verleger Andreas Kohlhage. Ohne EHP gäbe es »Spiritualität als Lebenskunst« am Buchmarkt nicht. Danke für die Ermutigung, im Endstadium nicht locker zu lassen und die Bereitschaft, dieses Projekt umzusetzen.
»Müde bin ich, geh zur Ruh« – »Schutzengele mein«. Weit spannt sich der Bogen von meinen Kindergebeten über die katholische Erziehung, dem hoffnungslos überfordernden Bemühen im Bischöflichen Knabeninternat ein guter Christ zu werden …, weiter zum kreativen, ganzheitlichen Erlebnisraum Musical bis hin zu allerlei spirituellen Ausflügen und dann zur Gestalttherapie, immer im Bestreben nach MEHR Lebendigkeit, nach Leben und Verbundenheit.
Bozen, Herbst 2008
Anmerkungen
1. So ein Buchtitel von Keen 1992.
I Einführung
1. Satirische Annäherungen im Feld: Fragmente zu Psychotherapie und Spiritualität
»Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.«
(Rainer Maria Rilke 1972, 11)
»Es gibt viele grosse Theorien über Gott und die Welt.
Doch am Ende kommt es immer darauf an, wie ich mit den ganz
praktischen Anforderungen des ganz gewöhnlichen Alltags umgehe.
Der Ort, an dem die grossen Fragen des Lebens zu reflektieren […] sind,
ist immer da, wo ich gerade bin.«
(Lorenz Marti 2004, 11f, zit. n. Hiestand & Müller 2005, 277)
»Das Erstaunliche ist, dass die wissenschaftlichen Revolutionen
uns nicht fundamental traurig machen.
Wir werden auf ein Bündel von Chemikalien reduziert,
ohne wirklich freien Willen, wir leben auf einem kreuznormalen Planeten,
aber viele Menschen finden das immer noch aufregend.
Vielleicht liegt es daran, dass wir durch unser größeres Verständnis der Welt
nun das ganze Bild sehen können.
Wir sind Teil von etwas Größerem, und wenn wir das wirklich verstehen,
ist es nicht degradierend, es adelt uns vielmehr.«
(Vilaynur S. Ramachandran 2005, 4, zit. n. Horx 2005b, 282)
Divisionismus oder Pointillismus – so nennt sich eine französische Malrichtung Ende des 19. Jahrhunderts. Farbtupfer auf einer Leinwand. Aus der Distanz ergeben farbige Punkte für den Betrachter ein sinnvolles Ganzes. Fragmente sind ähnlich. Gedankensplitter. Sentenzen.
Die hier folgenden sind bewusst pointiert formuliert, weil Ausführungen über Spiritualität oft schwerfällig und mühsam zu lesen sind. In guter gestalttherapeutischer Manier und Praxis, dass ein gewisser Hintergrund erst die Prägnanz einer Figur deutlich macht und ein Pol erst den Gegenpol richtig zur Geltung bringt, sind diese rudimentären Spuren zu sehen. »Unfertige« Ansichten sind dabei, bei längerem Verweilen vielleicht auch sehr untherapeutische, unspirituelle, »unmögliche«. Sie stehen wie ein unzensiertes Promemoria am Beginn des Buches. Fragmente1 sind sie, weil sie nicht fertig sind oder – wie bei einer archäologischen Grabung – erst zu säubern sind, zu verifizieren, zu katalogisieren. Fragmente – darauf hat Ulrich Lessin (2002) schon hingewiesen – sind ein Gegengewicht zu Totalisierungstendenzen. Eine fragmentarische Perspektive kann wie ein Korrektiv wirken gegen den Wahn, alles unterordnen und einordnen zu wollen. Sie brechen auf, ecken an. Gar nicht rund wollen sie zum eigenen Nachdenken anregen. Das ist ihr Ziel. Sie bleiben Notizen, die, wenn sie auch manchmal bissig oder sarkastisch erscheinen, niemals verletzen wollen.
Gute phänomenologische Grundeinsicht ist, dass der eigene »Standpunkt« immer auch begrenzt ist und man daher auch nicht alles sehen, begreifen oder erfassen kann. Leben und vor allem Lebensweisheit (die sich mit zunehmender Erfahrung hoffentlich verändert) dürfen wohl unvollendet bleiben …
Fragment 1: Spiritualität gilt als ein Weg nach innen. Aber wie komme ich nach innen, wenn es kein Innen gibt? Und: Wo bleibt das Außen?
Fragment 2: Der Begriff »Spiritualität« ist ein so missbrauchter bzw. inflationär verwendeter Begriff, gegenwärtig so verwaschen und trotzdem immer noch in Mode. Unter dem Deckmantel des Spirituellen wird vieles verkauft, wo sich einem bei näherem Hinsehen der Magen umdreht. Was aber nun ist Spiritualität?
Fragment 3: Spiritualität präsentiert sich so vergeistigt und weltfremd, abgehoben vom Leben, perfektionistisch, dass ein normal sterbliches Menschlein dem, was Spiritualität meint, erst gar nicht nachzueifern beginnen braucht.
Fragment 4: »Triffst du Buddha unterwegs…« (Kopp 1988) höre ihm zu und misstraue ihm, schalte deinen Kopf nicht aus und lebe, zwänge dich nicht ein und höre auf dich …
Und überhaupt: Sagt mir nur ein erleuchteter Buddha, wie Leben, wie Spiritualität geht und wie es oder sie zu sein hat?
Fragment 5: »If you meet Buddha, kill him!«2 Sektiererischen Ausartungen jeglicher Art, sei es von spirituellen Gurus und sendungsbewussten Messiassen, sei es von Star-Therapeuten oder Möchtegern-Seelenklempnern, ist prinzipiell zu misstrauen. Allein ein klarer Kopf, allein ein in sich fest ruhender Mensch kann dem Adäquates entgegenhalten.
Fragment 6: Alles, was nicht dem »lebendigen Leben« verhilft, kann ich getrost ins Museum stellen, denn: Spiritualität ist auch Lebenshilfe.
Fragment 7: Wir haben nur dieses eine Leben, deshalb will ich es bunt treiben. Indem ich lebendig lebe und nicht bloß überlebe, nähere ich mich dem, was die »Sache mit Gott« (Heinz Zahrnt) und all die spirituellen Dinge meinen.
Fragment 8: Spiritualität – besonders im Rahmen von Therapie – muss so angelegt sein, dass mehrere weltanschauliche Positionen Platz finden. Das hat für mich mit einer Weite nach innen wie nach außen zu tun. Genau dies ist im Übrigen die ursprüngliche Bedeutung von »katholisch« …
Fragment 9: Wenn die sogenannte Erleuchtung nicht im einfachen, alltäglichen Leben möglich ist, kann sie bleiben, wo sie ist. Oder: Muss denn alles kompliziert und schwierig sein?
Und andersherum: »Die Erleuchtung findet am Hauptbahnhof statt!«3
Fragment 10: Allen Erleuchteten sei hinter die Ohren geschrieben: Ein Erleuchteter »vergisst«, dass er erleuchtet ist und tut das, was er immer schon getan hat. Oder: Gegen spirituellen Snobismus und für eine Betonung der Horizontalen innerhalb der Spiritualität.
Fragment 11: Eine authentische Spiritualität kann mit den Attributen gesund, lebendig, erdig, ganzheitlich, vernünftig, alltäglich, verantwortet, erfahrungsorientiert … beschrieben werden. Das ist theologisch wie psychotherapeutisch veritabel und vertretbar.
Fragment 12: Aschewerfende und Goldkettchen herbeizaubernde Spiri-Gurus, keifende, polternde und moralinsaure Prediger haben hier wohl nichts (mehr) zu suchen. Im Namen Gottes »Gott sei Dank!« Weil sie einen Nimbus ums Göttliche machen, wissen, wo der (mein!) Weg hingeht, apodiktisch Wahrheit verkünden und dadurch »Andersdenkende« ausgrenzen.
Fragment 13: Die eine Wahrheit gibt es nicht (mehr) und hat es nie gegeben. Wahr ist vielmehr, dass Wahrheit sich individuell ortet, von jedem Individuum für sich selbst je neu erfahrbar und erlebt/gelebt, gesucht werden muss (religiös ausgedrückt: um seines »Heiles« willen; therapeutisch: um seiner Authentizität willen).
Fragment 14: Spiritualität hat mit Qualitäten von Gehen, Wandeln, Innehalten zu tun. Diese Kennzeichen implizieren automatisch auch einen ethischen Impuls und Ansatz.
Fragment 15: Vielleicht lässt sich das umkämpfte Territorium von Spiritualität und Religion sowie Psychologie und Therapie um des Menschen willen – weg von einer dualistischen Hortung des je eigenen Bereiches – überwinden durch den Vergleich mit einem bunt gemischten Blumenstrauß. Die – personifizierend gedachte – Religion/Spiritualität und die Psychologie/Therapie sitzen im Kreis, in dessen Mitte dieser Blumenstrauß als Symbol der Wahrheit ist. Wer hat Recht, wenn die eine behauptet, es sei bloß ein Rosenstrauß, weil sie nur die Rosen sieht, die andere auf einem Lilienstrauß beharrt? Ein Strauß ist ein Strauß, ist ein Strauß. Wollen wir den Strauß sehen, der die Buntheit erst ausmacht oder nur die einzelnen Blumen?
Fragment 16: Der Therapeut darf ruhig Buddhist sein. Das ist seine Privatangelegenheit. In der Praxis aber muss er dem suchenden, fragenden, unsicheren Christen-Klienten zum Christ-Sein, dem Buddhisten-Klienten zu seinem je eigenen, individuellen Buddhist-Sein verhelfen (sofern er will) und darf ihm nicht seine spirituellen Ansichten aufoktroyieren, mögen seine eigenen Erfahrungen auch noch so plausibel, noch so »spirituell erhebend« sein und ihn »weitergebracht« haben.
Fragment 17: »Ungetrennt und unvermischt« rangen sich die alten Kirchenväter vormals ab. Diese theologische Grundformel, ursprünglich auf die Gottes- und Menschennatur Jesu appliziert, könnte eine Spur sein für das Verhältnis von Theologie, Spiritualität und Therapie. In gestalttherapeutischen Termini ausgedrückt: »Nicht trennen und nicht mischen«. Das meint hier: keine Konfluenz, aber auch kein statisch abgekapseltes, monadisches In-der-Welt-Sein, sondern ein Sein in Beziehung, ein Sein im Feld.
Fragment 18: Alte Gräben zwischen Spiritualität, Theologie, Religion einerseits und Psychologie, Therapie andererseits überwinden, weil sie nicht mehr relevant sind und uns in einer »Wir sind wir«-Mentalität verharren lassen und daher abschotten?
Fragment 19: »Gott ist tot« (F. Nietzsche) – »Du bist alt, lieber Gott« (W. Borchert).
Und ich bin müde, dich zu verteidigen und will nicht noch mehr Zeit verschwenden, dich in neuen, verständnisvolleren, gütigeren, moderneren Worten erklären müssen und am Leben erhalten. Zweitausend Jahre und mehr müssen reichen. Zweitausend und mehr Jahre und die Welt ist auch nicht besser und nichts hat sich verändert (vgl. Ventura & Hillman 2005).
Fragment 20: Oder bist du das, was uns letztlich zutiefst angeht? (Paul Tillich)
Dann gilt es, Prioritäten zu setzen und zu schauen, wie wir persönlich, individuell-privat, aber auch gesellschaftlich-politisch leben und handeln, ohne moralistisch zu werden, einzuengen und auf Fixiertheit zuzusteuern.
Fragment 21: Einige Ansätze – spirituelle wie therapeutische – scheinen mir die himmlische Vertikale hinaufzuflüchten. Wo aber bleibt der Pöbel (im guten Sinn des Wortes)? Wo ist eine »normale« Psychotherapie und Spiritualität für die real existierenden, im Produktionsprozess schwitzenden, am Bruttosozialprodukt beteiligten Menschen?
Fragment 22: Promemoria und Plädoyer für eine alltägliche, »stinknormale«, spirituelle (ja!), therapeutisch (na klar!) verantwortete Lebenseinstellung, Lebenshaltung. Hier begegnen sich Spiritualität und Psychotherapie. Aber nur für jene, die das auch sehen können.
Schau genauer hin also!4
Fragment 23: Wenn Therapie (griechisch »therapeìa«) die »Arbeit der Götter tun«5 bedeutet und »religio« Rückverwurzelung meint in meinem eigenen Grund, dann müsste es doch ein wie auch immer geartetes Naheverhältnis von Therapie und Religion/Spiritualität geben.
Fragment 24: Eine gefährliche Gleichung? Das Leben besteht im Gehen, im Kochen, im Sitzen, im Putzen, im Hintern-Abwischen. So weit, so gut. Gott ist das Leben, sagt MAN. Gott ist im Leben, behauptet SIE. Also: Gott ist im Gehen, im Kochen, usw. Würde MAN mir noch folgen oder bereits »Blasphemie« schreien, würde SIE da noch fromm sein?
Wo aber, bitte schön, soll ein Unterschied sein zwischen Gott und Leben?6
Fragment 25: Ist heute nicht vielmehr eine trans-religiöse, konfessionslose Spiritualität gefragt und nötiger denn je, die Heimat und Räume bieten kann für Menschen, die sich keinem traditionellen religiösen Weg, auch keiner spirituellen Disziplin verpflichten möchten? Wie könnte eine solche aussehen? Ist dies ein apriorischer Widerspruch, das Gebot der Stunde oder nur wieder eine jener verkaufsfördernden Moden (»der letzte und neueste Schrei«) im Eso-Eck aufgrund einer Profilierungssucht irgendeines Autors?
Fragment 26: Wie heute von Spiritualität reden und schreiben, wenn die Informationsgesellschaft mit ihren Beschleunigungstendenzen gegen jegliches Innehalten arbeitet, das Wirrwarr der Sinnangebote unüberschaubar geworden ist und die Komplexität des heutigen gesellschaftlichen Lebens eine Orientierungsmöglichkeit schier unmöglich macht? Eine von »unten« kommende Spiritualität darf buchstäblich und ganz wirklich unvollkommen sein. Das schmeckt, ist natürlich und herzhaft. Heilige sind immer nur tote Menschen. Spirituelle Menschen dürfen auch noch (ein wenig) leben.
Fragment 27: Es gibt vielfältige Menschen, mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstilen. Eine Spiritualität, die »ankommen« will, muss im Blickfeld haben, dass diese Menschen konkrete Bedürfnisse und ganz eigene Eigenheiten haben.7 Auf diese Vielfalt an »einzigartigen« Lebensmöglichkeiten und Daseins-Varianten muss eine Spiritualität reagieren, Angebote bereit stellen und nicht einseitig, monopolartig Monokulturen schaffen und gebetsmühlenartig immer das gleiche spirituelle Rezept aus dem Kult-Koffer zaubern. Bewährtes und Erprobtes aus jahrhundertealter Tradition hat selbstverständlich Platz in seiner Gültigkeit und in seinem Bemühen, dem Menschen in der Welt menschenwürdig sowie lebensfreundlich »Unendlichkeit« offen zu halten und darauf hinzuweisen.
Fragment 28: Dies gilt auch im therapeutischen Bereich, ist da allerdings differenzierter zu sehen. Die provokante Forderung bzw. das Postulat steht im Raum, für jeden Klienten eine eigene Therapie zu »erfinden«.8 Dies bedeutet, auf die Therapie bezogen, sich überraschen zu lassen, immer wieder ganz neu und mit frischem, wachem Blick dem Klienten9 zu begegnen, und nicht standardmäßig bestimmte Methoden und Techniken anzuwenden.
Fragment 29: »Der Erleuchtung ist es egal, wo und wie du sie erlangst«10, Hauptsache du lebst und fragst dich (immer wieder und ab und an), du suchst und gehst deinen Weg und versuchst aus dem, was du bist, aus dem, wie du bist – mit deinen individuellen Begabungen, Anlagen und Problemen – das Beste zu machen.
Fragment 30: An die Reinkarnation zu glauben ist nicht unbedingt notwendig. Es reicht dieses eine Leben und dafür steht im Prinzip genügend Zeit zur Verfügung. Denn: Was ist schon Zeit? Dieses »Zeitfenster« gilt es zu nutzen, mit dem, was zur Verfügung steht. Hoffentlich reicht es, Spuren zu hinterlassen, die »gut« sind. Der Wunsch? Die Menschen, denen man nahe steht, nicht zu sehr verletzen und mit ihnen »gut« zu leben und ins relativ kleine Lebens-Umfeld, wenn das geht, »auszustrahlen«. Die große Welt zu reformieren, zu missionieren oder gar zu therapieren ist nicht mein Anspruch. Das hat nichts mit einem biedermeierischen oder resignativen Rückzug ins Private zu tun und schließt – wo es notwendig ist und wird – »Mund-Aufmachen« und gesellschaftskritische Anliegen selbstverständlich mit ein und nicht aus.11
Fragment 31: Das Wort »Glauben« zeigt in seinen verschiedenen Wurzeln interessante Bedeutungsvarianten auf, die auf Fragen hinweisen, die ebenso im Therapieraum gestellt werden, geht es dort doch auch immer wieder um ein Finden von Antworten auf folgende und ähnliche Fragen »Wohin zieht dich dein Herz?« »Woran hängt eigentlich dein Herz?« »Was gibt dir Boden und Halt?«
Fragment 32: Glauben ist – normalerweise12 – kein heimliches Getue, sondern ein (freudig, begeistertes, überzeugtes, melancholisches, trauriges, verzweifeltes …) Reden, Erzählen, Feiern und Leben dessen, was mich erfüllt, ausmacht, was mir gut tut, was mich beschäftigt. Spiritualität zeigt sich im Alltag, im gewöhnlichen Leben, am Arbeitsplatz, in der Freizeit. Spiritualität hat zu tun mit: den eigenen Weg finden, klären, was wichtig ist, wofür ich einstehen will bzw. wofür es sich zu leben lohnt. Bei diesen Fragen hilft auch die Therapie weiter, weil diese Fragen u.a. Kern-Kompetenzen der Therapie sind.
Fragment 33: Spiritualität hat Auswirkungen auf die konkrete, alltägliche Lebensgestaltung. Sie ist weltzugewandt und hat mit einer Rückbindung an den Alltag und einer Belebung bzw. Befruchtung des Lebens zu tun. Ansonsten verbleibt Spiritualität in einem Wolkenkuckucksheim, verkommt und degradiert. Therapie dient ebenso wenig allein dem Renommee des Therapeuten, sondern hat den Klienten im Blick und letztlich: Gutes Leben eben.